Hans Heckel, Geschichte der deutschen Literatur in Schlesien. Bd. 1: Von den Anfängen bis zum Ausgang des Barock. Breslau: Ostdeutsche Verlagsanstalt 1929. (Einzelschriften zur schlesischen Geschichte. 2.) X, 418 S.
Die historische Kommission für Schlesien zeichnet als Herausgeberin dieser Literaturgeschichte. Damit ist ein bestimmtes wissenschaftliches Minimum gewährleistet. Man kann nicht sagen, daß die Leistung über das Gewährleistete hinausgeht. Fleißiger Nachweis der genealogischen und biographischen Daten, ausführliche Inhaltsangaben, Proben der Lyrik usw. – in dieser Schicht liegen die Verdienste des Buches. Es gehört einem Typus an, dem man in Übergangs- und Umwertungszeiten der Wissenschaft immer wieder begegnen wird. Ein Autor, unfähig solche Umwertung an seinem Teile zu vollziehen oder auch nur zu erfassen, sucht ihr auf opportunistische Weise entgegenzukommen und meint, neuen Maßstäben gerecht werden zu können durch Beugung und Nachgiebigkeit in der Handhabung überkommener. Wir denken hier an seine Darstellung der schlesischen Barockdichtung, die die zweite Hälfte des Buches einnimmt und nicht nur unter den hier behandelten Epochen dem gegenwärtigen Brennpunkt der Forschung am nächsten steht sondern auch eine der wichtigsten Manifestationen Schlesiens gewesen ist. Wer sich das vergegenwärtigt, wer sich sagt, wieviel nach Nadlers anregenden Entwürfen in der »Literaturgeschichte der deutschen Stämme« hier noch zu leisten gewesen wäre, welch seltene Gelegenheit es zu leisten (400 große Seiten sind für die Darstellung von 1300 bis 1700 in Anspruch genommen worden), der muß zu dem Ergebnis gelangen, daß wenig geschehen ist. Und wenn er von der unentschiedenen Haltung des Autors, der die Chancen gar nicht zu nutzen wußte, die gerade die heutige Forschung ihm bietet, auch absieht, so wird er sich doch keinesfalls von einer bloßen Chronik dessen, was im Lande Schlesien in Dingen der Literatur sich ereignete, befriedigt erklären. Das Land, seine Menschen, seine sozialen Verhältnisse erhellen sich im gemächlichen Verlaufe dieser Erzählung nur notdürftig und sporadisch. Die große Aufgabe, die literarische Monographie einer Landschaft zu schreiben, mag man ihr nun die wirtschaftlichen oder die stammesgeschichtlichen Verhältnisse zugrunde legen, ist offenbar überhaupt nicht ins Blickfeld des Verfassers getreten. So scheint uns Jahr für Jahr die Hoffnung zu trügen, es möchte endlich ein geschärfteres und strengeres Wesen auch in die Geschichte der Literatur einziehen. Wird sie sich nicht endlich Rechenschaft davon geben, daß ein träges Beharren auf den Akzenten, die die Forschung des neunzehnten Jahrhunderts in diesem Bereiche gesetzt hat, nunmehr die Wissenschaft in nächste Nähe des Feuilletons rückt? Die Geilheit der barocken Liebesdichtung, die Schrecken und Greuel der Märtyrerdramen, der Byzantinismus der Gelegenheitsgedichte und Widmungen, das Pathos der Sonette und Monologe – wir wollen nicht wissen, ob sie beim einen aufrichtiger, psychologisch vertiefter, entschuldbarer, formvollendeter als beim anderen sind. Wir wollen vorerst einmal erfahren: Was sind sie selbst? Was spricht aus ihnen? Warum mußten sie sich einstellen? Wer sich in ein Phänomen zu vertiefen weiß, der trifft zuletzt darin immer auf das »Moderne«; der Vermittler, der von vornherein bedacht ist, die Maßstäbe des heutigen Lesepublikums (statt der Einsichten der heutigen Wissenschaft) anzusetzen, baut gebrechliche Brücken. Es sei zugegeben, daß auf vielen, die der Verfasser hier in der Gestalt von ausgewählten Versen im Texte anbringt, sich's angenehm geht. Trotzdem ist diesem opportunistischen Verfahren, das sich um den Ausgleich des supponierten alten »Geschmacks« mit dem neuern bemüht, der Kampf um so nachdrücklicher anzusagen, je mehr es verbreitet ist. Man kann auch darstellerisch eine schärfere Profilierung der Autoren gegeneinander nie und nimmer charakterologisch, menschlich, ästhetisch zu erwirken hoffen, sondern nur durch immer strengere, detailliertere Untersuchung der Art und Weise, in der die Einzelnen mit ihrer literarischen und kulturellen Umwelt sich auseinandersetzen. Gerade in solcher prinzipiell unabsehbaren Differenzierung liegt das allein lebendige methodische Prinzip einer Literaturgeschichte. Die wie auch immer versteckte Zweiteilung von Darstellung und Würdigung schlägt ihm ins Gesicht. Der Typus des barocken Literators ist ja in den gröbsten Umrissen von Heckel wie auch schon von anderen gezeichnet worden. Aber es versinkt alles wieder in der gemächlichen, komfortablen Darstellung der Viten und Werke. Wenn wir mehr fordern als das nützliche Handbuch, das Heckel vorlegt, so berechtigt dazu eine Epoche, die wie wenige andere ein vertieftes Studium der Literatur in ihrer sozialen und landschaftlichen Bedingtheit nicht nur ermöglicht sondern anregt. Wir brauchen ein Buch, das die Genesis des barocken Trauerspiels im engen Zusammenhang mit dem Entstehen der Bürokratie, die Einheit der Zeit und der Handlung im engen Zusammenhang mit den dunklen Amtsstuben des Absolutismus, die geile Liebesdichtung mit der Schwangerschaftsinquisition des entstehenden Polizeistaats, die Schlußapotheose der Operndramen mit der rechtsphilosophischen Struktur der Souveränität darstellt. Dann wird sich zugleich zeigen, was hier im Ursprung landschaftlich und stämmisch bedingt war und wie die Kräfte und Antagonismen des Barock bis Schiller (wie Nadler gezeigt hat), ja bis in das Widerspiel von Hebbel und Nestroy fortwirken. Um von dem besten Lohn, dem elektrischen Kontakt mit der heutigen Lage zu schweigen. Der Leser von Heckel hat ihn nicht zu besorgen. Er steckt in historizistischen Filzpantoffeln.