5. Überspanntheit im Salon
Aber im Salon war das Gespräch bereits beendet. Katerina Iwanowna war sehr erregt, obgleich sie äußerlich einen entschlossenen Eindruck machte. In dem Augenblick, als Aljoscha und Frau Chochlakowa eintraten, stand Iwan Fjodorowitsch gerade auf, um hinauszugehen. Sein Gesicht war ein wenig blaß, Aljoscha musterte es beunruhigt. Für einen seiner Zweifel, für ein Rätsel, das ihn seit einiger Zeit gequält hatte, fand Aljoscha nämlich jetzt hier eine Lösung. Schon seit einem Monat hatte er mehrere Male und von verschiedenen Seiten zu hören bekommen, sein Bruder Iwan liebe Katerina Iwanowna und beabsichtige, sie seinem Bruder Mitja „abspenstig zu machen“. Bis zuletzt hatte Aljoscha das für eine Ungeheuerlichkeit gehalten, obwohl es ihn wirklich tief beunruhigte. Er liebte seine Brüder beide und fürchtete eine solche Nebenbuhlerschaft zwischen ihnen. Und doch hatte ihm Dmitri Fjodorowitsch auf einmal gestern selbst erklärt, er freue sich sogar über die Nebenbuhlerschaft seines Bruders Iwan; sie werde ihm, Dmitri, bei vielem behilflich sein. Wobei behilflich? Gruschenka zu heiraten? So einen Schritt hielt Aljoscha für ein verzweifeltes Wagnis. Außerdem hatte er, ohne im geringsten zu zweifeln, bis zum gestrigen Abend geglaubt, Katerina Iwanowna selbst liebe seinen Bruder Dmitri leidenschaftlich — aber er hatte es nur bis zum gestrigen Abend geglaubt. Außerdem hatte er sich aus irgendeinem Grund immer vorgestellt, sie könne einen Menschen wie Iwan gar nicht lieben, sie liebe eben seinen Bruder Dmitri, und zwar so, wie er ist, trotz der Ungewöhnlichkeit einer solchen Liebe. Doch gestern, während der Szene mit Gruschenka, war er plötzlich zu einer anderen Auffassung gelangt. Das Wort „Überspanntheit“, das Frau Chochlakowa soeben verwendet hatte, ließ ihn fast zusammenzucken, da er gerade in dieser Nacht, als er im Morgengrauen halbwach dalag, wahrscheinlich nach einem Traum, vor sich hin gesagt hatte: „Überspanntheit! Überspannt!“ Geträumt hatte er die ganze Nacht von der gestrigen Szene bei Katerina Iwanowna. Jetzt nun äußerte Frau Chochlakowa plötzlich offen und mit aller Bestimmtheit ihre Überzeugung, Katerina Iwanowna liebe seinen Bruder Iwan und betrüge sich absichtlich, aus Spielerei, aus „Überspanntheit“ selbst und quäle sich mit ihrer irrtümlichen, auf einer Art Dankbarkeit beruhenden Liebe zu Dmitri. Das hatte Aljoscha stark beeindruckt. ‚Ja‘, sagte er sich, ‚vielleicht liegt die volle Wahrheit tatsächlich in diesem Wort!‘ Doch wie war in diesem Fall die Lage seines Bruders Iwan? Aljoscha fühlte instinktiv, daß ein Charakter wie Katerina Iwanowna herrschen mußte; herrschen konnte sie aber nur über einen Menschen wie Dmitri, kaum über einen wie Iwan. Denn nur Dmitri könnte sich ihr, allerdings nur für kurze Zeit, schließlich zu seinem eigenen Glück fügen, was sogar Aljoschas Wunsch gewesen wäre, Iwan aber nicht. Iwan konnte sich ihr nicht fügen, und eine derartige Fügsamkeit würde ihm auch kein Glück bringen. Diese Ansicht hatte sich Aljoscha unwillkürlich bereits über Iwan gebildet. Und nun gingen ihm alle diese Zweifel und Erwägungen in dem Augenblick durch den Kopf, als er in den Salon trat. Und noch ein Gedanke drängte sich ihm plötzlich unwiderstehlich auf: ‚Wie, wenn sie keinen von beiden liebt, weder den einen noch den anderen?‘ Ich vermerke, daß sich Aljoscha solcher Gedanken gewissermaßen schämte und sich jedesmal Vorwürfe machte, wenn sie ihm im letzten Moment zufällig in den Kopf kamen. ‚Was verstehe ich denn von der Liebe und den Frauen, wie kann ich nur solche Schlüsse ziehen?‘ sagte er sich mit Selbstvorwürfen, wenn er etwas Derartiges dachte. Und doch konnte er nicht umhin, so zu denken. Er verstand instinktiv, daß diese Nebenbuhlerschaft in dem Schicksal seiner Brüder jetzt eine wichtige Frage bildete, von der überaus viel abhing. Ein Reptil frißt das andere auf, hatte Bruder Iwan gesagt, als er gestern in gereizter Stimmung vom Vater und von Dmitri sprach. Also war Dmitri in seinen Augen ein Reptil, und vielleicht betrachtete er ihn schon lange als ein solches? Wohl seitdem er Katerina Iwanowna kennengelernt hatte? Die Worte waren Iwan gestern sicher unwillkürlich entfahren, doch dadurch waren sie nur um so bedeutungsvoller. Wenn es so stand, wie konnte da Friede herrschen? Ergaben sich daraus nicht neue Anlässe für Haß und Feindschaft in der Familie? Die Hauptsache aber war, mit wem sollte er, Aljoscha, sympathisieren? Was sollte er ihnen wünschen? Er liebte sie beide, doch was sollte er ihnen wünschen, angesichts so furchtbarer Gegensätze? In diesem Wirrwarr konnte man sich unmöglich zurechtfinden. Aljoschas Herz aber konnte keine Ungewißheit ertragen, denn seine Liebe war immer tätiger Natur. Untätig lieben konnte er nicht; wenn er jemand liebgewann, machte er sich auch gleich daran, ihm zu helfen. Doch dazu mußte er sich ein Ziel setzen, mußte er bestimmt wissen, was dem anderen gut und nützlich war. Wenn er sich von der Richtigkeit eines Zieles überzeugt hatte, war es für ihn selbstverständlich, daß er auch half. Aber statt eines festen Zieles sah er jetzt überall nur Unklarheit und Wirrwarr. Eine Überspanntheit! Dieses Wort war heute gefallen. Doch was sollte er darunter verstehen? Gleich das erste Wort in diesem Wirrwarr war ihm unverständlich!
Als Katerina Iwanowna Aljoscha erblickte, sagte sie erfreut zu Iwan, der gerade geben wollte: „Noch einen kleinen Augenblick! Bleiben Sie noch einen Augenblick! Ich möchte die Meinung dieses Menschen hören, dem ich von ganzem Herzen vertraue. Katerina Ossipowna, bleiben Sie auch“, fügte sie, an Frau Chochlakowa gewandt, hinzu. Sie bat Aljoscha, an ihrer Seite Platz zu nehmen, und Frau Chochlakowa setzte sich gegenüber, neben Iwan Fjodorowitsch.
„Hier sind nun alle meine Freunde beisammen, alle meine lieben Freunde, die ich auf der Welt habe“, begann Katerina Iwanowna in warmem Ton, in dem aufrichtiges Leid mitschwang, Aljoschas Herz wandte sich ihr sofort wieder zu. „Sie, Alexej Fjodorowitsch, waren gestern Zeuge dieser schrecklichen Szene und haben gesehen, wie ich mich benahm. Sie, Iwan Fjodorowitsch, haben es nicht gesehen, er aber hat es gesehen. Was er gestern von mir gedacht hat, weiß ich nicht. Ich weiß nur das eine: Würde sich dasselbe jetzt auf der Stelle wiederholen, würde ich dieselben Gefühle zum Ausdruck bringen, dieselben Worte sprechen und dieselben Gesten machen. Sie erinnern sich an meine Gesten, Alexej Fjodorowitsch, bei einer haben Sie mich selbst zurückgehalten.“ Bei diesen Worten errötete sie, und ihre Augen fingen an zu funkeln. „Ich erkläre Ihnen, Alexej Fjodorowitsch, daß ich mich mit nichts aussöhnen kann. Hören Sie, Alexej Fjodorowitsch, ich weiß nicht einmal, ob ich ihn jetzt noch liebe. Er erscheint mir bemitleidenswert, aber Mitleid ist ein schlechtes Zeichen von Liebe. Würde ich ihn lieben, immer noch weiterlieben, dann müßte ich ihn jetzt wohl nicht bemitleiden, sondern hassen …“
Ihre Stimme zitterte, und Tränen hingen an ihren Wimpern. Aljoscha erschrak. ‚Dieses Mädchen ist wahrheitsliebend und aufrichtig!‘ dachte er. Und sie liebt Dmitri nicht mehr!
„Ganz richtig! Ganz richtig!“ rief Frau Chochlakowa.
„Warten Sie, liebe Katerina Ossipowna, ich habe die Hauptsache noch nicht gesagt. Ich habe noch nicht gesagt welchen endgültigen Entschluß ich in dieser Nacht gefaßt habe. Ich fühle, daß mein Entschluß vielleicht furchtbar ist, furchtbar für mich. Aber ich weiß auch, daß ich ihn um keinen Preis ändern werde, um keinen Preis, in meinem ganzen Leben nicht! Mein lieber, guter, hochherziger Ratgeber, er, der mein Herz in seiner tiefsten Tiefe kennt, der einzige Freund, den ich auf der Welt habe, Iwan Fjodorowitsch, stimmt mir in allen Stücken zu und billigt meinen Entschluß. Er kennt ihn.“
„Ja, ich billige ihn“, sagte Iwan Fjodorowitsch mit leiser, aber fester Stimme.
„Aber ich möchte, daß auch Aljoscha — ach, verzeihen Sie, Alexej Fjodorowitsch, daß ich Sie einfach Aljoscha genannt habe —, ich möchte, daß auch Alexej Fjodorowitsch mir jetzt in Gegenwart meiner Freunde sagt, ob ich recht handle oder nicht. Ich habe das instinktive Gefühl, daß Sie, Aljoscha, mein lieber Bruder, denn Sie sind mein lieber Bruder“, fuhr sie begeistert fort und ergriff seine Hand. „Ich habe das Gefühl, daß Ihr Urteil, Ihre Billigung mir trotz aller Qualen zur Ruhe verhelfen wird. Denn nach Ihren Worten werde ich mich beruhigen und in mein Schicksal fügen, das fühle ich schon vorher!“
„Ich weiß nicht, wonach Sie mich fragen wollen“, erwiderte Aljoscha errötend. „Ich weiß nur, daß ich Sie liebe und Ihnen in diesem Augenblick mehr Glück wünsche als mir selbst! Aber ich verstehe ja nichts von diesen Dingen!“ beeilte er sich plötzlich hinzuzufügen.
„In diesen Dingen, Alexej Fjodorowitsch, sind Ehre und Pflicht die Hauptsache, ich weiß nicht, was noch — aber es ist etwas Hohes, vielleicht sogar etwas Höheres als Pflicht. Mein Herz spricht von diesem unwiderstehlichen Gefühl, und dieses Gefühl reißt mich fort. Übrigens läßt sich alles in wenigen Worten sagen. Mein Entschluß ist folgender. Auch wenn er jene … Kreatur heiraten sollte“, begann sie feierlich, „der ich niemals verzeihen kann — selbst dann werde ich ihn nicht verlassen! Von jetzt an werde ich ihn nie, nie mehr verlassen!“ rief sie mit blasser, gekünstelter Begeisterung. „Das heißt nicht etwa, daß ich ihm nachlaufe, ihm alle Augenblicke vor Augen komme und ihn quäle — o nein, ich werde in eine andere Stadt ziehen, eine beliebige andere Stadt, aber ich werde mein ganzes Leben unermüdlich auf ihn achtgeben. Und wenn er mit dieser Frau unglücklich wird, und das wird gewiß bald geschehen, dann mag er zu mir kommen, und er wird in mir eine Freundin und Schwester finden, natürlich nur eine Schwester, und das wird lebenslänglich so bleiben, aber er wird sich schließlich überzeugen, daß diese Schwester wahrhaft seine Schwester ist, die ihn liebt und ihm ihr ganzes Leben geopfert hat. Ich werde es durchsetzen, daß er mich endlich ganz kennenlernt und mir alles gesteht, ohne sich zu schämen!“ rief sie wie verzückt. „Ich werde sein Gott sein, zu dem er betet — wenigstens das ist er mir schuldig für seine Untreue und für das, was ich gestern durch ihn gelitten habe. Mag er sein Leben lang sehen, daß ich ihm und dem Wort, das ich ihm einmal gegeben habe, mein Leben lang treu bin, obwohl er mir untreu gewesen ist und sich von mir abgewandt hat. Ich werde nur ein Mittel zu seinem Glück sein — oder wie soll man das ausdrücken? Ich werde mich in ein Werkzeug, in eine Maschine zu seinem Glück verwandeln — für das ganze Leben, und er soll das sein Leben lang sehen! Das ist der ganze Inhalt meines Entschlusses! Iwan Fjodorowitsch billigt ihn vollkommen.“
Der Atem stockte ihr. Sie hatte vielleicht gewünscht, ihre Gedanken würdiger, geschickter und natürlicher vorzubringen, und nun war alles etwas zu hastig und kahl herausgekommen. Schuld daran war vor allem ein jugendlicher Mangel an Selbstdisziplin: Vielfach spürte man den Zorn über die Kränkung vom Vortag und das Bedürfnis, sich stolz zu zeigen; das fühlte sie selbst. Ihr Gesicht verfinsterte sich auf einmal, und der Ausdruck der Augen wurde unschön. Aljoscha bemerkte es sofort, und aufrichtiges Mitleid regte sich in seinem Herzen.
In diesem Augenblick machte sein Bruder Iwan eine Bemerkung:
„Ich habe nur meine Meinung geäußert“, sagte er. „Bei jeder anderen würde alles verstellt und gezwungen herauskommen, bei Ihnen ist das nicht der Fall. Eine andere hätte unrecht, Sie jedoch haben recht. Ich weiß nicht, wie ich das begründen soll, aber ich sehe, daß Sie im höchsten Grade aufrichtig sind: darum haben Sie recht …“
„Aber das ist doch nur in diesem Augenblick so. Was will denn dieser Augenblick besagen? Das ist nur die Folge der gestrigen Beleidigung — weiter nichts!“ platzte plötzlich Frau Chochlakowa heraus. Augenscheinlich hatte sie sich nicht in das Gespräch einmischen wollen, sich aber doch nicht zurückhalten können und einen sehr richtigen Gedanken ausgesprochen.
„Ja, ja“, fiel ihr Iwan ins Wort, der auf einmal zornig geworden war und sich offenbar darüber ärgerte, daß sie ihn unterbrochen hatte. „Bei einer anderen Frau würde dieser Augenblick nur die gestrigen Gefühle fortsetzen und wäre eben nur ein Augenblick. Bei Katerina Iwanownas Charakter jedoch erstreckt sich dieser Augenblick auf das ganze Leben. Was für andere nur ein Versprechen darstellt, ist für sie eine lebenslängliche, schwere, vielleicht traurige, aber unermüdlich erfüllte Pflicht. Und am Ende dieser Pflichterfüllung wird sie sich aufrichten! Ihr Leben, Katerina Iwanowna, wird jetzt im schmerzlichen Bewußtsein der eigenen Gefühle, der eigenen Großtat und des eigenen Leides vergehen, doch allmählich wird sich dieser Schmerz mildern, und Ihr Leben wird Ihnen das süße Bewußtsein eines ein für allemal verwirklichten stolzen Vorsatzes vermitteln, eines in seiner Art tatsächlich stolzen, gewagten, aber von Ihnen siegreich erfüllten Vorsatzes. Und dieses Bewußtsein wird Ihnen schließlich vollste Befriedigung gewähren und Sie mit allem übrigen aussöhnen …“
Er sagte das in entschiedenem Ton und mit einer gewissen Bosheit, die anscheinend beabsichtigt war; er schien gar nicht verbergen zu wollen, daß er absichtlich so spöttisch sprach.
„O mein Gott, wie falsch das alles ist!“ rief Frau Chochlakowa wieder.
„Alexej Fjodorowitsch, sagen Sie denn gar nichts? Ich warte ungeduldig, was Sie mir zu sagen haben!“ rief Katerina Iwanowna und brach plötzlich in Tränen aus.
Aljoscha stand vom Sofa auf.
„Das hat nichts zu bedeuten, das hat nichts zu bedeuten“, fuhr sie weinend fort. „Das kommt von der Aufregung und von der heutigen Nacht. Neben zwei Freunden wie Ihnen und Ihrem Bruder fühle ich mich noch stark, denn ich weiß, daß Sie mich nie verlassen.“
„Leider muß ich vielleicht schon morgen nach Moskau fahren und Sie doch für längere Zeit verlassen. Und das läßt sich zu meinem Bedauern nicht ändern“, sagte Iwan Fjodorowitsch plötzlich.
„Morgen nach Moskau?“ rief Katerina Iwanowna, und ihr Gesicht verzog sich auf einmal. „Mein Gott, wie glücklich sich das trifft!“ Ihre Stimme hatte sich augenblicklich verändert; ihre Tränen waren verschwunden, so daß auch nicht die Spur von ihnen zurückgeblieben war. In einem einzigen Augenblick ging mit ihr eine Veränderung vor, die Aljoscha sehr erstaunte. Statt des armen beleidigten Mädchens, das soeben in einem Gefühlsausbruch geweint hatte, erschien plötzlich eine Frau, die sich vollkommen in der Gewalt hatte und sogar außerordentlich zufrieden und erfreut wirkte.
„Oh, nicht daß ich Sie verliere, trifft sich glücklich, selbstverständlich nicht!“ korrigierte sie sich schnell mit dem liebenswürdigen Lächeln einer Weltdame. „Ein Freund wie Sie kann das nicht annehmen. Ich bin im Gegenteil höchst unglücklich darüber, daß ich Sie vermissen muß …“ Sie stürzte plötzlich ungestüm zu Iwan Fjodorowitsch, ergriff seine Hände und drückte sie heftig. „Nein, was sich glücklich trifft, ist der Umstand, daß Sie selbst, Sie persönlich imstande sein werden, meiner Tante und meiner Schwester Agascha meine ganze jetzige Lage und all das Entsetzliche zu schildern. Zu Agascha können Sie ganz offen sein, aber mein liebes Tantchen werden Sie schonen müssen, wie Sie es ja so gut verstehen. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie unglücklich ich gestern und heute vormittag war, als ich mir keinen Rat wußte, wie ich diesen schrecklichen Brief an sie schreiben sollte! Denn in einem Brief läßt sich das alles unter keinen Umständen wiedergeben. Jetzt jedoch wird es mir ein leichtes sein, zu schreiben, weil Sie dort persönlich alles erklären werden. Oh, wie ich mich freue. Aber ich freue mich nur darüber; ich bitte Sie nochmals, mir das zu glauben. Sie selbst sind mir natürlich unersetzlich … Ich werde den Brief sofort schreiben“, schloß sie plötzlich und tat bereits ein paar Schritte, um das Zimmer zu verlassen.
„Und Aljoscha? Und die Meinung von Alexej Fjodorowitsch, die Sie unbedingt hören wollten?“ rief Frau Chochlakowa, und ihre Worte klangen etwas boshaft und ärgerlich.
„Ich habe das nicht vergessen“, erwiderte Katerina Iwanowna und blieb stehen. „Aber warum verhalten Sie sich zu mir jetzt so feindlich, Katerina Ossipowna?“ fragte sie im Ton eines starken, bitteren Vorwurfs. „Was ich gesagt habe, dabei bleibe ich. Seine Meinung ist mir unentbehrlich. Ja noch mehr, ich brauche seine Entscheidung! Was er sagen wird, soll geschehen! Da sehen Sie, wie sehr ich auf Ihre Worte warte, Alexej Fjodorowitsch … Aber was haben Sie?“
„Das hätte ich nie gedacht. Ich kann mir das gar nicht vorstellen!“ rief Aljoscha traurig.
„Was denn, was denn?“
„Er fährt nach Moskau, und Sie sagen, daß Sie sich freuen — und zwar sagen Sie das absichtlich! Und dann erklären Sie, daß Sie nicht darüber froh sind, im Gegenteil, es tue Ihnen leid, daß Sie einen Freund verlieren. Aber auch das haben Sie uns vorgespielt, wie auf der Bühne haben Sie Komödie gespielt!“
„Wie auf der Bühne? Was soll das heißen?“ rief Katerina Iwanowna verwundert. Sie war dunkelrot geworden und zog die Augenbrauen finster zusammen.
„Trotz aller Versicherungen, daß Sie die Abreise eines solchen Freundes bedauern, sagen Sie ihm ins Gesicht, seine Abreise sei ein Glück für Sie …“, sagte Aljoscha schwer atmend. Er stand am Tisch, ohne sich zu setzen.
„Wovon reden Sie? Ich verstehe Sie nicht.“
„Ich weiß es selbst nicht. Es ist auf einmal wie eine Erleuchtung über mich gekommen. Ich weiß, daß ich mich nicht gut ausdrücken werde, aber ich will es dennoch sagen“, fuhr Aljoscha mit zitternder, häufig versagender, Stimme fort. „Die Erleuchtung besteht darin, daß Sie meinen Bruder Dmitri vielleicht überhaupt nicht lieben, ihn von Anfang an nicht geliebt haben … Und auch Dmitri liebt Sie vielleicht gar nicht, sondern achtet Sie nur … Ich weiß wirklich nicht, wieso ich wage, das alles jetzt zu sagen — aber einer muß doch die Wahrheit sagen. Und da es niemand hier tun will … „
„Was für eine Wahrheit?“ rief Katerina Iwanowna, und aus ihrer Stimme klang hysterische Erregung.
„Ich will Ihnen sagen, was für eine“, flüsterte Aljoscha, dem zumute war, als ob er von einem Dach stürzte. „Lassen Sie sofort Dmitri kommen — ich werde ihn schon finden. Soll er kommen und Sie und meinen Bruder Iwan an der Hand fassen und Ihre Hände vereinigen. Denn Sie quälen Iwan nur, weil Sie ihn lieben … Sie quälen ihn, weil Sie Dmitri aus Überspanntheit lieben, nicht wirklich lieben, sondern sich das nur eingeredet haben …“
Aljoscha stockte und verstummte.
„Sie … Sie sind ein kleiner frommer Narr! Ja, das sind Sie!“ sagte Katerina Iwanowna in scharfem Ton. Ihr Gesicht war ganz blaß geworden, und ihre Lippen hatten sich vor Zorn verzerrt.
Iwan Fjodorowitsch lachte plötzlich auf und erhob sich, den Hut in der Hand.
„Du hast dich geirrt, mein guter Aljoscha“, sagte er mit einem Gesichtsausdruck, den Aljoscha noch nie an ihm bemerkt hatte, einem Ausdruck jugendlicher Aufrichtigkeit und starken, unbezwingbaren Verlangens, sich offen auszusprechen. „Niemals hat Katerina Iwanowna mich geliebt! Sie hat die ganze Zeit gewußt, daß ich sie liebe, obgleich ich ihr nie ein Wort von meiner Liebe gesagt habe. Sie hat es gewußt, aber sie liebt mich nicht. Auch ihr Freund bin ich nie gewesen, nicht einen Tag lang; die stolze Frau brauchte meine Freundschaft nicht. Sie hat mich bei sich gehalten, um sich unaufhörlich rächen zu können. Sie rächte sich an mir für alte Beleidigungen, die sie von Dmitri von ihrer ersten Begegnung an ständig und jeden Augenblick zu ertragen hatte. Denn auch die allererste Begegnung mit ihm empfindet sie noch immer als Beleidigung. Ich habe sie die ganze Zeit immer nur von ihrer Liebe zu ihm reden hören. Ich reise jetzt ab, Sie aber sollten wissen, Katerina Iwanowna, daß Sie wirklich nur ihn lieben. Und je ärger er Sie beleidigt, desto mehr lieben Sie ihn. Das ist eben Ihre Überspanntheit. Sie lieben ihn so, wie er ist, Sie lieben ihn sogar, weil er Sie kränkt. Würde er sich bessern, würden Sie sich sofort von ihm abwenden und ihn überhaupt nicht mehr lieben. Aber Sie brauchen ihn, um fortwährend Ihre Großtat, Ihre Treue vor Augen zu haben und ihm seine Treulosigkeit vorzuwerfen. Das rührt alles von Ihrem Stolz her. Gewiß, es ist auch viel Selbsterniedrigung und Selbstdemütigung dabei, aber die Wurzel von alledem ist Ihr Stolz … Ich bin zu jung und habe Sie zu leidenschaftlich geliebt. Ich weiß, daß ich Ihnen das nicht sagen sollte, daß es sich von meiner Seite würdiger ausnehmen würde, wenn ich einfach von Ihnen fortginge, das wäre auch für Sie nicht so beleidigend. Aber ich fahre weit weg und komme nie wieder. Das ist eine Trennung fürs ganze Leben. Ich mag so eine Überspanntheit nicht aus der Nähe mit ansehen … Übrigens verstehe ich nicht, die richtigen Ausdrücke zu wählen, aber alles Wesentliche habe ich gesagt … Leben Sie wohl, Katerina Iwanowna! Zürnen können Sie mir nicht, denn ich bin hundertmal mehr bestraft als Sie, schon allein dadurch, daß ich Sie nie mehr wiedersehen werde. Leben Sie wohl! Geben Sie mir nicht die Hand! Sie haben mich zu sehr bewußt gequält, als daß ich Ihnen in diesem Augenblick verzeihen könnte. Später werde ich Ihnen verzeihen, doch jetzt möchte ich Ihnen nicht die Hand schütteln. ‚Den Dank, Dame, begehr ich nicht!‘“1 fügte er mit einem gezwungenen Lächeln hinzu, dadurch ganz unerwartet beweisend, daß auch er seinen Schiller gelesen hatte und aus dem Kopf zitieren konnte, was Aljoscha nicht geglaubt hätte. Er verließ das Zimmer, ohne sich auch nur bei Frau Chochlakowa, der Gastgeberin, zu verabschieden.
Aljoscha rang die Hände. „Iwan!“ rief er ihm fassungslos nach. „Komm zurück, Iwan! Nein, er wird um keinen Preis zurückkommen!“ sagte er in trauriger Gewißheit. „Und ich, ich bin schuld daran, ich habe angefangen! Iwan hat im Zorn ungerecht gesprochen. Er muß wiederkommen, er muß, er muß!“ Aljoscha schrie, als ob er nur halb bei Verstand wäre.
Katerina Iwanowna ging plötzlich in ein anderes Zimmer.
„Sie haben nichts Schlimmes angerichtet. Sie haben vorzüglich gehandelt, wie ein Engel“, flüsterte Frau Chochlakowa, die ganz begeistert war, rasch dem betrübten Aljoscha zu. „Ich werde alles unternehmen, damit Iwan Fjodorowitsch nicht wegfährt …“
Ihr Gesicht strahlte vor Freude, zum größten Kummer Aljoschas.
Da kehrte Katerina Iwanowna zurück, in der Hand zwei Hundertrubelscheine.
„Ich habe eine große Bitte an Sie, Alexej Fjodorowitsch“, begann sie, an Aljoscha gewandt, in ruhigem, gleichmäßigem Ton, als ob soeben wirklich nichts geschehen wäre. „Vor einer Woche, ja, ich glaube, es war vor einer Woche, hat Dmitri Fjodorowitsch eine unbeherrschte, ungerechte Tat begangen, eine sehr häßliche Tat. In einem unschönen Lokal, einer Kaschemme, hat er jenen verabschiedeten Offizier, einen Stabskapitän, getroffen, dessen Dienste Ihr Vater in seinen geschäftlichen, Angelegenheiten zu benutzen pflegte. Dmitri Fjodorowitsch, der irgendeinem Grund böse auf diesen Stabskapitän war, faßte ihn am Bart, zerrte ihn vor aller Augen in diesem unwürdigen Zustand auf die Straße und führte ihn auch noch längere Zeit so herum. Man erzählt, der Sohn dieses Stabskapitäns, ein Schüler der hiesigen Schule, ein Kind noch, sei nebenhergelaufen, habe laut geweint, für seinen Vater gebeten, sich an die Umstehenden gewandt und sie um Hilfe angefleht, doch alle hätten nur gelacht. Verzeihen Sie, Alexej Fjodorowitsch, ich kann an diese schmähliche Tat Dmitri Fjodorowitschs nicht ohne Empörung denken! Es ist eine von den Taten, die nur er in seinem Zorn und seiner Leidenschaftlichkeit verüben kann! Ich bin sogar außerstande, das zu erzählen, ich verwechsle die Worte. Ich habe mich nach diesem Beleidigten erkundigt und erfahren, daß er sehr arm ist. Sein Name ist Snegirjow. Er hat sich im Dienst etwas zuschulden kommen lassen und daraufhin den Abschied bekommen, ich kann das nicht genauer erzählen, und jetzt ist er mit seiner unglücklichen Familie, die aus einer wohl irrsinnigen Frau und kranken Kindern besteht, in schreckliche Armut geraten. Er wohnt schon lange hier in der Stadt, arbeitet auch irgendwas, irgendwo ist er Schreiber gewesen, aber auf einmal wird ihm jetzt sein Lohn vorenthalten! Da habe ich nun Sie ausersehen … Das heißt, ich dachte, ich weiß nicht, ich bin so durcheinander … Sehen Sie, ich wollte Sie bitten, Alexej Fjodorowitsch, mein bester Alexej Fjodorowitsch, zu ihm zu gehen, ihm unter einem Vorwand einen Besuch zu machen, ich meine diesem Stabskapitän, o Gott, wie konfus ich bin, und in taktvoller, behutsamer Weise, so wie nur Sie das können.“ Bei diesen Worten errötete Aljoscha plötzlich. „ … ihm dies als Unterstützung zu überreichen, hier diese zweihundert Rubel. Er wird sie sicher annehmen … Das heißt, Sie müßten ihn überreden, sie anzunehmen … Oder wird er sie nicht annehmen, was meinen Sie? Sehen Sie, das soll ja keine Bezahlung dafür sein, daß er die Sache auf sich beruhen läßt und nicht klagt — ich glaube, er wollte eine Klage anstrengen —, sondern einfach ein Ausdruck der Teilnahme und des Wunsches, ihm zu helfen, von mir, der Braut Dmitri Fjodorowitschs, nicht von diesem selbst … Kurz, Sie werden schon damit zurechtkommen … Ich würde selbst hinfahren, aber, Sie verstehen das viel besser als ich. Er wohnt in der Osjornajastraße, im Haus der Kleinbürgerin Kalmykowa … Ich bitte Sie inständig, Alexej Fjodorowitsch, tun Sie mir diesen Gefallen! Und jetzt … jetzt bin ich etwas müde. Auf Wiedersehen!“
Sie drehte sich plötzlich um und verschwand so schnell hinter der Portiere, daß Aljoscha keine Zeit fand, auch nur ein Wort zu sagen — und er hätte doch so gern etwas gesagt. Er hätte sie gern um Verzeihung gebeten, sich selbst angeklagt, überhaupt etwas gesagt; denn sein Herz war übervoll, und er wollte um keinen Preis weggehen, ohne noch mit ihr gesprochen zu haben.
Doch Frau Chochlakowa nahm ihn bei der Hand und führte ihn selbst hinaus. Im Vorzimmer blieb sie wieder mit ihm stehen, wie se es vorher getan hatte.
„Sie ist stolz und ringt mit sich selbst, aber sie ist eine gute, prächtige, hochherzige Frau!“ rief Frau Chochlakowa fast flüsternd. „Oh, wie ich sie mag, besonders manchmal, und wie ich mich über alles jetzt von neuem freue! Lieber Alexej Fjodorowitsch, Sie wissen ja eines noch nicht: Wir alle, ich, ihre beiden Tanten, kurz wir alle, sogar Lise, haben schon einen Monat lang keinen anderen Wunsch und kein anderes Gebet, als daß sie sich von ihrem Liebling Dmitri Fjodorowitsch trennen möchte, der nichts von ihr wissen will und sie gar nicht liebt. Daß sie Iwan Fjodorowitsch heiraten möchte, einen gebildeten, vortrefflichen jungen Mann, der sie über alles in der Welt liebt. Wir haben hier schon eine richtige Verschwörung angezettelt, und ich reise vielleicht nur deshalb nicht ab … „
„Aber sie hat doch geweint? Sie fühlt sich wieder beleidigt!“ rief Aljoscha.
„Glauben Sie nicht den Tränen einer Frau, Alexej Fjodorowitsch! Ich bin in solchen Fällen immer gegen die Frauen und für die Männer.“
„Aber Mama, Sie richten ihn ja völlig zugrunde!“ ließ sich Lisas helles Stimmchen durch den Türspalt vernehmen.
„Nein, ich bin an allem schuld! Ich habe mich schrecklich vergangen!“ wiederholte Aljoscha in einem Anfall von Scham, untröstlich über sein dreistes Auftreten von vorhin, verbarg er vor Scham das Gesicht in den Händen.
„Im Gegenteil, Sie haben gehandelt wie ein Engel. Ich bin bereit, Ihnen das tausend- und aber tausendmal zu wiederholen.“
„Mama, warum hat er denn gehandelt wie ein Engel?“ wurde Lisas Stimme wieder vernehmbar.
„Als ich das alles mit ansah“, fuhr Aljoscha fort, als hätte er Lisas Frage gar nicht gehört, „bildete sich bei mir, ich weiß nicht warum, die Vorstellung, daß sie Iwan liebt, und da sagte ich diese Dummheit … Was wird nun werden?“
„Mit wem denn, mit wem wird etwas werden?“ rief Lisa. „Mama, Sie wollen mich wohl umbringen? Ich frage Sie immerzu, und Sie antworten mir nicht.“
In diesem Augenblick kam das Stubenmädchen herein.
„Katerina Iwanowna geht es nicht gut. Sie weint … Sie hat einen hysterischen Anfall und schlägt um sich.“
„Was soll denn das heißen?“ rief Lisa mit erregter Stimme. „Mama, ich bin es, die einen hysterischen Anfall bekommen wird, nicht sie!“
„Lise, um Gottes willen, schrei nicht so, töte mich nicht! Du bist noch in einem Alter, in dem du nicht alles wissen mußt, was die Erwachsenen wissen. Ich werde dir schon alles erzählen, was man dir mitteilen kann … O mein Gott, ich laufe, ich laufe ja … Ein hysterischer Anfall — das ist ein gutes Zeichen, Alexej Fjodorowitsch! Ausgezeichnet, daß sie einen hysterischen Anfall hat. Das ist genau das, was jetzt angebracht ist. Ich bin in solchem Fall immer gegen die Frauen, gegen alle diese hysterischen Anfälle und Weibertränen. Julija, lauf hin und sag ihr, daß ich fliege. Daß Iwan Fjodorowitsch so weggegangen ist, daran ist sie selbst schuld. Aber er wird nicht abreisen. Lise, um Gottes willen, schrei nicht so! Ach so, du schreist ja gar nicht, ich bin es, die schreit, verzeih deiner Mama! Ich bin hingerissen, ganz einfach hingerissen! Haben Sie bemerkt, Alexej Fjodorowitsch, wie jung Iwan Fjodorowitsch vorhin aussah, als er ging? Als er das alles gesagt hatte, und ging? Ich hatte immer gedacht, er wäre so ein Gelehrter, so ein Akademiker — und nun auf einmal dieses Feuer, diese offenherzige, diese unerfahrene Jugendlichkeit, wie schön das alles war, genau wie bei Ihnen! Und dieser deutsche Vers — als ob man Sie hörte! Aber ich laufe schon, ich laufe. Alexej Fjodorowitsch, beeilen Sie sich mit diesem Auftrag, und kommen Sie dann schnell wieder her! Lise, brauchst du etwas? Um Gottes willen, halte Alexej Fjodorowitsch nur keinen Augenblick länger auf, er wird gleich wiederkommen …“
Endlich eilte Frau Chochlakowa hinaus. Aljoscha wollte, bevor er ging, die Tür zu Lisa öffnen.
„Auf keinen Fall!“ rief Lisa. „Auf gar keinen Fall! Sprechen Sie so, durch die Tür hindurch! Wieso sind Sie bloß ein Engel geworden? Das möchte ich wissen.“
„Wegen einer schrecklichen Dummheit, Lisa. Leben Sie wohl!“
„Unterstehen Sie sich nicht, so zu gehen“, rief Lisa.
„Lisa, ich bin sehr betrübt. Ich werde gleich wiederkommen, aber ich bin sehr, sehr betrübt!“
Und er verließ das Zimmer.
- Zitat aus der Ballade „Der Handschuh“.↩