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7. Und an frischer Luft

„Die Luft hier ist frisch, in meiner Behausung dagegen ist sie es durchaus nicht, in keiner Bedeutung des Wortes. Lassen Sie uns langsam gehen, mein Herr! Es liegt mir daran, Ihr Interesse für mich zu erregen.“

„Ich habe selber ein Anliegen an Sie …“, bemerkte Aljoscha. „Ich weiß nur nicht, wie ich anfangen soll.“

„Wie sollte ich nicht wissen, daß Sie ein Anliegen an mich haben? Ohne ein Anliegen würden Sie niemals einen Blick zu mir hereinwerfen. Oder sind Sie wirklich nur gekommen, um sich über den Jungen zu beschweren! Das ist doch unwahrscheinlich. Aber da ich gerade den Jungen erwähne — ich konnte Ihnen da drin nicht alles auseinandersetzen, jetzt will ich Ihnen diese Szene schildern. Sehen Sie, der Bastwisch war früher, noch vor einer Woche, dichter — ich rede von meinem Bärtchen, die Leute haben es Bastwisch getauft, besonders die Schulknaben. Nun, und an diesem Bärtchen zog mich damals Ihr Bruder Dmitri Fjodorowitsch, um nichts und wieder nichts, er suchte Streit, und ich kam ihm in den Weg. Er zog mich aus dem Restaurant auf den Marktplatz, da kamen gerade die Schüler aus der Schule, und unter ihnen auch Iljuscha. Als er mich in dieser unwürdigen Lage sah, stürzte er zu mir: ‚Papa‘, schrie er, ‚Papa!‘ Er faßte mich, umschlang mich, wollte mich losreißen und schrie Ihrem Herrn Bruder zu: ‚Lassen Sie ihn los, lassen Sie ihn los! Das ist mein Papa, mein Papa, üben Sie Gnade mit ihm!‘ Ja, das schrie er. ‚Üben Sie Gnade mit ihm!‘ Mit seinen Händchen griff er nach ihm, küßte ihm die Hand, diese selbe Hand, die … Ich erinnere mich, was er in diesem Augenblick für ein Gesichtchen hatte. Ich habe es nicht vergessen, und werde es nicht vergessen!“

„Ich schwöre Ihnen“, rief Aljoscha, „mein Bruder wird Ihnen aufrichtigste Reue bezeigen! Wenn Sie es verlangen, auf den Knien, auf jenem Marktplatz! Ich werde ihn dazu zwingen, oder er soll nicht mehr mein Bruder sein!“

„Aha, das befindet sich also alles noch im Stadium des Projektes. Das geht nicht direkt von ihm aus, sondern entspringt aus dem Edelmut Ihres Herzens. Das hätten Sie gleich sagen sollen. Erlauben Sie mir unter diesen Umständen, auch von der höchst ritterlichen, eines Offiziers würdigen edlen Gesinnung zu reden, die Ihr Bruder damals an den Tag gelegt hat. Als er aufgehört hatte, mich am Bastwisch zu ziehen, sagte er: Du bist Offizier, und ich bin Offizier. Wenn du einen Sekundanten finden kannst, einen anständigen Menschen, schick ihn zu mir. Ich werde dir Satisfaktion geben, obgleich du ein Schurke bist! So sprach er. Eine wahrhaft ritterliche Denkungsart! Ich bin dann gleich weggegangen mit Iljuscha, doch dieses Bild aus dem Leben einer adligen Familie hat sich meinem Söhnchen fürs ganze Leben eingeprägt. Was soll ich nun als Adliger anfangen? Urteilen Sie selbst, Sie sind ja eben selbst in meiner Wohnung gewesen, was haben Sie da gesehen? Da sitzen drei Damen: Die eine ist an den Füßen gelähmt und schwachsinnig, die andere ebenfalls an den Füßen gelähmt und bucklig, und die dritte hat zwar gesunde Füße, ist aber schon allzu klug, eine Studentin, will wieder nach Petersburg, um an den Ufern der Newa die Rechte der russischen Frau zu suchen. Von Iljuscha rede ich schon gar nicht, der ist erst neun Jahre alt und völlig hilflos. Wenn ich sterbe, was wird dann aus meinen Angehörigen? Das möchte ich Sie nur fragen. Wenn ich ihn nun unter diesen Umständen zum Duell fordere und er mich tötet, was dann? Welches Schicksal erwartet sie dann? Noch schlimmer — wenn er mich nicht tötet, sondern nur zum Krüppel schießt? Dann kann ich nicht arbeiten, der Mund aber bleibt dennoch, wer wird ihn dann füttern, meinen Mund, und wer wird die anderen alle füttern? Oder sollen wir Iljuscha statt in die Schule alle Tage zum Betteln schicken? Nun wissen Sie, was es für mich bedeutet, ihn zum Duell zu fordern! Nur ein dummes Wort, weiter nichts.“

„Er wird Sie um Verzeihung bitten! Er wird Ihnen mitten auf dem Marktplatz zu Füßen fallen“, rief Aljoscha wieder mit flammenden Augen.

„Ich wollte ihn vor Gericht bringen“, fuhr der Stabskapitän fort, „aber schlagen Sie mal unser Gesetzbuch auf, ob ich eine

Genugtuung für diese persönliche Beleidigung erlangen kann. Und außerdem ließ mich nun noch Agrafena Alexandrowna

zu sich rufen und schrie mich an: ‚Untersteh dich nicht, das zu tun! Wenn du ihn vor Gericht bringst, werde ich dafür sorgen, daß es in der ganzen Welt öffentlich bekannt wird, wieso er dich geprügelt hat, wegen deiner eigenen Schurkerei! Dann wird man dir selbst den Prozeß machen!‘ Aber Gott allein weiß, von wem diese Schurkerei ausging und auf wessen Befehl ich untergeordnetes Wesen dabei handelte. Handelte ich denn nicht auf ihre eigene und Fjodor Pawlowitschs Anordnung? ‚Und außerdem‘, fügte sie hinzu, ‚werde ich dich für immer fortjagen, und du wirst nichts mehr bei mir verdienen. Auch meinem Kaufmann werde ich es sagen …‘ So nennt sie den Alten: mein Kaufmann. ‚Dann wird auch der dich wegjagen!‘ Da dachte ich: Wenn auch der Kaufmann mich wegjagt, was dann? Bei wem soll ich dann etwas verdienen? Denn das sind die beiden einzigen, die mir geblieben sind, da Ihr Vater Fjodor Pawlowitsch mir nicht nur aus einem anderen Grund sein Vertrauen entzogen hat, sondern mich auch noch, gestützt auf meine Quittungen, selbst vor Gericht bringen will. Infolgedessen habe ich mich still verhalten. Sie haben nun einen tiefen Blick in alle diese Verhältnisse getan. Und gestatten Sie mir jetzt die Frage: Hat Iljuscha Sie heute schmerzhaft in den Finger gebissen? Im

Zimmer wollte ich vor ihm nicht auf diesen Punkt eingehen.“

„Ja, sehr schmerzhaft. Er war in sehr gereizter Stimmung. Er nahm, weil ich ein Karamasow bin, an mir Rache für die Ihnen zugefügte Beleidigung. Aber wenn Sie gesehen hätten, wie die Steine zwischen ihm und seinen Schulkameraden hin und her flogen! Das ist sehr gefährlich. Seine Kameraden hätten ihn totwerfen können, sie sind dumme Kinder. So ein Stein fliegt und kann einem den Kopf zerschmettern.“

„Auch heute hat ihn schon wieder ein Stein getroffen, nicht an den Kopf, aber an die Brust, oberhalb des Herzens. Er hat einen blauen Fleck davon bekommen. Als er nach Hause kam, weinte und stöhnte er, und nun ist er krank geworden.“

„Aber wissen Sie, er greift ja von selber zuerst an. Er ist Ihretwegen wütend. Sie sagen, er hat heute einem gewissen Krassotkin mit dem Messer in die Seite gestochen …“

„Auch davon habe ich gehört, das ist gefährlich. Dieser Krassotkin ist der Sohn einer hiesigen Beamtenwitwe, da werden wir vielleicht noch Unannehmlichkeiten haben …“

„Ich würde Ihnen raten“, fuhr Aljoscha mit Wärme fort, „ihn eine Zeitlang überhaupt nicht in die Schule zu schicken, bis er sich beruhigt hat. Der Zorn, der jetzt in ihm ist, wird vergehen …“

„Zorn!“ fiel der Stabskapitän ein. „Ganz richtig, Zorn. Er ist nur ein kleines Wesen, aber es steckt ein großer Zorn in ihm. Sie wissen noch nicht alles. Erlauben Sie, daß ich Ihnen diese Geschichte gesondert erzähle. Nach jenem Vorfall begannen ihn alle Schüler der Schule mit dem Wort Bastwisch zu necken. Die Kinder in der Schule sind ein erbarmungsloses Volk. Einzeln sind sie Engel Gottes, zusammen jedoch sehr oft erbarmungslos. Sie begannen ihn zu necken, und da empörte sich in Iljuscha der adlige Geist. Ein gewöhnlicher Junge, ein schwaches Söhnchen, hätte sich gefügt, hätte sich seines Vaters geschämt — er aber erhob sich, einer gegen alle. Als Verteidiger seines Vaters und für Wahrheit und Recht. Denn was er damals erduldet hat, als er Ihrem Bruder die Hand küßte und ihn um Gnade für seinen Vater bat, das weiß nur Gott allein und ich. Und so erkennen denn unsere Kinderchen, das heißt nicht Ihre, sondern unsere Kinderchen, die Kinder verachteter adliger Bettler, die Wahrheit auf Erden schon mit neun Jahren. Bei den Reichen ist das unmöglich, die dringen ihr ganzes Leben lang nicht in solche Tiefe. Aber mein Iljuscha hat in jenem Augenblick, auf dem Marktplatz, als er Ihrem Bruder die Hand küßte, die ganze Wahrheit erkannt. Diese Wahrheit überwältigte ihn und schlug ihn für immer zu Boden“, sagte der Stabskapitän hitzig und schlug dabei mit der rechten Faust in die linke Handfläche, als ob er verdeutlichen wollte, wie „die Wahrheit“ seinen Sohn zu Boden geschlagen hatte. „Gleich damals fieberte und phantasierte er die ganze Nacht. Den ganzen Tag sprach er nur wenig mit mir, er schwieg fast ganz, doch ich bemerkte, daß er mich aus seiner Ecke immerzu beobachtete und sich immerzu über das Fensterbrett beugte und tat, als ob er seine Aufgaben lernte; ich sah aber, daß er etwas anderes als seine Aufgaben im Kopf hatte. Am folgenden Tag betrank ich mich vor Kummer, ein sündiger Mensch wie ich bin, und erinnere mich an vieles nicht. Das Mamachen hatte ebenfalls angefangen zu weinen, und das Mamachen hab ich sehr lieb, na, und da betrank ich mich denn vor Kummer für mein letztes Geld. Verachten Sie mich deshalb nicht, mein Herr, bei uns in Rußland sind die Trinker die besten Menschen. Die besten Menschen bei uns sind die schlimmsten Trinker. Ich lag da und kümmerte mich an diesem Tag nicht viel um Iljuscha, doch ab eben diesem Tag begannen sie ihn in der Schule vom Morgen an zu verhöhnen: ‚Bastwisch!‘ riefen sie. ‚Dein Vater ist an seinem Bastwisch aus der Kneipe gezerrt worden, und du bist daneben hergelaufen und hast um Gnade gebettelt!‘ Als er am dritten Tag wieder aus der Schule kam, bemerkte ich, daß sein Gesicht ganz entstellt und blaß aussah. ‚Was hast du denn?‘ fragte ich. Er schwieg. Na, im Zimmer konnte ich nicht gut mit ihm darüber reden, sonst hätten sich das Mamachen und die Mädchen ins Gespräch eingemischt; außerdem hatten die Mädchen schon längst alles erfahren, gleich am ersten Tag. Warwara Nikolajewna fing schon an zu brummen: ‚Ihr Possenreißer, ihr Hanswurste, Vernunft ist bei euch kein bißchen zu finden!‘ — ‚Ganz richtig, Warwara Nikolajewna‘, sagte ich, ‚Vernunft ist bei uns nicht zu finden!‘ Damit beendete ich diesmal das Gespräch. Am Abend nahm ich den Jungen mit zu einem Spaziergang. Sie müssen nämlich wissen, daß wir früher jeden Abend spazierengegangen sind, genau denselben Weg, den wir beide jetzt gehen, von unserem Pförtchen bis zu dem großen Stein, der dort neben dem Zaun am Weg liegt, da, wo die städtischen Weideplätze anfangen — eine hübsche, einsame Gegend. Ich ging also mit Iljuscha. Sein Händchen lag wie gewöhnlich in meiner Hand, er hat ein so winziges Händchen und so schmale, kalte Fingerchen, er ist ja brustleidend. ‚Papa‘, sagte er, ‚Papa!‘ — ‚Was denn?‘ fragte ich. Ich sah, daß seine Augen glänzten. ‚Papa, wie durfte er dir das damals tun?‘ — ‚Was soll man machen, Iljuscha!‘ sagte ich. — ‚Versöhne dich nicht mit ihm, Papa! Versöhn dich nicht mit ihm! Die Schüler sagen, er hat dir zehn Rubel gegeben?‘ — ‚Nein‘, sagte ich, ‚Geld werde ich von ihm unter keinen Umständen annehmen.‘ Da ging eine Erschütterung durch seinen ganzen Körper; er nahm meine Hand in seine kleinen Hände und küßte sie immer wieder. ‚Papa‘, sagte er, ‚Papa! Fordere ihn doch zum Duell! In der Schule necken sie mich und sagen, du seist ein Feigling und willst ihn nicht zum Duell fordern, weil du zehn Rubel von ihm nimmst.‘ — ‚Zum Duell kann ich ihn nicht fordern, Iljuscha‘, sagte ich und setzte ihm in Kürze alles auseinander, was ich Ihnen eben auseinandergesetzt habe. Er hörte mir zu. ‚Papa‘, sagte er dann, ‚Papa, versöhn dich trotzdem nicht mit ihm. Ich werde, wenn ich groß bin, ihn selber fordern und töten!‘ Seine Augen glühten. Nun, bei alledem bin ich doch sein Vater und mußte ihm ein Wort der Wahrheit sagen. ‚Es ist Sünde‘, sagte ich zu ihm, ‚einen Menschen zu töten, auch im Zweikampf.‘ — ‚Papa‘, sagte er, ‚Papa, ich werde ihn zu Boden werfen, wenn ich groß bin. Ich werde ihm seinen Säbel aus der Hand schlagen, mich auf ihn stürzen, ihn zu Boden werfen, mit dem Säbel ausholen und sagen: Ich könnte dich töten, aber ich verzeihe dir! Da hast du es!‘ — Sehen Sie, mein Herr, was für ein Denkprozeß während dieser zwei Tage in seinem kleinen Kopf vorgegangen war? Tag und Nacht hatte er nur an diese Rache mit dem Säbel gedacht und nachts gewiß davon geträumt. Seitdem ist er aus der Schule immer arg zugerichtet nach Hause gekommen, das habe ich alles erst vorgestern erfahren. Sie haben recht, ich werde ihn nicht mehr in diese Schule schicken. Ich hörte, daß er allein der ganzen Klasse gegenübersteht und alle herausfordert. Er muß sich in so eine Wut gesteigert haben, daß ihm geradezu das Herz in der Brust entbrannt ist. Ich bete aus Angst um ihn. Wir gingen wieder einmal spazieren. ‚Papa‘, fragte er, ‚Papa, die Reichen sind wohl die Stärksten auf der Welt?‘ — ‚Ja‘, sagte ich, ‚Iljuscha, nichts auf der Welt ist stärker als ein Reicher!‘ — ‚Papa‘, sagte er, ‚ich werde reich, ich werde Offizier und werde alle Feinde niederschlagen. Der Zar wird mich auszeichnen, ich werde wiederkommen, und dann wird es niemand wagen …‘ Er schwieg ein Weilchen, dann sagte er, die Lippen zuckten ihm noch immer wie vorher: ‚Papa‘, sagte er, ‚wie häßlich unsere Stadt doch ist, Papa!‘ — ‚Ja‘, sagte ich, ‚Iljuschetschka, unsere Stadt ist nicht sehr schön.‘ — ‚Papa, laß uns in eine andere Stadt ziehen, in eine schöne Stadt!‘ sagte er. ‚In eine Stadt, wo man nichts von uns weiß!‘ — ‚Wir werden umziehen‘, sagte ich. ‚Wir werden umziehen, Iljuscha! Ich spare nur erst Geld dafür …‘ Ich freute mich über die Gelegenheit, ihn von seinen trüben Gedanken abzulenken, und wir begannen uns beide auszumalen, wie wir in eine andere Stadt ziehen und uns dazu ein eigenes Pferdchen und ein eigenes Wägelchen kaufen. ‚Das Mamachen und die Schwestern‘, sagte ich, ‚setzen wir hinein und decken sie gut zu. Wir selbst laufen nebenher. Manchmal werde ich auch dich hineinsetzen, doch ich werde immer nebenher gehen, denn wir müssen doch unser Pferdchen schonen und können uns nicht alle hineinsetzen.‘ So wollten wir uns auf den Weg machen. Er war davon entzückt, besonders darüber, daß das Pferdchen ihm gehören und er selbst darauf reiten sollte. Es ist ja bekannt, daß ein russischer Junge sozusagen zusammen mit einem Pferdchen geboren wird … So plauderten wir lange. ‚Gott sei Dank!‘ dachte ich. ‚Ich habe ihn ein bißchen zerstreut und getröstet.‘ Das war vorgestern abend. Gestern abend jedoch zeigte sich ein ganz anderes Bild. Er war am Morgen wieder in diese Schule gegangen und mit finsterer Miene zurückgekehrt, mit sehr finsterer Miene. Am Abend nahm ich ihn bei der Hand und ging mit ihm spazieren. Er schwieg, redete kein Wort. Es hatte sich ein Wind erhoben, die Sonne war dunkel geworden, es war richtig herbstlich und dämmerte schon — wir gingen, und uns beiden war traurig zumute. ‚Na, mein Junge‘, sagte ich, ‚wie werden wir uns denn auf die Reise machen?‘ Ich wollte ihn wieder auf das Gespräch vom vorigen Tag bringen. Er schwieg. Ich fühlte nur, wie seine Finger in meiner Hand zuckten. ‚O weh‘, dachte ich, ‚das ist schlimm, da gibt es etwas Neues!‘ Wir kamen, wie jetzt, an diesen Stein. Ich setzte mich darauf, am Himmel schwebten eine Menge Drachen, die die Kinder steigen ließen, sie rauschten und knatterten, man konnte an die dreißig Drachen sehen. Es ist ja jetzt die richtige Jahreszeit, um Drachen steigen zu lassen. Weißt du, Iljuscha, sagte ich, jetzt sollten auch wir den Drachen vom vorigen Jahr steigen lassen. Ich werde ihn ausbessern, wo hast du ihn verwahrt? Mein Junge schwieg und blickte zur Seite und wandte sich von mir ab. Da heulte der Wind auf einmal los, der Sand flog wirbelnd in die Höhe. Der Junge stürzte plötzlich zu mir, umschlang mit beiden Ärmchen meinen Hals und drängte sich an mich. Wissen Sie, schweigsame, stolze Kinder halten ihre Tränen oft lange zurück, doch wenn sie vor großem Kummer einmal weinen müssen, dann strömen die Tränen wie Bäche. Mit solchen Tränenbächen benetzte er mir das ganze Gesicht. Er schluchzte krampfhaft, bebte am ganzen Körper und drückte mich an sich; ich saß auf dem Stein. ‚Papachen‘, rief er, ‚Papachen, liebes Papachen, wie hat er dich erniedrigt!‘ Da fing ich auch an zu schluchzen, wir saßen beide und hielten uns umschlungen. ‚Papachen‘, sagte er, ‚Papachen!‘ — ‚Iljuscha‘, sagte ich zu ihm, ‚Iljuschetschka!‘ Niemand hat uns damals gesehen, nur Gott, vielleicht hat er es in mein Konto eingetragen … Bestellen Sie Ihrem Bruder meinen Dank, Alexej Fjodorowitsch! Nein, ich werde meinen Jungen nicht zu Ihrer Genugtuung verprügeln!“

Er hatte boshaft und närrisch wie vorhin geendet. Doch Aljoscha fühlte, daß der Stabskapitän bereits Vertrauen zu ihm gefaßt hatte, daß er einem anderen gegenüber nicht so aus sich herausgegangen wäre und ihm nicht das mitgeteilt hätte, was er ihm soeben mitgeteilt hatte.

Dieser Gedanke ermutigte Aljoscha, der zutiefst erschüttert war.

„Wie gern möchte ich mich mit Ihrem Jungen aussöhnen!“ rief er. „Wenn Sie das zuwege brächten?“

„Sehr wohl“, murmelte der Stabskapitän.

„Aber jetzt von etwas ganz anderem, hören Sie mich an!“ fuhr Aljoscha eifrig fort. „Hören Sie mich an! Ich habe einen Auftrag an Sie. Mein Bruder, dieser Dmitri, hat auch seine Braut beleidigt, ein sehr edeldenkendes Mädchen, von dem Sie sicher schon gehört haben. Ich habe ein Recht, vor Ihnen von der ihr angetanen Beleidigung zu reden, und ich muß es sogar tun. Denn als sie von der Ihnen zugefügten Beleidigung hörte und von Ihrer unglücklichen Lage erfuhr, hat sie mich sogleich beauftragt, Ihnen diese … Beihilfe von ihr zu überbringen … Aber nur von ihr allein, nicht von Dmitri, der auch sie gekränkt und im Stich gelassen hat. Von ihm nicht, auch nicht von mir, seinem Bruder, auch nicht von sonst jemandem, sondern von ihr, nur von ihr allein! Sie bittet Sie inständig, ihre Hilfe anzunehmen … Sie sind beide von demselben Menschen beleidigt worden. Sie hat sich Ihrer erst erinnert, als sie von ihm ebenso beleidigt worden war wie Sie, das heißt ebenso schwer. Eine Schwester kommt also ihrem Bruder zu Hilfe … Sie hat mich ausdrücklich beauftragt, ich soll Sie überreden, diese zweihundert Rubel von ihr anzunehmen wie von einer Schwester, weil sie weiß, daß Sie sich in Not befinden. Niemand wird etwas davon erfahren, es kann kein häßliches Gerede entstehen. Da sind die zweihundert Rubel, und ich bitte Sie, Sie müssen sie annehmen, sonst … sonst müßten ja alle Menschen auf der Welt einander feindlich gesinnt sein! Aber es gibt auch Brüder auf der Welt! Sie sind ein edler Mensch, Sie müssen das einfach verstehen! Ja, das müssen Sie!“

Und Aljoscha hielt ihm zwei neue, regenbogenfarbene Hundertrubelscheine hin. Sie standen in diesem Augenblick gerade an dem großen Stein am Zaun, und ringsrum war niemand zu sehen.

Die Banknoten schienen auf den Stabskapitän einen gewaltigen Eindruck zu machen. Er fuhr zusammen, zunächst aber offenbar nur vor Erstaunen; er hatte dergleichen auch nicht im entferntesten geahnt und so einen Ausgang des Gesprächs ganz und gar nicht erwartet. Hilfe von jemand, und noch dazu eine so beträchtliche Hilfe — der Gedanke war ihm nicht einmal im Traum gekommen. Er nahm die Geldscheine und konnte fast eine Minute nicht antworten. Sein Gesicht bekam einen ganz neuen Ausdruck.

„Das soll für mich sein? Für mich? So viel Geld, zweihundert Rubel! O Gott! Seit vier Jahren habe ich so eine Geldsumme nicht mehr gesehen, mein Gott! Und sie sagt, sie ist eine Schwester? … Und das soll wahr sein, wirklich wahr?“

„Ich schwöre Ihnen, daß alles, was ich Ihnen gesagt habe, wahr ist!“ rief Aljoscha.

Der Stabskapitän errötete. „Hören Sie mal, mein Täubchen, hören Sie mal. Wenn ich das annehme, bin ich dann auch kein Schuft? Bin ich in Ihren Augen dann auch kein Schuft, Alexej Fjodorowitsch? Nein, hören Sie, Alexej Fjodorowitsch, hören Sie“, fuhr er hastig fort und berührte Aljoscha mit beiden Händen. „Sie wollen mich dadurch überreden, daß es ‚eine Schwester‘ schickt. Aber werden Sie mich auch nicht im stillen verachten, wenn ich es annehme? Wie?“

„Aber nein doch, nein! Bei meinem Seelenheil schwöre ich Ihnen, daß ich das nicht tun werde! Und niemand wird je etwas davon erfahren. Nur ich weiß es und Sie und die Spenderin. Und noch eine Dame, eine gute Freundin von ihr …“

„Was kümmert mich die Dame! Hören Sie, Alexej Fjodorowitsch, hören Sie mich an! Jetzt ist der Augenblick gekommen, wo Sie mich anhören müssen, denn Sie können sich keinen Begriff machen, was diese zweihundert Rubel jetzt für mich bedeuten“, fuhr der Mensch fort und geriet allmählich in eine maßlose Verzückung. Er war wie von Sinnen und redete hastig, als befürchtete er, man würde ihn nicht zu Ende sprechen lassen.

„Abgesehen davon, daß ich dieses Geld ehrlich erworben hätte, von einer geachteten, gottesfürchtigen ‚Schwester‘ — wissen Sie auch, daß ich das Mamachen und Ninotschka, meinen verwachsenen Engel, mein Töchterchen, jetzt gesund machen kann? Doktor Herzenstube kam vor einiger Zeit und untersuchte sie beide eine ganze Stunde lang. ‚Ich verstehe nichts‘, sagte er dann. Jedoch werde dem Mamachen gewiß ein Mineralwasser helfen, das in der hiesigen Apotheke zu haben ist (er verschrieb es ihr). Fußbäder aus gewissen Arzneien verschrieb er ihr ebenfalls. Das Mineralwasser kostet dreißig Kopeken der Krug, und man muß vielleicht vierzig Krüge trinken. So nahm ich denn das Rezept und legte es auf das Wandbrett unter die Heiligenbilder, und da liegt es noch. Und für Ninotschka verordnete er heiße Wannenbäder mit irgendeiner Lösung, täglich morgens und abends. Aber wie können wir so eine Kur bei uns bewerkstelligen, in unserer Stube, ohne Bedienung, ohne Wanne und ohne solches Wasser? Ninotschka leidet sehr an Rheumatismus, ich habe Ihnen das noch nicht gesagt. Nachts tut ihr die ganze rechte Seite weh, sie hat schreckliche Schmerzen, aber — können Sie es glauben? Dieser Engel Gottes nimmt alle Kraft zusammen, um uns nicht zu stören! Sie stöhnt nicht, um uns nicht aufzuwecken. Wir essen, was wir bekommen können, was wir gerade haben, und sie nimmt sich das allerschlechteste Stück, das man eigentlich nur einem Hund vorwerfen kann! Ich bin diesen Bissen nicht wert, ich nehme ihn euch weg, ich bin nur eine Last für euch — das ist es, was ihr Engelsblick ausdrückt. Wir bedienen sie, ihr aber ist das peinlich. ‚Ich bin das nicht wert‘, sagt sie. ‚Ich bin das nicht wert. Ich bin ein unwürdiger, nutzloser Krüppel!‘ Aber sie sollte das nicht wert sein, wo sie doch in ihrer engelhaften Sanftmut mit ihrem Gebet bei Gott für uns alle eintritt? Ohne sie, ohne ihr stilles Wort wäre bei uns die Hölle, sogar auf Warja hat sie einen mildernden Einfluß ausgeübt. Und was nun Warwara Nikolajewna betrifft, so dürfen Sie auch sie nicht verdammen. Auch sie ist ein Engel, auch ihr ist Unrecht widerfahren. Sie kam im Sommer zu uns und brachte sechzehn Rubel mit, die sie sich durch Stundengeben verdient hatte. Sie hob sich das Geld für die Rückreise auf, um damit im September, das heißt jetzt, nach Petersburg zurückzufahren. Aber wir nahmen ihr Geld und verbrauchten es zum Leben, und sie besitzt jetzt keine Mittel zur Rückreise — ja, so ist das! Und sie kann auch deshalb nicht fahren, weil sie wie eine Zuchthäuslerin für uns arbeitet. Wir haben sie wie einen Karrengaul eingespannt, allen wartet sie auf, flickt, wäscht, fegt aus, legt das Mamachen ins Bett, denn das Mamachen ist launisch, das Mamachen ist weinerlich, das Mamachen ist irrsinnig! Da kann ich jetzt für diese zweihundert Rubel eine Hilfskraft mieten, verstehen Sie wohl, Alexej Fjodorowitsch? Ich kann die Heilung dieser lieben Wesen in Angriff nehmen. Ich kann meine Studentin nach Petersburg zurückschicken, kann Rindfleisch kaufen und eine neue Kost einführen. O Gott, das ist wohl nur ein schöner Traum!“

Aljoscha war erfreut, daß er so viel Glück bereitet hatte, daß der Mensch eingewilligt hatte, sich beglücken zu lassen.

„Warten Sie noch, Alexej Fjodorowitsch! Warten Sie noch!“ rief der Stabskapitän. Wieder griff er nach einer neuen Idee, die ihm plötzlich eingegeben worden war, wieder begann er wie verzückt schnell und hastig zu reden. „Wissen Sie auch, daß wir, ich und Iljuschka, jetzt womöglich unseren phantastischen Plan verwirklichen werden? Wir kaufen ein Pferdchen und einen Reisewagen, das Pferd muß ein Rappe sein, er hat ausdrücklich verlangt, es müßte ein Rappe sein. Und dann machen wir uns auf den Weg, wie wir uns das vorgestern ausgemalt haben. Im Gouvernement K. wohnt ein Bekannter von mir, ein Jugendfreund. Durch einen zuverlässigen Menschen habe ich erfahren, er würde mir bei sich die Stelle eines Bürovorstehers geben — wer weiß, vielleicht tut er es wirklich? Na, da setze ich dann das Mamachen und Ninotschka auf den Wagen, Iljuschetschka lasse ich kutschieren, und ich selbst gehe zu Fuß: so bewerkstellige ich unseren Umzug … O Gott, wenn ich nur die eine kleine Summe zurückerhalten könnte, die ich hier jemandem geliehen habe und für verloren ansehen muß! Dann würde es vielleicht auch dazu reichen?“

„Es wird reichen, es wird reichen!“ rief Aljoscha. „Katerina Iwanowna wird Ihnen noch mehr geben. Soviel Sie brauchen. Und wissen Sie, ich habe auch etwas Geld — nehmen Sie, soviel Sie brauchen! Betrachten Sie mich als Ihren Bruder, als Ihren Freund! Sie können es mir später wiedergeben, denn sie werden reich werden, ja reich werden! Und wissen Sie, Sie konnten sich gar nichts Besseres ausdenken als diesen Umzug in ein anderes Gouvernement! Das ist Ihre Rettung, und vor allem die Rettung Ihres Sohnes! Und wissen Sie, führen Sie den Plan recht bald aus, noch vor dem Winter, ehe es kalt wird! Und dann schreiben Sie uns von dort, und wir wollen Brüder bleiben! Nein, das ist keine Träumerei!“

Aljoscha wollte ihn schon umarmen, so zufrieden war er. Doch als er ihn ansah, zögerte er plötzlich. Der Stabskapitän,

stand da mit gestrecktem Hals, vorgeschobenen Lippen und entstelltem, blassem Gesicht und bewegte die Lippen, als ob er etwas sagen wollte. Es war aber kein Laut zu hören, er bewegte nur die Lippen. Es war ein seltsamer Anblick.

„Was haben Sie?“ fragte Aljoscha erschrocken.

„Alexej Fjodorowitsch, ich … Sie … „, murmelte der Stabskapitän stockend und starrte ihn sonderbar wild an. Seine Miene war die eines Menschen, der sich entschlossen hat, von einem Berg hinabzustürzen, gleichzeitig aber lag auf seinen Lippen eine Art von Lächeln. „Ich … Sie … Wenn es Ihnen recht ist, werde ich Ihnen jetzt ein kleines Kunststück vormachen!“ flüsterte er plötzlich schnell — diesmal fest und ohne zu stocken.

„Was denn für ein Kunststück?“

„Ein kleines Kunststück, so einen Hokuspokus“, antwortete der Stabskapitän immer noch flüsternd. Sein Mund hatte sich ganz nach links gezogen, das linke Auge war zugekniffen: So sah er Aljoscha unverwandt an, als ob seine Blicke an ihm festgenagelt wären.

„Was haben Sie bloß? Und von was für einem Kunststück reden Sie?“ rief Aljoscha, nunmehr tief beunruhigt.

„Da haben Sie es, sehen Sie her!“ kreischte der Stabskapitän auf einmal.

Er zeigte ihm die beiden regenbogenfarbenen Banknoten, die er während des ganzen Gesprächs an einer Ecke zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand gehalten hatte, zerknitterte sie plötzlich, in einem Anfall von Wut und preßte sie in der rechten Faust zusammen.

„Haben Sie es gesehen, haben Sie es gesehen?“ schrie er blaß und außer sich. Dann hob er die Faust und schleuderte die zusammengeknüllten Banknoten mit vollem Schwung in den Sand. „Haben Sie es gesehen?“ kreischte er wieder und zeigte mit dem Finger auf sie. „Nun, dann sehen Sie weiter!“

Da hob er den rechten Fuß und begann in blinder Wut mit dem Absatz darauf zu stampfen, und bei jedem Fußtritt schrie und keuchte er.

„Da haben Sie Ihr Geld! Da haben Sie Ihr Geld! Da haben Sie Ihr Geld. Da haben Sie Ihr Geld!“

Dann sprang er zurück und richtete sich vor Aljoscha auf; in seiner ganzen Haltung drückte sich ein unbeschreiblicher Stolz aus.

„Melden Sie denen, die Sie geschickt haben, der Bastwisch verkauft seine Ehre nicht!“ kreischte er, die Arme in die Luft gereckt.

Dann drehte er sich rasch um und lief weg. Doch er war noch keine fünf Schritte gelaufen, da drehte er sich noch einmal um und warf Aljoscha eine Kußhand zu. Dann, nachdem er abermals kaum fünf Schritte gelaufen war, drehte er sich zum letztenmal um; diesmal zeigte sein Gesicht kein schiefes Lächeln mehr, es zuckte unter Tränen. Weinend rief er hastig mit stockender, fast versagender Stimme: „Was sollte ich denn meinem Jungen sagen, wenn ich von Ihnen Geld für unsere Schande angenommen hätte?“ Nach diesen Worten lief er weg, ohne gleich nochmals umzudrehen.

Aljoscha sah ihm zutiefst betrübt nach. Er begriff, daß der Stabskapitän bis zum letzten Augenblick selbst nicht gewußt hatte, daß er die Geldscheine zerknüllen und auf die Erde schleudern würde. Er wandte sich kein einziges Mal mehr um, und Aljoscha wußte, er würde es auch nicht mehr tun. Ihm folgen oder ihm etwas nachrufen wollte er nicht: er wußte, warum. Doch als der Stabskapitän außer Sichtweite war, hob Aljoscha die Banknoten auf. Sie waren nur stark zusammengeknüllt und in den Sand getreten, sonst aber vollständig heil geblieben und knisterten sogar wie neu, als Aljoscha sie auseinanderfaltete und glattstrich. Nachdem er das getan hatte, legte er sie zusammen, steckte sie in die Tasche und ging zu Katerina Iwanowna, um ihr über den Erfolg ihres Auftrags zu berichten.