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6. Überspanntheit in der ärmlichen Wohnung

Er empfand wirklich einen ernsten Kummer, wie er ihn bisher selten durchgemacht hatte. Er hatte vor Übereifer eine Dummheit gemacht, und auf welchem Gebiet? In Liebesdingen! ‚Aber was verstehe ich denn davon? Kenne ich mich in solchen Sachen überhaupt aus?‘ fragte er sich zum hundertsten Male. ‚Die Scham ist dabei das Wenigste, die Scham ist nur meine verdiente Strafe! Das Schlimme ist, daß ich jetzt unweigerlich die Ursache eines neuen Unglücks sein werde … Der Starez hat mich ausgesandt, damit ich versöhne und vereine. Versöhnt man so?‘ Da fiel ihm plötzlich wieder ein, wie er die Hände der beiden hatte vereinigen wollen, und wieder schämte er sich furchtbar. ‚Ich habe das alles zwar in bester Absicht getan, aber ich muß künftig klüger sein!‘ war seine Schlußfolgerung, und er lächelte nicht einmal über sie.

Katerina Iwanownas Auftrag führte ihn in die Osjornajastraße. Sein Bruder Dmitri wohnte am Weg, nicht weit von dieser Straße in einer Seitengasse. Aljoscha beschloß, bei ihm vorbeizugehen, bevor er den Stabskapitän aufsuchte, obgleich er ahnte daß er den Bruder nicht antreffen würde. Er vermutete, daß sich dieser wohl absichtlich vor ihm verstecken würde, doch mußte er ihn um jeden Preis ausfindig machen. Die Zeit verstrich; der Gedanke an den sterbenden Starez hatte ihn seit dem Augenblick, da er aus dem Kloster gegangen war, nicht eine Sekunde verlassen.

In dem Auftrag Katerina Iwanownas gab es ein Moment, das auch ihn außerordentlich interessierte. Als sie den Schulknaben erwähnte, den Sohn des Stabskapitäns, der laut weinend neben dem Vater hergelaufen sei, hatte er gleich denken müssen, dieser Schüler könnte derselbe sein, der ihn vorhin in den Finger gebissen hatte, als er, Aljoscha, ihn fragte, was er ihm denn getan habe. Jetzt war Aljoscha, ohne zu wissen warum, davon beinahe schon überzeugt. Diese nebensächlichen Überlegungen lenkten ihn etwas ab, und er nahm sich vor, nicht mehr an das von ihm angerichtete „Unglück“ zu denken und sich nicht mehr mit Reue zu quälen, sondern zu tun, was ihm aufgetragen war, dann mochte geschehen, was geschehen mußte.

Bei diesem Gedanken wurde er endgültig wieder guten Mutes. Und als er in die Seitengasse zu seinem Bruder Dmitri einbog und Hunger verspürte, zog er das Weißbrot aus der Tasche, das er von seinem Vater mitgenommen hatte, und aß es im Gehen. Das stärkte seine Kräfte.

Dmitri traf er nicht zu Hause an. Die Besitzer des Häuschens, ein alter Tischler, sein Sohn und seine alte Frau, sahen Aljoscha mißtrauisch an. „Es ist schon der dritte Tag, daß er die Nacht nicht hier verbracht hat, vielleicht ist er verreist“, antwortete der Alte auf Aljoschas dringliche Fragen. Aljoscha merkte, daß er seine Antworten nach einer Instruktion erteilte. Als er fragte: „Ist er bei Gruschenka, oder hat er sich vielleicht wieder bei Foma versteckt?“ und dabei absichtlich seine Kenntnis der intimen Verhältnisse bewies, blickten ihn die Wirtsleute ganz erschrocken an. ‚Also haben sie ihn gern und stehen auf seiner Seite‘, dachte Aljoscha. ‚Das ist gut!‘

Endlich fand er in der Osjornajastraße das Haus der Kleinbürgerin Kalmykowa, ein baufälliges, schiefgesunkenes Häuschen mit nur drei Fenstern zur Straße und mit einem schmutzigen Hof, auf dem einsam eine Kuh stand. Der Eingang in den Flur war vom Hof aus; links vom Flur wohnte die alte Wirtin mit ihrer ebenfalls schon bejahrten Tochter, beide schienen taub zu sein. Auf Aljoschas mehrmalige Frage nach dem Stabskapitän deutete eine von ihnen, endlich begreifend, daß er nach den Mietern fragte, mit dem Finger auf die Tür zur vermieteten „guten Stube“. Die Wohnung des Stabskapitäns bestand tatsächlich nur aus einer einzigen Stube. Aljoscha wollte schon nach der eisernen Klinke greifen, um die Tür zu öffnen, als ihn die auffallende Stille hinter der Tür stutzig machte. Er wußte jedoch von Katerina Iwanowna, daß der verabschiedete Stabskapitän Familie hatte, und sagte sich: ‚Entweder schlafen sie alle, oder sie haben gehört, daß ich gekommen bin, und warten darauf, daß ich eintrete? Ich will doch lieber erst anklopfen.‘ Und er klopfte an. Eine Antwort erfolgte, aber nicht sogleich, sondern etwa zehn Sekunden später.

„Wer ist da?“ rief jemand mit lauter und betont verärgerter Stimme.

Aljoscha öffnete nun und trat über die Schwelle. Er befand sich in einer Stube, die zwar ziemlich geräumig, doch übermäßig voll von Menschen und allerlei Hausrat war. Links stand ein großer russischer, Ofen. Von dem Ofen war durch das ganze Zimmer zum linken Fenster ein Strick gespannt, an dem diverse Lappen hingen. An den beiden Wänden links und rechts stand je ein Bett mit einer Strickdecke. Auf dem einen, dem linken, war ein kleiner Berg aus vier Baumwollkopfkissen aufgetürmt, von denen immer eines kleiner war als das andere. Auf dem anderen Bett lag nur ein sehr kleines Kopfkissen. In der vorderen Ecke war durch einen Vorhang oder vielmehr durch ein Laken ein kleiner Raum abgeteilt; dieses Laken war über einen quer über die Ecke gespannten Strick geworfen. Hinter diesem Vorhang befand sich noch ein Bett, das seitlich auf einer Bank und einem herangerückten Stuhl aufgeschlagen war. Ein einfacher viereckiger hölzerner Bauerntisch reichte von der anderen vorderen Ecke bis zum mittleren Fenster. Alle drei Fenster, jedes mit vier kleinen, grün angelaufenen Scheiben, waren sehr trüb und dazu dicht geschlossen, so daß es im Zimmer recht dumpfig und nicht besonders hell war. Auf dem Tisch stand eine Pfanne mit Spiegeleiresten, daneben lag ein halb aufgegessenes Stück Brot, und außerdem stand da noch eine Literflasche mit einem geringen, nur den Boden bedeckenden Rest „irdischer Seligkeit“. Links neben dem Bett, auf einem Stuhl, saß eine Frau in einem Kattunkleid, die wie eine Dame aussah. Sie war im Gesicht mager und gelb, ihre eingefallenen Wangen zeugten von ihrem schlechten Gesundheitszustand. Den stärksten Eindruck machte auf Aljoscha der Blick dieser armen Frau; er hatte etwas auffällig Fragendes und zugleich etwas sehr Hochmütiges an sich. Und die ganze Zeit, während sie nicht selbst sprach, weil Aljoscha ein Gespräch mit dem Hausherrn hatte, ließ sie ihre großen braunen Augen in derselben fragenden, hochmütigen Weise von einem zum anderen schweifen. Neben dieser Frau, am linken Fenster, stand ein junges Mädchen mit ziemlich unschönem Gesicht und rötlichem, dünnem Haar, ärmlich, aber sehr sauber gekleidet. Sie sah den eintretenden Aljoscha geringschätzig an. Rechts am Bett saß noch ein drittes weibliches Wesen, ein sehr bemitleidenswertes Geschöpf: ebenfalls ein junges Mädchen, etwa zwanzig Jahre alt, aber bucklig und an den Beinen gelähmt; sie waren, wie Aljoscha später hörte, verdorrt. Ihre Krücken standen neben ihr in der Ecke, zwischen dem Bett und der Wand. Die auffallend schönen, guten Augen des Mädchens schauten Aljoscha sanft und ruhig an. Am Tisch saß, mit dem Rest der Spiegeleier beschäftigt, ein Herr von etwa fünfundvierzig Jahren, klein und schwächlich, mager, mit rötlichem Haar und einem rötlichen, dünnen Bärtchen, das große Ähnlichkeit mit einem zerzausten Bastwisch hatte, dieser Vergleich und besonders das Wort „Bastwisch“ schossen Aljoscha gleich beim ersten Blick durch den Kopf. Offenbar war es dieser Mann gewesen, der durch die Tür gerufen hatte: „Wer ist da?“ Eine andere männliche Person war nicht im Zimmer. Bei Aljoschas Eintritt sprang er hastig von der Bank, auf der er saß, wischte sich eilig mit einer löchrigen Serviette den Mund und stürzte Aljoscha geradezu entgegen.

„Ein Mönch bittet um Geld für sein Kloster, da ist er an die Richtigen gekommen!“ sagte laut das Mädchen, das in der linken Ecke stand.

Doch der Mann, der auf Aljoscha zulief, drehte sich augenblicklich zu ihr um und antwortete mit erregter, fast versagender Stimme: „Nein, Warwara Nikolajewna, das stimmt nicht, da haben Sie falsch geraten! Gestatten Sie nun, daß ich meinerseits frage“, wandte er sich plötzlich wieder an Aljoscha, „Was hat Sie veranlaßt, hier in den Schoß der Familie einzudringen?“

Aljoscha blickte ihn aufmerksam an, er sah diesen Menschen zum erstenmal. Er hatte etwas Eckiges, Hastiges, Reizbares. Obgleich er augenscheinlich eben getrunken hatte, war er nicht betrunken. In seinem Gesicht war höchste Frechheit und gleichzeitig, das war das Seltsame, tiefste Feigheit ausgeprägt. Er sah aus wie ein Mensch, der sich lange Zeit untergeordnet und vieles erduldet hat, nun aber auf einmal aufspringt und sich zeigen will, oder noch besser, wie ein Mensch, der Lust hat, einen anderen zu schlagen, zugleich aber auch furchtbare Angst, der andere könnte ihn selbst schlagen. In seinen Worten und in dem Klang seiner ziemlich durchdringenden Stimme lag eine Art von närrischem Humor, der bald boshaft, bald schüchtern herauskam, den Ton nicht festzuhalten vermochte und dann plötzlich abbrach. Bei der Frage nach dem „Schoß der Familie“ zitterte er am ganzen Körper, riß die Augen auf und sprang so heftig auf Aljoscha los, daß dieser unwillkürlich einen Schritt zurücktrat. Bekleidet war er mit einem dunklen, vielfach geflickten und fleckigen abgetragenen Tuchmantel. Seine Hosen waren ungewöhnlich hell, wie sie kein Mensch mehr trug, kariert und aus sehr dünnem Stoff, sie waren sehr geknautscht und hatten sich infolgedessen nach oben geschoben, so daß es aussah, als ob er aus ihnen wie ein kleiner Junge herausgewachsen war.

„Ich bin Alexej Karamasow …“, setzte Aljoscha gerade an zu, antworten.

„Soviel begreife ich auch selber“, unterbrach ihn der Hausherr sofort in scharfem Ton. Er wollte damit zu verstehen geben, daß ihm auch ohne diese Mitteilung bekannt war, wen er vor sich hatte.

„Ich meinerseits bin der Stabskapitän Snegirjow. Es wäre mir aber doch angenehm zu erfahren, was Sie veranlaßt hat …“

„Ich bin nur so vorbeigekommen. Ich hätte gern ein paar Worte mit Ihnen gesprochen … Wenn Sie mir erlauben wollen …“

„In diesem Fall ist hier ein Stuhl. Belieben Sie, Platz zu nehmen! So wurde ja in den alten Lustspielen immer gesagt: Belieben Sie, Platz zu nehmen!“ Der Stabskapitän ergriff mit einer schnellen Bewegung einen freien Stuhl, einen einfachen Bauernstuhl, ganz aus Holz und ohne Bezug, und stellte ihn beinahe in die Mitte des Zimmers. Dann ergriff er einen zweiten solchen Stuhl für sich und setzte sich Aljoscha gegenüber. Angesicht in Angesicht und so nahe, daß sich ihre Knie beinahe berührten.

„Nikolai Iljitsch Snegirjow, ehemals Stabskapitän der russischen Infanterie, zwar durch meine Laster entehrt, aber doch Stabskapitän. Wodurch konnte meine Person so viel Interesse erwecken? Ich lebe in Verhältnissen, die den Empfang von Gästen unmöglich machen.“

„Ich bin in jener gewissen Angelegenheit gekommen …“

„In welcher … gewissen Angelegenheit?“ unterbrach ihn der Stabskapitän ungeduldig.

„Wegen des Zusammenstoßes, den Sie mit meinem Bruder Dmitri Fjodorowitsch hatten“, erwiderte Aljoscha ungeschickt.

„Was meinen Sie? Doch nicht etwa die Sache mit dem Bastwisch, wie?“

Er rückte plötzlich so nahe, daß er nun wirklich mit seinen Knien an Aljoschas Knie stieß. Seine Lippen preßten sich eigentümlich zusammen, so daß sie nur einen schmalen Strich bildeten.

„Mit welchem Bastwisch?“ murmelte Aljoscha.

„Er ist gekommen, um sich über mich zu beschweren, Papa!“ rief eine Stimme, die Aljoscha bereits kannte, hinter dem Vorhang aus der Ecke. Es war die Stimme des Schulknaben von vorhin. Ich habe ihn heute nämlich in den Finger gebissen.“

Der Vorhang wurde zur Seite geschoben, und Aljoscha erblickte in der Ecke unter den Ikonen, auf einem Bettchen, das auf einer Bank und auf einem Stuhl zurechtgemacht war, seinen Gegner von vorhin. Der Bursche lag da, mit seinem zu kleinen Mantel und einer alten wattierten Decke zugedeckt. Er war offensichtlich krank und hatte, nach seinen brennenden Augen zu urteilen, starkes Fieber. Anders als bei der früheren Begegnung sah er Aljoscha jetzt furchtlos an, wie wenn er sagen wollte: ‚Hier zu Hause kannst du mir nichts tun!‘

„Was heißt das — in den Finger gebissen?“ rief der Stabskapitän und machte Anstalten, von seinem Stuhl aufzuspringen. „Hat er Sie in den Finger gebissen?“

„Ja, das hat er getan. Er und andere Jungen haben sich heute auf der Straße mit Steinen beworfen, und zwar sechs gegen ihn allein. Ich wollte zu ihm gehen, aber er warf auch nach mir mit einem Stein und mit einem anderen sogar nach meinem Kopf. Ich fragte ihn, was ich ihm getan hätte, da stürzte er sich plötzlich auf mich und biß mich schmerzhaft in den Finger — warum, weiß ich nicht!“

„Sofort werde ich ihn verprügeln! Augenblicklich werde ich ihn verprügeln!“ rief der Stabskapitän und sprang nun wirklich von seinem Stuhl auf.

„Aber ich beschwere mich ja gar nicht, ich habe nur den Hergang erzählt. Ich möchte überhaupt nicht, daß Sie ihn verprügeln. Er scheint ja auch krank zu sein …“

„Haben Sie wirklich gedacht, ich würde ihn verprügeln? Ich würde Iljuschetschka nehmen und ihn in Ihrer Gegenwart zu Ihrer Genugtuung verprügeln? Haben Sie es denn so eilig?“ sagte der Stabskapitän und wandte sich mit einer Bewegung, als wollte er sich auf ihn stürzen, an Aljoscha. „Es tut mir leid um Ihren Finger, mein Herr. Aber soll ich mir nicht, statt Iljuschetschka durchzuhauen, vor Ihren Augen zu Ihrer Genugtuung vier von meinen Fingern mit diesem Messer abschneiden? Vier Finger werden Ihnen zur Befriedigung Ihres Rachedurstes genügen, glaube ich, den fünften verlangen Sie doch wohl nicht?“

Er hielt plötzlich inne, offenbar aus Luftmangel. Jeder Muskel seines Gesichts bebte und zuckte, sein Blick hatte etwas Herausforderndes. Er schien außer sich zu sein.

„Ich glaube jetzt alles zu verstehen“, antwortete Aljoscha, der sitzen geblieben war, leise und traurig. „Ihr Sohn ist also ein braver Junge, der seinen Vater liebt. Er hat sich auf mich gestürzt, weil er wußte, daß ich der Bruder jenes Mannes bin, der Sie beleidigt hat. Das verstehe ich jetzt“, wiederholte er nachdenklich. „Aber mein Bruder Dmitri Fjodorowitsch bereut seine Tat, das weiß ich, und wenn es ihm nur möglich wäre, zu Ihnen zu kommen oder, noch besser, sich mit Ihnen nochmals an demselben Ort zu treffen, würde er Sie in Gegenwart aller um Verzeihung bitten … Wenn Sie es wünschen.“

„Also erst hat er mit den Bart ausgerissen und nachher um Entschuldigung gebeten? Dann kann er sagen, er habe alles erledigt und Genugtuung gegeben, nicht wahr?“

„O nein, im Gegenteil, er wird alles tun, was Sie wünschen und wie Sie es wünschen.“

„Also wenn ich Seine Erlaucht ersuchen würde, in demselben Restaurant, es heißt ‚Zur Residenz‘, oder auf dem Marktplatz vor mir auf die Knie zu fallen, würde er das tun?“

„Ja, er würde vor Ihnen auf die Knie fallen.“

„Ihre Worte haben mich tief ergriffen. Zu Tränen gerührt und tief ergriffen. Ich bin nur zu geneigt, die Großmut Ihres Bruders zu empfinden. Gestatten Sie aber, daß ich Ihnen nunmehr alle Anwesenden vorstelle. Hier meine Kinder, meine beiden Töchter und mein Sohn — mein Wurf. Wenn ich sterbe, wer wird sie dann lieben? Und solange ich noch lebe, wer wird mich Scheusal außer ihnen lieben? Es ist etwas Schönes und Großes um diese Einrichtung, die Gott da für jeden Menschen meiner Art getroffen hat. Denn auch einen Menschen meiner Art muß doch irgend jemand lieben …“

„Ja, das ist vollkommen richtig!“ rief Aljoscha.

„Hören Sie doch endlich auf, den Hanswurst zu spielen! Da kommt irgendein Dummkopf daher, und Sie entehren sich gleich!“ rief plötzlich das Mädchen am Fenster, dabei zeigte es seinem Vater eine Miene des Ekels und der Verachtung.

„Gedulden Sie sich noch ein wenig, Warwara Nikolajewna! Gestatten Sie, daß ich die einmal eingeschlagene Richtung beibehalte!“ rief ihr der Vater zu, und wenn sein Ton auch gebieterisch klang, sah er sie doch durchaus beifällig an. „Meine Tochter hat nun einmal so einen Charakter“, wandte er sich wieder an Aljoscha.

„Und nichts, was ihm gefallen hätte, gab's auf dem weiten Erdenrund …“

„Das heißt, man müßte es eigentlich weiblich sagen: ‚Nichts, was ihr gefallen hätte‘ … Aber jetzt gestatten Sie mir, Sie auch meiner Gemahlin vorzustellen. Hier — das ist Arina Petrowna, eine an den Füßen gelähmte Dame, dreiundvierzig Jahre alt, laufen kann sie zwar noch, aber nur wenig. Sie ist eine einfache Frau. Arina Petrowna, glätten Sie Ihre Gesichtszüge, hier — das ist Alexej Fjodorowitsch Karamasow. Stehen Sie auf, Alexej Fjodorowitsch!“ Er packte ihn am Arm und zog ihn plötzlich mit einer Kraft, die man ihm nicht zugetraut hätte, hoch. „Sie werden einer Dame vorgestellt, da müssen Sie doch aufstehen. Das ist nicht der Karamasow, Mamachen, der … und so weiter, sondern sein Bruder, der durch demütige Tugenden glänzt. Erlauben Sie, Arina Petrowna, erlauben Sie, Mamachen, daß ich Ihnen zunächst die Hand küsse.“ Und er küßte seiner Frau respektvoll, ja zärtlich die Hand; das hochmütig fragende Gesicht der Mutter wurde auf einmal außerordentlich freundlich. Das Mädchen am Fenster drehte der Szene empört den Rücken zu.

„Seien Sie willkommen, setzen Sie sich, Herr Karamasow, oder wie Sie sonst heißen. Setzen Sie sich doch, warum hat er Sie veranlaßt aufzustehen? Eine an den Füßen gelähmte Dame, sagt er. Ja, meine Füße sind geschwollen, wie Eimer, doch am übrigen Körper bin ich ganz dürr. Früher, da war ich wer weiß wie dick. Jetzt sehe ich aus, als ob ich eine Nadel verschluckt hätte …“

„Sie ist eine einfache Frau, eine einfache Frau“, flüsterte der Stabskapitän Aljoscha abermals zu.

„Papa!“ rief plötzlich das bucklige Mädchen, das bisher still auf seinem Stuhl gesessen hatte, und hielt sich das Taschentuch vor die Augen.

„So ein Possenreißer“, rief das Mädchen am Fenster heftig.

„Sehen Sie, was es bei uns für Neuigkeiten gibt“, sagte die Mutter, indem sie die Arme ausbreitete und auf ihre Töchter wies. „Es ist, wie wenn die Wolken ziehen; die Wolken ziehen vorüber, und es beginnt wieder unsere Musik. Früher, als wir noch beim Militär waren, kamen viele solche Gäste zu uns. Ich will damit keinen Vergleich der Verdienste anstellen, werter Herr. Wer einen liebt, den soll man wieder lieben. Damals kam die Frau des Diakonus zu mir und sagte: ‚Alexander Alexandrowitsch ist ein Mann von vortrefflichem Charakter, aber Nastasja Petrowna‘, sagte sie, ‚die ist ein Auswurf der Hölle.‘ — ‚Na‘, antwortete ich, ‚das kommt darauf an, wen man liebt und verehrt; du aber bist ein Häufchen, das zwar nur klein ist, aber arg stinkt.‘ — ‚Dich‘, sagte sie, ‚müßte man stramm im Zügel halten.‘ — ‚Ach du alte Schraube‘, sagte ich, ‚wen meinst du denn hier belehren zu können?‘ — ‚Ich‘, sagte sie ‚lasse frische Luft in mein Zimmer, du verdirbst die Luft.‘ — ‚Frag doch mal‘, antwortete ich, ‚alle Herren Offiziere, ob ich die Luft verderbe — oder vielmehr eine andere Person.‘ Und das liegt mir seitdem auf der Seele. Als ich nun neulich hier saß wie jetzt und denselben General eintreten sah, der schon zu Ostern gekommen war, da sagte ich zu ihm: ‚Wie ist das, Exzellenz, darf eine vornehme Dame frische Luft hereinlassen?‘ — ‚Ja‘, antwortete er, ‚bei Ihnen müßte die Luftklappe oder die Tür geöffnet werden; die Luft bei Ihnen ist nicht frisch …‘ Na, und so sind sie alle! Was sie nur mit meiner Luft haben? Leichen riechen doch noch schlechter. ‚Ich werde Ihre Luft nicht verderben, sagte ich, ‚sondern mir ein Paar Schuhe bestellen und gehen.‘ Um Gottes willen, meine Lieben, macht eurer Mutter keine Vorwürfe! Nikolai Iljitsch, Väterchen, habe ich etwas nicht recht gemacht? Meine ganze Freude ist ja, wenn Illuschetschka aus der Schule kommt und so lieb zu mir ist. Gestern hat er mir einen Apfel gebracht. Verzeiht um Gottes willen, meine Lieben, eurer Mutter! Verzeiht mir, der Vereinsamten, woher ist euch nur meine Luft so zuwider geworden?“

Die arme Irre begann plötzlich zu schluchzen, Tränen traten ihr in die Augen. Der Stabskapitän sprang eilig zu ihr.

„Mamachen, Mamachen, Täubchen, hör auf, hör auf! Du bist nicht vereinsamt. Alle lieben wir dich, alle verehren wir dich!“ Und er begann ihr wieder beide Hände zu küssen und ihr zärtlich das Gesicht zu streicheln; dann ergriff er die Serviette und machte sich daran, ihr die Tränen vom Gesicht wegzuwischen. Aljoscha glaubte sogar zu sehen, daß er selbst weinte. „Nun, haben Sie es gesehen? Haben Sie es gehört?“ wandte er sich auf einmal grimmig zu Aljoscha um und zeigte mit der Hand auf die Schwachsinnige.

„Ich sehe und höre“, murmelte Aljoscha.

„Papa! Willst du wirklich mit ihm … Laß ihn doch laufen, Papa!“ rief plötzlich der Sohn, richtete sich auf seinem Bett auf und sah den Vater mit brennenden Augen an.

„Hören Sie doch endlich auf, den Hanswurst zu spielen und Ihre dummen Faxen zu machen, die nie zu etwas Gutem führen!“ rief ihm die Tochter Warwara Nikolajewna zu; sie war wütend und stampfte sogar mit dem Fuß auf.

„Mit vollem Recht belieben Sie diesmal außer sich zu geraten, Warwara Nikolajewna, und ich werde Sie schnellstens zufriedenstellen. Setzen Sie Ihre Mütze auf, Alexej Fjodorowitsch, ich werde die meinige auch nehmen — und dann kommen Sie! Ich muß ein paar ernste Worte mit Ihnen reden, aber außerhalb dieser Wände. Das Mädchen, das da sitzt, ist meine Tochter Nina Nikolajewna, ich habe vergessen, sie Ihnen vorzustellen, ein Engel in Menschengestalt, der zu uns Sterblichen herabgeflogen ist … Wenn Sie das überhaupt verstehen können …“

„Er zittert ja am ganzen Leib, als ob er Krämpfe hat!“ fuhr Warwara Nikolajewna unwillig fort.

„Und die da, die jetzt vor Unwillen mit dem Fuß stampft und mich eben einen Hanswurst genannt hat, ist ebenfalls ein Engel Gottes in Menschengestalt, und sie hat mich mit Recht beschimpft … Gehen wir, Alexej Fjodorowitsch, wir müssen zu Ende kommen …“

Er nahm Aljoscha bei der Hand und führte ihn aus dem Zimmer auf die Straße.