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Fünfzehntes Kapitel

Ich erinnere mich, daß sie mir ganz starr ins Gesicht blickte, aber ohne sich vom Platz zu rühren und ohne auch nur ihre Körperhaltung zu ändern. „Ich habe zweihunderttausend Franc gewonnen!“ rief ich, indem ich die letzte Goldrolle aus der Tasche zog und hinwarf.

Der gewaltige Haufe von Banknoten und Goldrollen bedeckte den ganzen Tisch; ich vermochte meine Augen nicht mehr von ihm abzuwenden; in einzelnen Augenblicken hatte ich Polinas Anwesenheit völlig vergessen. Bald begann ich diese Haufen von Banknoten in Ordnung zu bringen und zusammenzupacken, das Gold zu einem einzigen Haufen zusammenzuschieben; bald ließ ich alles stehn und liegen und ging in Gedanken versunken mit schnellen Schritten im Zimmer auf und ab; dann trat ich plötzlich wieder an den Tisch und fing wieder an, das Geld zu zählen. Auf einmal stürzte ich, wie von einem plötzlichen Einfall erfaßt, nach der Tür und schloß sie schnell zu, wobei ich den Schlüssel zweimal umdrehte. Darauf blieb ich, da mir wieder ein neuer Gedanke gekommen war, vor meinem kleinen Koffer stehen.

„Soll ich es nicht bis morgen in den Koffer legen?“ fragte ich Polina; ich hatte mich erinnert, daß sie da war, und wandte mich nun hastig zu ihr.

Sie saß immer noch auf demselben Fleck da, ohne sich zu rühren, folgte aber unablässig mit den Augen meinen Bewegungen. Auf ihrem Gesicht lag ein eigenartiger Ausdruck, ein Ausdruck, der mir nicht gefiel! Ich irre mich nicht, wenn ich sage, daß es ein Ausdruck des Hasses war.

Ich trat schnell zu ihr hin.

„Polina, hier sind fünfundzwanzigtausend Gulden; das sind fünfzigtausend Franc, sogar mehr. Nehmen Sie sie, und werfen Sie sie ihm morgen ins Gesicht!“

Sie gab mir keine Antwort.

„Wenn Sie wollen, werde ich sie ihm selbst hinbringen, morgen früh. Ja?“

Sie lachte auf. Dieses Lachen dauerte lange.

Erstaunt und gekränkt sah ich sie an. Dieses Lachen hatte die größte Ähnlichkeit mit jenem spöttischen Gelächter über mich, in das sie in letzter Zeit häufig ausgebrochen war, und zwar immer gerade, wenn ich ihr in leidenschaftlicher Weise meine Liebe erklärt hatte. Endlich hörte sie auf und machte nun ein finsteres Gesicht; unter der gesenkten Stirn hervor warf sie mir einen ärgerlichen Blick zu.

„Ich nehme Ihr Geld nicht“, sagte sie verächtlich.

„Wie? Was bedeutet das?“ rief ich. „Warum nicht, Polina?“

„Ich lasse mir kein Geld schenken.“

„Ich biete es Ihnen als Freund an; ich biete Ihnen mein Leben an.“

Sie betrachtete mich mit einem langen, prüfenden Blick, als wollte sie mich durch und durch sehen.

„Sie geben einen zu hohen Preis“, sagte sie lächelnd. „De Grieux' Geliebte ist nicht fünfzigtausend Franc wert.“

„Polina, wie können Sie so zu mir reden!“ rief ich vorwurfsvoll. „Bin ich denn ein de Grieux?“

„Ich hasse Sie! Ja … ja … Ich liebe Sie nicht mehr als de Grieux!“ rief sie, und ihre Augen funkelten zornig auf. In diesem Augenblick schlug sie plötzlich die Hände vor das Gesicht und brach in ein krampfhaftes Weinen aus. Ich stürzte zu ihr hin.

Es mußte während meiner Abwesenheit etwas mit ihr vorgegangen sein. Sie war wie eine Irrsinnige.

„Kaufe mich! Willst du? Willst du? Für fünfzigtausend Franc wie de Grieux?“ stieß sie unter heftigem Schluchzen hervor.

Ich umarmte sie, küßte ihre Hände, ihre Füße, fiel vor ihr auf die Knie.

Der Weinkrampf war vorübergegangen. Sie legte beide Hände auf meine Schultern und betrachtete mich unverwandt; sie schien auf meinem Gesicht etwas lesen zu wollen. Sie hörte an, was ich sagte, aber offenbar ohne es zu verstehen. Ein Ausdruck von sorgenvollem Nachdenken zeigte sich auf ihrem Gesicht. Ich ängstigte mich um sie; ich hatte entschieden den Eindruck, daß sie von Irrsinn befallen wurde. Ganz unerwartet begann sie, mich leise an sich zu ziehen, und ein vertrauensvolles Lächeln breitete sich schon über ihr Gesicht; dann aber stieß sie mich plötzlich von sich und betrachtete mich wieder mit finsterer Miene. Auf einmal umarmte sie mich stürmisch.

„Du liebst mich doch, du liebst mich doch?“ sagte sie. „Du wolltest … du wolltest dich ja um meinetwillen mit dem Baron duellieren!“

Dann lachte sie auf, als hätte sie sich soeben an etwas Komisches und Hübsches erinnert. Sie weinte und lachte, alles zu gleicher Zeit. Was konnte ich tun! Ich befand mich selbst in einem fieberhaften Zustand. Ich erinnere mich, sie fing an, mir etwas zu sagen; aber ich konnte so gut wie nichts davon verstehen. Es war eine Art von Irrereden, eine Art von Gestammel, als wenn sie mir recht schnell etwas erzählen wollte; und dieses Gerede wurde ab und zu von einem sehr heiteren Lachen unterbrochen, das mich erschreckte. „Nein, nein, du Lieber, Guter!“ sagte sie einmal über das andere. „Du bist mir treu!“ Und von neuem legte sie mir ihre Hände auf die Schultern, von neuem schaute sie mich prüfend an und sagte immer wieder: „Du liebst mich, nicht wahr? … Du liebst mich … Und du wirst mich immer lieben?“ Ich konnte die Augen nicht von ihr abwenden; noch nie hatte ich sie in einem solchen Anfall von Zärtlichkeit und Liebe gesehen. Sie redete freilich wie im Fieber; aber als sie meinen leidenschaftlichen Blick bemerkte, lächelte sie schelmisch und fing ohne jeden äußeren Anlaß auf einmal an von Mister Astley zu sprechen.

Sie redete von ihm geraume Zeit ohne Unterbrechung und bemühte sich eine Weile besonders, mir etwas aus der jüngsten Vergangenheit zu erzählen; aber was es eigentlich war, das konnte ich nicht verstehen; sie schien sich sogar über ihn lustig zu machen; unaufhörlich wiederholte sie, daß er warte. „Weißt du wohl“, sagte sie, „er steht gewiß in diesem Augenblick unten vor dem Fenster. Ja, ja, unten vor dem Fenster. Mach doch einmal das Fenster auf und sieh zu; er ist gewiß da, er ist gewiß da!“ Sie wollte mich zum Fenster hindrängen; aber kaum machte ich eine Bewegung, um hinzugehen, als sie in ein Gelächter ausbrach. Ich blieb bei ihr stehen, und sie umarmte mich wieder leidenschaftlich. „Wir fahren doch fort? Wir fahren doch morgen fort?“ fragte sie unruhig, da ihr dieser Gedanke plötzlich in den Kopf gekommen war. „Ja …“ (sie überlegte) „ja, ob wir wohl die Tante noch einholen? Was meinst du? Ich denke mir, wir werden sie in Berlin einholen. Was meinst du, was wird sie sagen, wenn wir sie einholen und sie uns sieht? Und was wird Mister Astley sagen …? Na, der wird nicht vom Schlangenberg hinabspringen, was meinst du?“ (Sie kicherte.) „Hör mal zu: weißt du, wohin er im nächsten Sommer reisen wird? Er will zum Zwecke wissenschaftlicher Untersuchungen nach dem Nordpol fahren und hat mich eingeladen mitzukommen, hahaha! Er sagt, daß wir Russen ohne die Westeuropäer nichts verständen und nichts leisten könnten … Aber er ist ebenfalls ein guter Mensch! Weißt du, er entschuldigt die Handlungsweise des Generals; er sagt, daß Blanche … daß die Leidenschaft … na, ich weiß nicht mehr … ich weiß nicht mehr“, sagte sie ein paarmal hintereinander, wie wenn sie wirr geredet und den Faden verloren hätte. „Die Armen, wie leid sie mir tun; und auch die alte Tante tut mir leid … Na, hör mal, hör mal, wie willst du denn das anfangen, de Grieux zu töten? Hast du denn wirklich gedacht, daß es dazu kommen würde? Du Lieber, Dummer! Hast du denn glauben können, ich würde es zugeben, daß du dich mit de Grieux duelliertest? Und auch den Baron wirst du nicht töten“, fügte sie auflachend hinzu. „Ach, wie komisch du damals in der Szene mit dem Baron warst! Ich beobachtete euch beide von der Bank aus. Und wie ungern du damals hingingst, als ich dich schickte! Was habe ich damals gelacht, was habe ich damals gelacht!“ fügte sie kichernd hinzu.

Und dann küßte und umarmte sie mich wieder und schmiegte wieder leidenschaftlich und zärtlich ihr Gesicht an das meinige. Ich hatte jetzt keine Gedanken mehr und hörte nichts mehr; es war mir ganz schwindlig zumute.

Ich glaube, es war gegen sieben Uhr morgens, als ich erwachte; die Sonne schien ins Zimmer. Polina saß neben mir und blickte in sonderbarer Art und Weise rings um sich, als wäre sie eben erst aus einer dunklen Bewußtlosigkeit zu sich gekommen und nun bemüht, in ihre Erinnerungen Klarheit zu bringen. Sie war ebenfalls erst vor kurzem aufgewacht und blickte nun starr auf den Tisch und das Geld. Der Kopf war mir schwer und tat mir weh. Ich wollte Polinas Hand ergreifen; aber sie stieß mich zurück und sprang vom Sofa auf. Der beginnende Tag war trübe; es hatte vor Sonnenaufgang geregnet. Sie trat an das Fenster, öffnete es, bog den Kopf und den Oberkörper hinaus, stützte sich mit den Händen auf das Fensterbrett und lehnte die Ellbogen gegen den Rahmen; in dieser Stellung verharrte sie etwa drei Minuten lang, ohne sich zu mir umzuwenden und ohne zu hören, was ich zu ihr sagte. Voll Angst mußte ich denken: was wird jetzt geschehen, und wie wird das enden? Plötzlich richtete sie sich wieder auf und verließ das Fenster; sie trat an den Tisch, blickte mich mit einem Ausdruck grenzenlosen Hasses an und sagte mit Lippen, die vor Ingrimm bebten:

„Nun, dann gib mir jetzt meine fünfzigtausend Franc!“

„Polina, wie sprichst du wieder?“ begann ich.

„Oder hast du dich anders besonnen? Hahaha! Es ist dir vielleicht schon wieder leid geworden?“

Die fünfundzwanzigtausend Gulden, die ich schon gestern abgezählt hatte, lagen auf dem Tisch, ich nahm sie und reichte sie ihr hin.

„Also sie gehören jetzt mir? Es ist doch so? Nicht wahr?“ fragte sie mich ergrimmt, während sie das Geld in der Hand hielt.

„Sie haben dir schon immer gehört“, erwiderte ich.

„Nun dann also: da hast du deine fünfzigtausend Franc!“ Sie holte aus und schleuderte sie mir ins Gesicht, so daß mich der Wurf schmerzte. Dann fiel das Päckchen auseinanderblätternd auf den Fußboden. Nachdem sie das vollführt hatte, lief sie aus dem Zimmer.

Ich weiß, sie hatte in diesem Augenblick sicherlich nicht ihren vollen Verstand, obgleich ich mir diese zeitweilige Geistesstörung nicht recht erklären kann. Allerdings ist sie auch jetzt noch, das heißt einen Monat nach jenem Ereignis, krank. Aber was war die Ursache dieses Zustandes und namentlich eines so schroffen Benehmens? Beleidigter Stolz? Verzweiflung darüber, daß sie sich dazu entschlossen hatte, zu mir zu kommen? Machte ich ihr vielleicht den Eindruck, als triumphiere ich wegen meines Glückes und wolle mich im Grunde ebenso wie de Grieux durch ein Geschenk von fünfzigtausend Franc von ihr losmachen? Aber das traf doch in keiner Weise zu; das kann ich auf mein Gewissen sagen. Ich glaube, ihre Handlungsweise war zum Teil eine Folge ihres Hochmutes; ihr Hochmut veranlaßte sie, mir zu mißtrauen und mich zu beleidigen, obgleich sie sich über alles dies wohl selbst nicht ganz klar wurde. Wenn dem so ist, so habe ich für de Grieux gebüßt und bin vielleicht bestraft worden, ohne daß ich selbst eine sehr große Schuld gehabt hätte. Ich muß zugeben: sie befand sich bei diesem Besuch auf meinem Zimmer in einem fieberhaften Zustand, und ich erkannte diesen Zustand, berücksichtigte ihn aber nicht, wie ich gesollt hätte. Vielleicht ist es das, was sie mir jetzt nicht verzeihen kann? Ja, für heute mag das richtig sein; aber damals, damals? So arg war schließlich ihr krankhafter Fieberzustand doch nicht, daß sie gar nicht mehr gewußt hätte, was sie tat, als sie mit de Grieux' Brief zu mir kam. Nein, sie wußte, was sie tat.

Eilig und ohne Sorgfalt legte ich meine Banknoten und meinen ganzen Haufen Gold in das Bett, deckte dieses wieder zu und ging hinaus, etwa zehn Minuten nach Polina. Ich war überzeugt, daß sie nach ihrem Zimmer gelaufen sei, und wollte mich daher unauffällig nach dem Logis des Generals begeben und im Vorzimmer die Kinderfrau nach dem Befinden des Fräuleins fragen. Wie groß war mein Erstaunen, als ich von der Kinderfrau, die mir auf der Treppe begegnete, erfuhr, daß Polina noch nicht in die Wohnung zurückgekehrt sei, und daß sie, die Kinderfrau, auf dem Weg zu mir gewesen sei, um sie zu suchen.

„Sie ist eben erst“, sagte ich zu ihr, „eben erst von mir weggegangen, vor etwa zehn Minuten. Wo kann sie denn nur geblieben sein?“

Die Kinderfrau sah mich vorwurfsvoll an.

Unterdessen waren die einzelnen Tatsachen zu einer Skandalgeschichte zusammengefügt worden, die bereits im ganzen Hotel kursierte. In der Loge des Portiers und im Büro des Oberkellners flüsterte man sich zu, das Fräulein sei am Morgen, um sechs Uhr, im Regen aus dem Hotel gelaufen und habe die Richtung nach dem Hotel d'Angleterre eingeschlagen. Aus den Reden und Andeutungen des Hotelpersonals entnahm ich, daß bereits bekannt war, daß Polina die ganze Nacht in meinem Zimmer verbracht hatte. Auch über die ganze Familie des Generals wurde allerlei erzählt: man behauptete, der General habe am vorigen Tage den Verstand verloren und dermaßen geweint, daß man es durch das ganze Hotel habe hören können. Dazu wurde noch erzählt, die alte Dame, die angereist gekommen sei, wäre seine Mutter und wäre expreß aus Rußland hergekommen, um ihrem Sohn die Heirat mit Mademoiselle Cominges zu verbieten und ihm im Falle des Ungehorsams die Erbschaft zu entziehen, und da er ihr nun wirklich nicht gehorcht habe, so hätte die Gräfin vor seinen Augen absichtlich all ihr Geld im Roulett verspielt, damit er auf diese Weise nichts bekäme. „Diese Russen!“ wiederholte der Oberkellner mehrmals mit verwundertem, tadelndem Kopfschütteln. Die andern lachten. Der Oberkellner machte die Rechnung fertig. Auch mein Spielgewinn war schon allgemein bekannt; Karl, mein Zimmerkellner, war der erste, der mir Glück wünschte. Aber ich war nicht in der Stimmung, mich mit diesen Menschen abzugeben. Ich eilte nach dem Hotel d'Angleterre.

Es war noch früh am Tag; man sagte mir, Mister Astley nehme jetzt keinen Besuch an; als er jedoch hörte, daß ich es sei, kam er zu mir auf den Korridor heraus, blieb vor mir stehen, richtete schweigend seine zinnernen Augen auf mich und wartete, was ich ihm sagen würde. Ich fragte ihn nach Polina.

„Sie ist krank“, antwortete Mister Astley und fuhr fort, mich starr und unverwandt anzusehen.

„Also ist sie wirklich bei Ihnen?“

„O ja, sie ist bei mir.“

„Aber wie können Sie denn … Beabsichtigen Sie, sie bei sich zu behalten?“

„O ja, ich beabsichtige es.“

„Mister Astley, das wird eine sehr häßliche Nachrede zur Folge haben; das geht nicht. Außerdem ist sie ernstlich krank; Sie haben das vielleicht nicht bemerkt?“

„O ja, ich habe es bemerkt und habe Ihnen ja schon selbst gesagt, daß sie krank ist. Wenn sie nicht krank wäre, hätte sie nicht die Nacht bei Ihnen zugebracht.“

„Also wissen Sie auch das?“

„Ich weiß es. Sie kam gestern hierher, und ich wollte sie zu einer Verwandten von mir bringen; aber da sie eben krank war, beging sie den Fehler, zu Ihnen zu gehen.“

„Was Sie da sagen! Nun, ich wünsche Ihnen Glück, Mister Astley. Apropos, da bringen Sie mich auf einen Gedanken: haben Sie nicht die ganze Nacht bei uns unter dem Fenster gestanden? Miß Polina verlangte in der Nacht fortwährend von mir, ich sollte das Fenster aufmachen und nachsehen, ob Sie unten ständen. Sie hat gewaltig darüber gelacht.“

„Wirklich? Nein, unter dem Fenster habe ich nicht gestanden; aber ich wartete auf dem Korridor und ging um das Hotel herum.“

„Aber sie muß in ärztliche Behandlung kommen, Mister Astley.“

„O ja, ich habe schon nach einem Arzt geschickt, und wenn sie sterben sollte, so werden Sie mir Rechenschaft für ihren Tod geben.“

Ich war ganz erstaunt.

„Ich bitte Sie, Mister Astley“, sagte ich. „Was meinen Sie damit?“

„Ist das richtig, daß Sie gestern zweihunderttausend Taler im Spiel gewonnen haben?“

„Im ganzen nur hunderttausend Gulden.“

„Nun, sehen Sie! Fahren Sie also heute vormittag nach Paris!“

„Wozu?“

„Alle Russen, die Geld haben, fahren nach Paris“, erwiderte Mister Astley in einem Ton, als ob er diesen Satz aus einem Buch vorläse.

„Was soll ich jetzt im Sommer in Paris anfangen? Ich liebe sie, Mister Astley. Das wissen Sie selbst.“

„Wirklich? Ich bin überzeugt, daß das nicht der Fall ist. Außerdem werden Sie, wenn Sie hierbleiben, aller Wahrscheinlichkeit nach Ihren ganzen Gewinn wieder verlieren, und dann haben Sie kein Geld, um nach Paris zu fahren. Nun, leben Sie wohl; ich bin der festen Überzeugung, daß Sie heute nach Paris fahren werden.“

„Nun gut, leben Sie wohl; aber nach Paris werde ich nicht fahren. Denken Sie doch nur daran, Mister Astley, welches Schicksal jetzt bei uns der ganzen Familie bevorsteht! Der General ist, kurz gesagt … Und jetzt dieser Vorfall mit Miß Polina; diese Geschichte wird ja durch die ganze Stadt die Runde machen.“

„Ja, durch die ganze Stadt; aber der General kümmert sich meiner Ansicht nach nicht darum; der hat jetzt andere Gedanken. Außerdem hat Miß Polina ein volles Recht zu leben, wo es ihr beliebt. Diese Familie anlangend kann man wahrheitsgemäß sagen, daß sie nicht mehr existiert.“

Ich ging und amüsierte mich über den seltsamen Glauben dieses Engländers, daß ich nach Paris fahren würde. „Aber er will mich im Duell erschießen“, dachte ich, „wenn Mademoiselle Polina stirbt — das ist ja eine tolle Geschichte!“ Ich schwöre es, Polina tat mir leid; aber sonderbar: von diesem Augenblick an, wo ich gestern an den Spieltisch getreten war und angefangen hatte, Haufen Geldes zusammenzuscharren, von diesem Augenblick an war meine Liebe sozusagen in die zweite Reihe zurückgerückt. So spreche ich jetzt; aber damals hatte ich das alles noch nicht klar erkannt. Bin ich denn wirklich eine Spielernatur? Habe ich Polina wirklich nur in dieser sonderbaren Weise geliebt? Nein, ich liebe sie bis auf den heutigen Tag, das weiß Gott! Damals aber, als ich Mister Astley verlassen hatte und wieder nach Hause ging, empfand ich den bittersten Schmerz und machte mir schwere Vorwürfe. Aber … aber da passierte mir etwas sehr Seltsames, etwas sehr Dummes.

Ich war eiligen Ganges auf dem Wege nach dem Logis des Generals, als plötzlich nicht weit davon sich eine Tür öffnete und mich jemand rief. Es war Madame veuve Cominges, und sie rief mich im Auftrag der Mademoiselle Blanche. Ich ging hinein.

Sie hatten ein kleines Logis, nur aus zwei Zimmern bestehend. Aus dem Schlafzimmer hörte ich Mademoiselle Blanche lachen und laut reden. Sie schien eben aus dem Bett aufstehen zu wollen.

„Ah, c'est lui! Viens donc, bêta! Ist das wahr, que tu as gagné une montagne d'or et d'argent? J'aimerais mieux l'or.“

„Ja, ich habe gewonnen“, antwortete ich lachend.

„Wieviel?“

„Hunderttausend Gulden.“

„Bibi, comme tu es bête. Aber komm doch hier herein, ich verstehe nichts. Nous ferons bombance, n'est-ce pas?“

Ich ging zu ihr hinein. Sie lag lässig hingestreckt unter einer rosaseidenen Decke, aus der die bräunlichen, gesunden, wundervollen Schultern zum Vorschein kamen (Schultern, wie man sie sonst nur im Traume sieht), mangelhaft bedeckt von einem mit schneeweißen Spitzen besetzten Batisthemd, was zu ihrer bräunlichen Haut wundervoll paßte.

„Mon fils, as-tu du cœur?“ rief sie, sobald sie mich erblickte, und kicherte munter. Sie lachte immer sehr lustig, und sogar manchmal von Herzen.

„Tout autre …“, begann ich aus Corneille zu zitieren.

„Siehst du wohl, vois-tu“, fing sie an zu schwatzen, „zuerst such mir mal meine Strümpfe und hilf mir sie anziehen; und dann, si tu n'es pas trop bête, je te prends à Paris. Du weißt wohl, ich reise gleich ab.“

„Gleich?“

„In einer halben Stunde.“

Tatsächlich war alles gepackt. Alle Koffer und ihre übrigen Sachen standen bereit. Der Kaffee wartete schon lange auf dem Tisch.

„Eh bien, wenn du willst, tu verras Paris. Dis donc qu'est-ce que c'est qu'un outchitel? Tu étais bien bête, quand tu étais outchitel. Wo sind meine Strümpfe? Zieh sie mir an, mach!“ Sie streckte wirklich ein entzückendes, bräunliches, kleines Füßchen heraus, das nicht verunstaltet war wie fast alle jene Füßchen, die in den Modestiefelchen so zierlich aussehen. Ich lachte und machte mich daran, ihr den seidenen Strumpf anzuziehen. Mademoiselle Blanche saß unterdessen auf dem Bett und redete munter drauflos.

„Eh bien, que feras-tu, si je te prends avec? Zunächst, je veux cinquante mille francs. Die gibst du mir in Frankfurt. Nous allons à Paris; da leben wir zusammen, et je te ferai voir des étoiles en plein jour. Du wirst da Frauen kennenlernen, wie du sie noch nie gesehen hast. Hör mal …“

„Warte mal: also ich soll dir fünfzigtausend Franc geben; aber was behalte ich dann übrig?“

„Nun, hundertfünfzigtausend Franc; die hast du wohl vergessen? Und außerdem bin ich bereit, mit dir in deiner Wohnung zu wohnen, einen oder zwei Monate lang, que sais-je! In zwei Monaten werden wir natürlich die hundertfünfzigtausend Franc verbraucht haben. Siehst du wohl, je suis bonne enfant und sage es dir vorher: mais tu verras des étoiles.“

„Wie? Alles in zwei Monaten?“

„Erschreckt dich das? Ah, vil esclave! Weißt du wohl, daß ein einziger Monat eines solchen Lebens mehr wert ist als dein ganzes übriges Leben? Ein Monat — et après le déluge! Mais tu ne peux comprendre, va! Geh weg, geh weg, du bist mein Anerbieten nicht wert! Ah, que fais-tu?“

Ich zog ihr gerade den zweiten Strumpf an, konnte mich aber nicht enthalten, ihr Füßchen zu küssen. Sie riß es mir aus den Händen und stieß mich ein paarmal mit der Fußspitze ins Gesicht. Schließlich jagte sie mich hinaus.

„Eh bien, mon outchitel, je t'attends, si tu veux; in einer Viertelstunde fahre ich!“ rief sie mir nach.

Als ich wieder auf mein Zimmer gekommen war, war mir der Kopf ganz schwindlig. Nun, im Grunde war es doch nicht meine Schuld, daß Mademoiselle Polina mir ein ganzes Päckchen Banknoten ins Gesicht geworfen und mir noch gestern diesen Mister Astley vorgezogen hatte. Einige der beim Fallen auseinandergeflatterten Banknoten lagen noch auf dem Fußboden umher; ich hob sie auf. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und es erschien in eigener Person der Oberkellner, der früher gar keinen Blick für mich übrig gehabt hatte, und fragte an, ob es mir nicht gefällig wäre, in eine tiefer gelegene Etage überzusiedeln, etwa in das ausgezeichnete Logis, in dem eben erst der Graf B. gewohnt habe.

Ich stand einen Moment da und überlegte.

„Die Rechnung!“ rief ich. „Ich reise sogleich ab, in zehn Minuten.“ Und im stillen dachte ich: „Nach Paris, also doch nach Paris! Es muß wohl so im Buche des Schicksals geschrieben stehen!“

Eine Viertelstunde darauf saßen wir wirklich zu dreien auf der Bahn in einem Familienabteil: ich, Mademoiselle Blanche und Madame veuve Cominges. Mademoiselle Blanche lachte, so oft sie mich ansah, bis zu Tränen. Die veuve Cominges stimmte in dieses Gelächter ein. Ich kann nicht sagen, daß mir lustig zumute war. Mein Leben war in zwei Teile auseinandergebrochen; aber seit dem vorhergehenden Tag hatte ich mich schon daran gewöhnt, alles auf eine Karte zu setzen. Vielleicht ist es wirklich richtig, daß ich es nicht ertragen konnte, viel Geld zu besitzen, und davon schwindlig wurde. Peut-être, je ne demandais pas mieux. Es schien mir, daß für ein Weilchen (aber auch nur für ein Weilchen) in meinem Leben die Dekorationen wechselten. „Aber in einem Monat“, sagte ich mir, „werde ich wieder hier sein, und dann … und dann messen wir uns noch einmal miteinander, Mister Astley!“ Nein, wie ich mich jetzt recht gut entsinne, war mir auch damals sehr traurig zumute, obwohl ich mit dieser närrischen Blanche um die Wette lachte.

Aber es entging ihr trotzdem nicht, wie beschaffen meine wirkliche Stimmung war.

„Was ist dir denn? Wie dumm du bist! Oh, wie dumm du bist!“ rief sie, ihr Lachen unterbrechend, und begann mich in allem Ernst auszuschelten. „Nun ja, nun ja, ja, wir werden deine zweihunderttausend Franc verbrauchen; aber dafür tu seras heureux, comme un petit roi. Ich selbst werde dir deine Krawatte binden und dich mit Hortense bekannt machen. Und wenn wir all unser Geld verbraucht haben, dann fährst du wieder hierher und sprengst wieder die Bank. Was haben doch die Juden zu dir gesagt? Die Hauptsache ist Kühnheit, und die besitzt du, und du wirst mir noch öfter Geld nach Paris bringen. Quant à moi je veux cinquante mille francs de rente et alors …“

„Aber der General?“ fragte ich sie.

„Der General geht, wie du ja selbst weißt, jeden Tag um diese Zeit aus, um ein Bukett für mich zu kaufen. Für diesmal habe ich absichtlich verlangt, er solle suchen, gewisse besonders seltene Blumen für mich zu bekommen. Wenn der Ärmste dann nach Hause zurückkehrt, wird das Vögelchen ausgeflogen sein. Du wirst sehen: er wird uns nachfahren. Hahaha! Das wird mich sehr freuen. In Paris wird er mir gute Dienste leisten können. Hier wird Mister Astley für ihn bezahlen …“

So ging es zu, daß ich damals nach Paris fuhr.