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Neuntes Kapitel

Oben auf der breiten Plattform vor dem Portal des Hotels saß in einem Lehnstuhl, auf dem sie die Stufen hinangetragen war, umgeben von ihrer Dienerschaft und dem zahlreichen, diensteifrigen Hotelpersonal mit Einschluß des Oberkellners selbst, der herausgekommen war, um die hohe Besucherin zu begrüßen, die mit so viel Lärm und Geräusch, mit eigener Dienerschaft und mit einer solchen Unmenge von Koffern und Schachteln angereist kam — ja, wer saß da? Die alte Tante!

Ja, sie war es selbst, die gebieterische, reiche, fünfundsiebzigjährige Antonida Wassiljewna Tarassewitschewa, Gutsbesitzerin und Moskauer Hausbesitzerin, die Tante, um derentwillen so viele Telegramme abgeschickt und eingelaufen waren, die Tante, die immer im Sterben gelegen hatte und doch nicht gestorben war, und die nun auf einmal selbst in höchsteigener Person wie ein Blitz aus heiterem Himmel bei uns erschien. Sie war erschienen, obgleich sie nicht gehen konnte; sie ließ sich eben, wie stets während der letzten fünf Jahre, im Sessel tragen; aber sie war wie immer: energisch, kampflustig, selbstzufrieden, saß gerade, redete laut und herrisch, schimpfte auf alle Menschen, kurz, sie war genau ebenso, wie ich sie bei zwei, drei Gelegenheiten zu sehen die Ehre gehabt hatte, seit ich in das Haus des Generals als Hauslehrer eingetreten war. Sehr natürlich, daß ich vor ihr ganz starr vor Verwunderung dastand. Sie hatte mich mit ihren Luchsaugen schon auf hundert Schritt Entfernung erblickt, als sie auf ihrem Stuhl ins Hotel getragen wurde, hatte mich erkannt und bei meinem Vornamen und Vatersnamen gerufen, wie sie denn solche Namen, wenn sie sie einmal gehört hatte, für immer im Gedächtnis zu behalten pflegte. „Und von einer solchen Frau haben sie gehofft, sie würden sie im Sarg und beerdigt sehen und ihre Erbschaft antreten!“ Das war der Gedanke, der mir durch den Kopf schoß. „Die wird uns alle und die ganze Bewohnerschaft des Hotels überleben! Aber, um Gottes willen, was wird nun aus den Unsrigen, was wird aus dem General! Sie wird nun das ganze Hotel auf den Kopf stellen!“

„Nun, lieber Freund, warum stehst du denn so vor mir da und reißt die Augen auf?“ schrie mich die alte Dame an. „Eine Verbeugung zu machen und guten Tag zu sagen, das verstehst du wohl nicht, he? Oder bist du stolz geworden und willst es nicht tun? Oder hast du mich vielleicht nicht wiedererkannt? Hörst du wohl, Potapytsch“, wandte sie sich an einen grauhaarigen Alten in Frack und weißer Krawatte und mit einer rosenfarbenen Glatze, ihren Haushofmeister, der sie auf der Reise begleitete, „hörst du wohl, er erkennt mich nicht wieder! Sie haben mich schon begraben! Ein Telegramm schickten sie über das andere: ‚Ist sie gestorben oder nicht?‘ Ja, ja, ich weiß alles! Aber siehst du wohl, ich bin noch fuchsmunter.“

„Aber ich bitte Sie, Antonida Wassiljewna, wie sollte es mir in den Sinn kommen, Ihnen Übles zu wünschen?“ erwiderte ich in heiterem Ton, sobald ich meine Gedanken wieder gesammelt hatte. „Ich war nur zu erstaunt … Und wie sollte man sich auch da nicht wundern, wenn Sie so unerwartet …“

„Was ist dir dabei verwunderlich? Ich habe mich auf die Bahn gesetzt und bin hergefahren. Im Waggon fährt es sich ruhig; der stößt nicht wie ein Wagen. Du bist wohl spazierengegangen, wie?“

„Ja, ich war nach dem Kurhaus gegangen.“

„Hier ist es hübsch“, sagte die Tante, sich umschauend. „Es ist warm, und da sind herrliche Bäume. Das habe ich gern! Sind unsere Leute zu Hause? Auch der General?“

„Oh, gewiß werden sie zu Hause sein; zu dieser Stunde sind sie sicher alle zu Hause.“

„Haben sie etwa auch hier Empfangsstunden eingeführt und alle möglichen andern Zeremonien? Sie geben ja wohl den Ton in der Gesellschaft an. Ich habe gehört, sie halten sich Equipage, les seigneurs russes! Wenn sie sich in Rußland durch ihre Verschwendung ruiniert haben, dann heißt's: nun ins Ausland! Ist auch Praskowja1 bei ihnen?“

„Ja, Polina Alexandrowna ist auch hier.“

„Auch der kleine Franzose? Na, ich werde sie ja bald alle selbst sehen. Alexej Iwanowitsch, zeige mir den Weg direkt zu ihm. Geht es dir hier gut?“

„Es macht sich ja, Antonida Wassiljewna.“

„Und du, Potapytsch, sage diesem Tölpel von Kellner, er solle mir ein bequemes Logis anweisen, ein hübsches Logis, nicht zu hoch gelegen; und dahin laß auch gleich die Sachen bringen! Aber warum drängen sich denn alle dazu, mich zu tragen? Warum sind sie so aufdringlich? So ein Sklavenpack! Wen hast du da bei dir?“ wandte sie sich wieder zu mir.

„Das ist Mister Astley“, erwiderte ich.

„Was für ein Mister Astley?“

„Ein vielgereister Marnn und ein guter Bekannter von mir; er ist auch mit dem General bekannt.“

„Ein Engländer. Na ja, darum glotzt er mich auch so an und bringt die Zähne nicht auseinander. Übrigens mag ich die Engländer gern. Na also, dann tragt mich nach oben, geradeswegs zu ihnen in ihre Wohnung; wo wohnen sie denn hier?“

Die Tante wurde weitergetragen; ich ging auf der breiten Hoteltreppe voran. Unser Zug machte einen großartigen Effekt. Alle, auf die wir trafen, blieben stehen und betrachteten uns mit weit geöffneten Augen. Unser Hotel gilt als das beste, teuerste und aristokratischste dieses Badeortes. Auf der Treppe und den Korridoren begegnet man stets sehr elegant gekleideten Damen und vornehmen Engländern. Viele erkundigten sich unten beim Oberkellner, der seinerseits einen außerordentlichen tiefen Eindruck empfangen hatte. Er antwortete selbstverständlich allen Fragern, es sei eine sehr vornehme Ausländerin, une russe, une comtesse, grande dame, und sie nehme dasselbe Quartier, das eine Woche vorher la grande-duchessc de N. innegehabt habe. Den Haupteffekt machte das herrische und gebieterische äußere Wesen, das die Tante zeigte, während sie auf ihrem Stuhl nach oben getragen wurde. Bei der Begegnung mit jeder neuen Person maß sie diese sofort mit einem neugierigen Blick und befragte mich laut nach allen. Die Tante war aus einer Familie von stämmigem Körperbau, und obgleich sie von ihrem Stuhl nicht aufstand, so merkte man doch, wenn man sie ansah, daß sie sehr hochgewachsen war. Den Rücken hielt sie gerade wie ein Brett und lehnte sich nicht im Stuhl hinten an. Den grauhaarigen, großen Kopf mit den derben, scharfen Gesichtszügen trug sie hoch aufgerichtet; ihre Miene hatte dabei sogar etwas Hochmütiges und Herausforderndes. Es war deutlich, daß ihr Blick und ihre Bewegungen vollkommen natürlich waren. Trotz ihrer fünfundsiebzig Jahre sah ihr Gesicht noch ziemlich frisch aus, und selbst die Zähne hatten nicht allzuviel gelitten. Ihr Anzug bestand aus einem schwarzen Seidenkleid und einer weißen Haube.

„Sie interessiert mich außerordentlich“, flüsterte mir Mister Astley zu, der neben mir die Treppe hinaufstieg.

„Von den Telegrammen weiß sie“, dachte ich bei mir; „de Grieux ist ihr ebenfalls bekannt; aber von Mademoiselle Blanche weiß sie anscheinend noch wenig.“ Ich teilte dies sogleich Mister Astley mit.

Ich bin doch ein recht schändlicher Mensch! Kaum hatte sich mein erstes Erstaunen gelegt, da freute ich mich furchtbar über den Donnerschlag, der unser Erscheinen im nächsten Augenblick für den General sein mußte. Ich hatte ein Gefühl, als ob mich innerlich etwas aufstachelte, und ging in sehr heiterer Stimmung voran.

Die Unsrigen wohnten in der dritten Etage; ich ließ uns nicht anmelden und klopfte nicht einmal an der Tür an, sondern schlug einfach die Flügel weit zurück, und die Tante wurde im Triumph hereingetragen. Alle befanden sich, wie durch eine besondere Fügung, im Zimmer des Generals beisammen. Es war zwölf Uhr, und sie besprachen, wie es schien, gerade einen geplanten Ausflug teils zu Wagen, teils zu Pferde; es sollte daran die ganze Gesellschaft teilnehmen, und es waren außerdem noch einige Bekannte aufgefordert. Außer dem General, Polina, den Kindern und ihrer Kinderfrau waren im Zimmer anwesend: de Grieux, Mademoiselle Blanche, wieder im Reitkleid, ihre Mutter, Madame veuve Cominges, der kleine Fürst und endlich ein gelehrter Reisender, ein Deutscher, den ich bei ihnen zum erstenmal sah.

Die Träger setzten den Stuhl mit der Tante gerade in der Mitte des Zimmers, drei Schritte vom General entfernt, nieder. Gott im Himmel, nie werde ich den Eindruck vergessen, den das hervorbrachte! Vor unserm Eintritt hatte der General etwas erzählt und de Grieux es berichtigt. Es muß bemerkt werden, daß Mademoiselle Blanche und de Grieux schon seit zwei, drei Tagen aus irgendwelchem Grunde dem kleinen Fürsten stark den Hof machten, worüber sich der arme General ärgerte. Die ganze Gesellschaft befand sich, wenn das auch vielleicht nur gekünstelt war, in der heitersten Stimmung, und das Gespräch wurde in munterem, familiärem Ton geführt. Beim Anblick der Tante wurde der General plötzlich starr, riß den Mund auf und verstummte mitten in einem Wort. Die Augen traten ihm ordentlich aus dem Kopf, und er schaute sie an, als wäre er durch den Blick eines Basilisken bezaubert. Die Tante schaute ihn ebenfalls schweigend und ohne sich zu rühren an; aber was war das für ein triumphierender, herausfordernder, spöttischer Blick! So sahen sie einander wohl zehn volle Sekunden lang an, unter tiefem Schweigen aller Anwesenden. De Grieux war zunächst wie versteinert gewesen; aber sehr bald kam auf seinem Gesicht eine heftige Unruhe zum Ausbruch. Mademoiselle Blanche zog die Augenbrauen in die Höhe, machte den Mund auf und richtete ihre verstörten Blicke auf die Tante. Der Fürst und der Gelehrte betrachteten mit verständnislosem Staunen dieses ganze Bild, das sich ihnen darbot. In Polinas Blick drückte sich eine grenzenlose Verwunderung aus; aber auf einmal wurde sie bleich wie Leinwand; einen Augenblick darauf schlug ihr das Blut schnell ins Gesicht zurück, so daß ihre Wangen dunkelrot wurden. Ja, das war für sie alle eine Katastrophe! Ich ließ meine Augen fortwährend zwischen der Tante und der ganzen Gesellschaft hin und her wandern. Mister Astley stand etwas beiseite, wie gewöhnlich in ruhiger, wohlanständiger Haltung.

„Na, da bin ich also: Persönlich, statt eines Telegramms!“ Mit diesen Worten unterbrach die Tante endlich das Schweigen. „Nicht wahr, das hattet ihr wohl nicht erwartet?“

„Antonida Wassiljewna … Liebe Tante … Aber wie geht es nur zu …“, murmelte der unglückliche General.

Hätte die Tante noch ein paar Sekunden länger geschwiegen, so würde ihn vielleicht der Schlag gerührt haben.

„Wie es zugeht? Ich habe mich auf die Eisenbahn gesetzt und bin hergefahren. Wozu wäre denn die Eisenbahn sonst da? Und ihr habt alle gedacht, ich hätte schon die Augen für immer zugemacht und euch meine Erbschaft hinterlassen? Siehst du, ich weiß, daß du von hier eine Menge Telegramme abgeschickt hast. Du wirst einen tüchtigen Batzen Geld dafür bezahlt haben, denke ich mir. Von so weit her ist das nicht billig. Aber ich habe mich aufgemacht und bin hierhergefahren. Ist das der Franzose von früher? Monsieur de Grieux, wenn mir recht ist?“

„Oui, madame“, erwiderte de Grieux, „et croyez, je suis si enchanté … votre santé … c'est un miracle … vous voir ici … une surprise charmante …“

„So, so, charmante; ich kenne dich, du Heuchler; ich glaube dir auch nicht so viel!“ Dabei zeigte sie es ihm an ihrem kleinen Finger. „Was ist denn das für eine?“ fragte sie, indem sie sich umwandte und auf Mademoiselle Blanche wies. Die hübsche Französin, im Reitkleid, die Reitpeitsche in der Hand, erregte offenbar ihr lebhaftes Interesse. „Wohl eine von hier, wie?“

„Das ist Mademoiselle Blanche de Cominges, und dort ist auch ihre Mutter, Madame de Cominges; sie wohnen ebenfalls hier im Hotel“, berichtete ich.

„Ist die Tochter verheiratet?“ erkundigte sich die Tante ganz ungeniert.

„Mademoiselle de Cominges ist ledig“, antwortete ich möglichst respektvoll und absichtlich nur halblaut.

„Ist sie eine lustige Person?“

Der Sinn dieser Frage war mir nicht sofort klar.

„Ist sie im Umgang amüsant? Kann sie Russisch? Dieser de Grieux hat ja bei uns in Moskau auch ein paar Brocken Russisch aufgeschnappt.“

Ich bemerkte ihr, Mademoiselle de Cominges sei nie in Rußland gewesen.

„Bonjour“, sagte die Tante, sich plötzlich mit scharfer Drehung des Körpers zu Mademoiselle Blanche hinwendend.

„Bonjour, madame“, erwiderte Mademoiselle Blanche mit einem zeremoniellen, eleganten Knicks; sie bemühte sich, unter dem Schleier besonderer Bescheidenheit und Höflichkeit durch den gesamten Ausdruck ihres Gesichts und ihrer Gestalt ihr großes Befremden über die seltsamen Fragen und die eigentümliche Anrede zum Ausdruck zu bringen.

„Oh, sie hat die Augen niedergeschlagen, benimmt sich förmlich und ziert sich; da sieht man gleich, was das für ein Vogel ist; gewiß eine Schauspielerin? Ich habe hier im Hotel weiter unten Wohnung genommen“, wandte sie sich auf einmal wieder an den General. „Ich werde also deine Hausgenossin sein; freust du dich darüber oder nicht?“

„Oh, liebe Tante, Sie können überzeugt sein, daß ich mich aufrichtig … aufrichtig darüber freue“, erwiderte der General eilig. Es war ihm bereits gelungen, seine Gedanken einigermaßen zu sammeln, und da er es verstand, bei gegebener Gelegenheit gewandt, würdig und bis zu einem gewissen Grade effektvoll zu reden, so schickte er sich auch jetzt an, sich etwas ausführlicher zu äußern. „Wir waren infolge der Nachrichten über Ihre Krankheit in solcher Unruhe und Aufregung … Die Telegramme, die wir erhielten, klangen so hoffnungslos, und nun auf einmal …“

„Du schwindelst, du schwindelst“, unterbrach ihn die Tante sofort.

„Aber wie in aller Welt“, unterbrach sie nun seinerseits der General möglichst schnell und sprach dabei absichtlich lauter, um den Schein zu erwecken, als habe er ihre Zwischenbemerkung ‚du schwindelst‘ überhört, „wie in aller Welt haben Sie sich nur zu einer solchen Reise entschließen können? Sie werden zugeben, bei Ihren Jahren und bei Ihrem Gesundheitszustand ist dies alles mindestens so unerwartet, daß unser Erstaunen begreiflich ist. Aber ich freue mich so sehr … und wir alle“ (hier wurde auf seinem Gesicht ein Lächeln der Rührung und des Entzückens sichtbar) „werden uns aus allen Kräften bemühen, Ihnen Ihren hiesigen Aufenthalt zu einer Zeit schönsten, angenehmsten Genusses zu machen …“

„Na, hör nur auf; es ist ja doch alles nur leeres Geschwätz; du plapperst nach deiner Gewohnheit allerlei Unsinn zusammen; ich weiß schon allein, wie ich mein Leben einzurichten habe. Übrigens habe ich auch nichts dagegen, mit euch zu verkehren; ich trage euch nichts nach. Wie ich mich dazu habe entschließen können, fragst du? Aber was ist da zu verwundern? Das ist auf die allereinfachste Weise zugegangen. Warum sind nur alle Leute darüber so erstaunt? Guten Tag, Praskowja. Was machst du denn hier?“

„Guten Tag, liebes Großmütterchen“, begrüßte Polina sie freundlich und trat zu ihr hin. „Sind Sie lange unterwegs gewesen?“

„Na, seht mal, diese Frage von ihr war gescheiter als euer maßloses Erstaunen: ‚Oh!‘ und ‚Ach!‘ Also, siehst du wohl: ich lag immerzu zu Bette, und die Ärzte kurierten an mir herum; da jagte ich sie davon und ließ mir einen Kirchendiener von der Nikolauskirche kommen. Der hatte schon früher einmal eine alte Frau von derselben Krankheit mit Tee von Heustaub geheilt. Na also, der hat auch mir geholfen; am dritten Tag fing ich am ganzen Leibe stark zu schwitzen an, und dann stand ich auf. Nun traten meine deutschen Ärzte wieder zur Beratung zusammen, setzten sich ihre Brillen auf und kamen zu dem Resultat: ‚Wenn Sie jetzt im Ausland eine Badekur durchmachen könnten, dann würden die Blutstockungen ganz behoben werden.‘ ‚Na, warum nicht?‘ dachte ich. Da schlugen die Hansnarren die Hände über dem Kopf zusammen: ‚Wie können Sie nur daran denken, eine so große Reise zu unternehmend!‘ Aber hast du gesehen: an einem Tag packte ich, und am Freitag der vorigen Woche nahm ich mein Mädchen und Potapytsch und den Diener Fjodor mit; diesen Fjodor habe ich aber von Berlin aus wieder zurückgeschickt, weil ich sah, daß ich ihn gar nicht nötig hatte; ich hätte sogar vollständig allein reisen können. Auf der Bahn nehme ich mir ein besonderes Abteil; und Gepäckträger sind auf allen Stationen vorhanden; die tragen einen für ein Zwanzigkopekenstück, wohin man will … Nun seht mal an, was ihr hier für ein schönes Logis habt!“ schloß sie, indem sie sich rings umsah. „Aus was für Mitteln leistest du dir denn das, Freundchen? Dein ganzer Grundbesitz ist doch verpfändet. Und was bist du schon allein diesem Franzosen hier für eine Summe schuldig! Ja, ja, ich weiß alles, weiß alles!“

„Liebe Tante …“, begann der General äußerst verlegen, „ich wundere mich, liebe Tante … ich kann doch, möchte ich meinen, auch ohne Kontrolle von seiten eines andern … Überdies übersteigen meine Ausgaben durchaus nicht meine Mittel, und wir leben hier …“

„Übersteigen nicht? Übersteigen nicht? Was du sagst! Und deinen Kindern wirst du wohl schon das letzte, was sie hatten, geraubt haben. Ein netter Vormund!“

„Wenn Sie so denken und mir dergleichen sagen …“, fing der General unwillig an, „so weiß ich wirklich nicht …“

„Ja, ja, du weißt nicht, du weißt nicht! Vom Roulett kommst du hier wohl gar nicht mehr weg? Bist wohl ganz ausgebeutelt?“

Der General war so perplex, daß er vor Aufregung beinah erstickte.

„Vom Roulett! Ich? Bei meinem Stande … Ich? Kommen Sie zur Besinnung, liebe Tante; Sie sind gewiß noch krank …“

„Na, du schwindelst, du schwindelst; bist gewiß vom Spieltisch gar nicht wegzukriegen; immer schwindelst du! Aber ich werde mir einmal ansehen, was es mit diesem Roulett für eine Bewandtnis hat, heute noch. Du, Praskowja, erzähle mir mal, was hier alles zu sehen ist, und auch Alexej Iwanowitsch da kann mich instruieren; und du, Potapytsch, notiere alle Orte, wo wir hinfahren sollen. Was ist hier zu sehen?“ wandte sie sich plötzlich wieder an Polina.

„Hier in der Nähe ist eine Burgruine, und dann der Schlangenberg.“

„Was ist das, der Schlangenberg? Wohl ein Park, nicht wahr?“

„Nein, es ist nicht ein Park, sondern ein Berg. Da ist ein Aussichtspunkt, der höchste Punkt auf dem Berge, ein mit einem Geländer umgebener Platz. Von da hat man eine herrliche Aussicht.“

„Also soll ich meinen Stuhl auf den Berg tragen lassen? Werden sie ihn hinaufkriegen oder nicht?“

„Oh, Träger werden sich schon finden lassen“, erwiderte ich.

In diesem Augenblick näherte sich der alten Dame die Kinderfrau Fedosja, um sie zu begrüßen, und führte ihr auch die Kinder des Generals zu.

„Na, das Küssen laßt nur beiseite! Ich mag Kinder nicht küssen; alle Kinder haben Schmutznasen. Nun, wie geht es dir hier, Fedosja?“

„Hier ist es sehr, sehr schön, Mütterchen Antonida Wassiljewna“, antwortete Fedosja. „Wie ist es Ihnen denn gegangen, Mütterchen? Wir haben Sie so bedauert.“

„Ich weiß, du bist eine gute Seele. Was sind denn das hier für Leute bei euch, wohl alles Besuch, nicht wahr?“ wandte sie sich wieder an Polina. „Wer ist denn der widerliche Mensch da mit der Brille?“

„Fürst Nilski, Großmütterchen“, flüsterte ihr Polina zu.

„Ach so, es ist ein Russe? Ich hatte gedacht, er verstände nicht, was ich sagte! Na, vielleicht hat er es nicht gehört. Mister Astley habe ich schon gesehen. Da ist er ja wieder“, fuhr sie fort, da sie seiner in diesem Augenblick ansichtig wurde. „Guten Tag!“ wandte sie sich an ihn.

Mister Astley machte ihr schweigend eine Verbeugung.

„Nun, was werden Sie mir Gutes sagen? Sagen Sie doch etwas! Übersetze es ihm, Praskowja.“

Polina übersetzte es.

„Ich möchte also sagen: es ist mir ein großes Vergnügen, Sie kennenzulernen, und ich freue mich, daß Sie sich in guter Gesundheit befinden“, antwortete Mister Astley ernsthaft und mit größter Bereitwilligkeit. Seine Worte wurden der Alten übersetzt und gefielen ihr offenbar sehr.

„Was doch die Engländer immer für nette Antworten geben“, bemerkte sie. „Ich habe die Engländer immer sehr gern gehabt; gar kein Vergleich mit dem Franzosenvolk! Besuchen Sie mich!“ wandte sie sich wieder an Mister Astley. „Ich werde mich bemühen, Ihnen nicht allzu lästig zu fallen. Übersetze ihm das und sage ihm, daß ich hier unten wohne, hier unten, hören Sie wohl, unten, unten“, wiederholte sie für Mister Astley und zeigte dabei mit dem Finger nach unten.

Mister Astley war über die Einladung sehr erfreut.

Nun betrachtete die Tante mit einem aufmerksamen, zufriedenen Blick Polina vom Kopf bis zu den Füßen.

„Ich würde dich sehr lieb haben“, sagte sie dann ohne weiteres, „du bist ein prächtiges Mädchen, besser als sie alle; aber einen eigentümlichen Charakter hast du, o weh, o weh! Na, ich habe ja auch meinen besonderen Charakter. Dreh dich mal um; hast du da auch nicht eine falsche Einlage im Haar?“

„Nein, Großmütterchen, es ist alles mein eigenes.“

„Na ja, die jetzige dumme Mode kann ich nicht leiden. Hübsch bist du. Wenn ich ein Mann wäre, würde ich mich in dich verlieben. Warum verheiratest du dich nicht? Na, aber nun habe ich keine Zeit mehr. Ich möchte eine Spaziertetour machen; dieses ewige Im-Waggon-Sitzen! … Nun, und du? Bist du immer noch böse?“ wandte sie sich an den General.

„Aber ich bitte Sie, liebe Tante, sprechen wir nicht davon!“ fiel der erfreute General schnell ein. „Ich verstehe vollkommen, daß, wer in Ihren Jahren steht …“

„Cette vieille est tombée en enfance“, flüsterte nur de Grieux zu.

„Ich will mir hier alles ansehen“, erklärte die Tante. Und zu dem General gewendet fügte sie hinzu: „Willst du mir Alexej Iwanowitsch abtreten?“

„Oh, so lange Sie wünschen. Aber ich könnte ja auch selbst … und Polina und Monsieur de Grieux … uns allen wird es ein Vergnügen sein, Sie zu begleiten.“

„Mais, madame, cela sera un plaisir …“, beeilte sich de Grieux mit einem bezaubernden Lächeln hinzuzufügen.

„So, so, plaisir. Du kommst mir sehr komisch vor, Freundchen. Geld werde ich dir übrigens nicht geben“, fuhr sie, sich an den General wendend, unvermittelt fort. „Na, jetzt also nach meinem Logis; ich muß es doch in Augenschein nehmen; und dann wollen wir überallhin, wo es etwas zu sehen gibt. Na, nun hebt mich auf!“

Die Träger hoben sie wieder in die Höhe, und fast alle Anwesenden zogen in dichtem Haufen hinter dem Stuhl her die Treppe hinunter. Der General ging, als wäre er von einem Knittelschlag über den Kopf betäubt. De Grieux schien etwas zu überlegen. Mademoiselle Blanche hatte eigentlich zurückbleiben wollen, änderte dann aber ihre Absicht und schloß sich den andern an. Sofort folgte ihr auch der Fürst, und oben, in der Wohnung des Generals, blieben nur der Deutsche und Madame veuve Cominges zurück.


  1. Ein vulgärer Name, wohl Polinas Taufname, der in der Familie des Generals durch den ausländischen Polina ersetzt worden war. (A. d. Ü.)