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iii

Endlich fand nun auch die Auseinandersetzung mit dem Gouverneur statt. Kaum war unser lieber, milder Iwan Osipowitsch zurückgekehrt, als ihm auch sofort die energische Beschwerde des Klubs vorgelegt wurde. Ohne Zweifel mußte etwas geschehen; aber er war in Verlegenheit. Unser gastfreundlicher alter Herr hatte ebenfalls Furcht vor seinem jungen Verwandten. Er beschloß indes, ihm zuzureden, er möchte den Klub und den Beleidigten um Entschuldigung bitten, aber in einer zufriedenstellenden Weise und, wenn es verlangt werde, auch schriftlich; und dann wollte er ihm in freundlicher Form den Rat geben, uns zu verlassen und zum Beispiel aus Wißbegierde nach Italien zu fahren, jedenfalls irgendwohin ins Ausland. Im Saale, wohin er diesmal ging, um Nikolai Wsewolodowitsch zu empfangen (zu anderen Zeiten wanderte dieser mit dem Rechte eines Verwandten unbehindert im ganzen Hause umher), war Aloscha Teljatnikow, ein wohlerzogener Sekretär und Hausgenosse des Gouverneurs, in einer Ecke an einem Tische damit beschäftigt, Briefe zu öffnen, und im anstoßenden Zimmer saß an dem der Saaltür zunächst gelegenen Fenster ein von auswärts gekommener dicker, gesund aussehender Oberst, ein Freund und früherer Kamerad von Iwan Osipowitsch, und las den Golos, natürlich ohne irgendwie auf das zu achten, was im Saale vorging; er wendete ihm sogar den Rücken zu. Obgleich Iwan Osipowitsch in weiter Entfernung von ihm sprach und fast flüsterte, war er doch etwas verlegen. Nikolai sah sehr unfreundlich aus, gar nicht wie ein Verwandter, war blaß, saß mit niedergeschlagenen Augen da und hörte mit zusammengezogenen Brauen zu, wie wenn er einen heftigen Schmerz unterdrückte.

„Sie haben ein gutes Herz, Nikolai, ein edles Herz,“ sagte der alte Herr nach vielem andern zum Schlusse; „Sie sind ein gebildeter Mensch, haben in den höchsten Kreisen verkehrt, sich auch hier bisher musterhaft gehalten und dadurch das Herz Ihrer uns allen teuren Mutter beruhigt. Und nun erscheint alles auf einmal wieder in einer so rätselhaften und für alle gefährlichen Färbung! Ich rede als Freund Ihres Hauses, als Ihr bejahrter Verwandter, der Sie aufrichtig liebt, und von dem Sie sich nicht beleidigt fühlen können. Sagen Sie, was veranlaßt Sie zu solchen argen Ausschreitungen, die allen herkömmlichen Formen und Regeln des Umgangs zuwiderlaufen? Was bedeuten solche Extravaganzen, die mit den Handlungen eines Fieberkranken Ähnlichkeit haben?“

Nikolai hörte verdrossen und ungeduldig zu. Plötzlich aber blitzte in seinem Blicke für einen Moment ein listiger, spöttischer Ausdruck auf.

„Nun, dann will ich Ihnen meinetwegen sagen, was mich dazu veranlaßt,“ antwortete er mürrisch und bog sich, nachdem er um sich gesehen hatte, zu Iwan Osipowitschs Ohre hin.

Der wohlerzogene Aloscha Teljatnikow entfernte sich noch drei Schritte weiter nach dem Fenster zu, und der Oberst hustete hinter seinem Golos. Der arme Iwan Osipowitsch hielt eilig und vertrauensvoll sein Ohr hin; er war äußerst neugierig. Und da geschah etwas ganz Unerhörtes und doch andrerseits in gewisser Hinsicht nur zu Klares. Der alte Herr fühlte auf einmal, daß Nikolai, statt ihm ein interessantes Geheimnis zuzuflüstern, plötzlich den oberen Teil seines Ohres mit den Zähnen faßte und ziemlich fest zwischen ihnen zusammenklemmte. Er fing an zu zittern, und der Atem setzte ihm aus.

„Nikolai, was sind das für Späße!“ stöhnte er mechanisch mit ganz fremdklingender Stimme.

Aloscha und der Oberst hatten den Vorgang noch nicht verstanden, konnten ihn auch nicht ordentlich sehen und meinten immer noch, daß die beiden miteinander flüsterten; indes beunruhigte sie doch das verzweifelte Gesicht des Alten. Sie sahen sich mit weit aufgerissenen Augen an und wußten nicht, ob sie der Verabredung gemäß zu Hilfe eilen oder noch warten sollten. Nikolai bemerkte das vielleicht und kniff das Ohr schmerzhafter.

„Nikolai, Nikolai!“ stöhnte das arme Opfer von neuem. „Nun lassen Sie es genug sein mit dem Scherze …“

Noch ein Augenblick, und der Arme wäre vor Angst gestorben; aber der Unmensch hatte Erbarmen und ließ das Ohr los. Diese ganze Todesangst hatte eine volle Minute gedauert, und der Alte bekam nachher einen Schwächeanfall. Aber eine halbe Stunde darauf wurde Nikolai arretiert und abgeführt, vorläufig nach der Wache, wo er in eine besondere Zelle eingeschlossen wurde, mit einer besonderen Schildwache vor der Tür. Diese Maßregel war hart; aber unser milder Chef war dermaßen in Zorn geraten, daß er beschlossen hatte, die Verantwortung dafür sogar Warwara Petrowna selbst gegenüber auf sich zu nehmen. Zu allgemeinem Erstaunen wurde dieser Dame, als sie eilig und in größter Aufregung zum Gouverneur gefahren kam, um unverzüglich Aufklärung zu verlangen, am Portal der Eintritt verweigert; so fuhr sie denn, ohne aus dem Wagen ausgestiegen zu sein, wieder nach Hause; sie wußte gar nicht, wie ihr geschehen war.

Und endlich klärte sich alles auf! Um zwei Uhr nachts fing der Arrestant, der bis dahin erstaunlich ruhig gewesen war und sogar geschlafen hatte, plötzlich an zu lärmen; er schlug wütend mit den Fäusten gegen die Tür, riß mit unnatürlicher Kraft das eiserne Gitter von dem Fensterchen in der Tür ab, zerschlug die Scheibe und zerschnitt sich dabei die Hände. Als der wachhabende Offizier mit einigen Soldaten und den Schlüsseln herbeigelaufen kam und die Zelle aufschließen ließ, damit sie sich auf den Rasenden würfen und ihn bänden, stellte es sich heraus, daß sich dieser im stärksten Delirium befand; er wurde nach Hause zu seiner Mutter gebracht. Nun war mit einem Schlage alles klar! Unsere sämtlichen drei Ärzte sprachen ihre Meinung dahin aus, daß der Kranke sich auch schon drei Tage vorher im Fieberzustande befunden haben könne; er habe zwar Bewußtsein und eine gewisse Schlauheit besessen, aber nicht mehr seine gesunde Vernunft und einen klaren Willen, was übrigens durch die Tatsachen bestätigt wurde. Es ergab sich somit, daß Liputin früher als alle andern das Richtige erraten hatte. Iwan Osipowitsch, ein sehr zartfühlender, weich empfindender Mensch, war sehr verlegen; aber interessant war doch, daß auch er also Nikolai Wsewolodowitsch jeder wahnsinnigen Handlung auch bei vollem Verstande für fähig gehalten hatte. Auch im Klub schämte man sich und war darüber erstaunt, daß sie alle den Elefanten nicht bemerkt und nicht auf die einzig mögliche Erklärung dieser wunderlichen Handlungen verfallen waren. Allerdings fanden sich auch Skeptiker; aber sie vermochten sich nicht lange zu behaupten.

Nikolai lag länger als zwei Monate. Aus Moskau wurde ein berühmter Arzt zur gemeinsamen Beratung mit den hiesigen Ärzten herbeigerufen; die ganze Stadt machte bei Warwara Petrowna Visiten. Sie verzieh allen. Als Nikolai im Frühjahr bereits vollständig wiederhergestellt war und ohne jeden Widerstand dem Vorschlage seiner Mutter, nach Italien zu reisen, beigestimmt hatte, da bat sie ihn, uns allen Abschiedsbesuche zu machen und dabei da, wo es nötig sei, sich nach Möglichkeit zu entschuldigen. Nikolai war mit großer Bereitwilligkeit einverstanden. Im Klub wurde bekannt, daß er mit Peter Pawlowitsch Gaganow in dessen Hause eine sehr zartfühlende Aussprache gehabt hatte, durch die dieser vollständig zufriedengestellt worden sei. Bei seinen Visitenfahrten war Nikolai sehr ernst und sogar etwas traurig. Alle empfingen ihn anscheinend mit großer Teilnahme; aber alle fühlten sich doch einigermaßen verlegen und freuten sich darüber, daß er nach Italien fuhr. Iwan Osipowitsch vergoß sogar Tränen, konnte sich aber aus einem gewissen Grunde nicht entschließen, ihn zu umarmen, auch nicht im Augenblicke des Abschiedes selbst. Allerdings verblieben einige von uns bei der Überzeugung, daß der Taugenichts sich einfach über uns alle lustig gemacht habe und die ganze Krankheit fingiert gewesen sei. Auch bei Liputin machte er einen Besuch.

„Sagen Sie,“ fragte er ihn, „wie konnten Sie das, was ich über Ihren Verstand sagen würde, im voraus erraten und Ihrer Agafja eine Antwort darauf mitgeben?“

„Nun, ganz einfach,“ erwiderte Liputin lachend: „auch ich halte Sie für einen klugen Menschen; daher konnte ich Ihre Antwort vorhersehen.“

„Immerhin ist es ein merkwürdiges Zusammentreffen. Aber erlauben Sie noch eine Frage: Sie haben mich also für einen vernünftigen Menschen gehalten, als Sie Agafja zu mir schickten, und nicht für einen Verrückten?“

„Für einen sehr klugen und vernünftigen; ich stellte mich nur, als hielte ich Sie für gestört … Und Sie selbst haben ja auch meine Gedanken damals sofort erraten und mir durch Agafja ein Zeugnis über meine Klugheit zugeschickt.“

„Nun, in diesem Punkte irren Sie sich ein bißchen; ich war wirklich nicht wohl …“ murmelte Nikolai Wsewolodowitsch mit finsterer Miene. „Bah!“ rief er, „glauben Sie denn wirklich, daß ich bei vollem Verstande fähig wäre, über Menschen herzufallen? Was sollte ich denn dabei für einen Zweck haben?“

Liputin krümmte sich zusammen und wußte nicht, was er darauf antworten sollte. Nikolai wurde etwas blaß; wenigstens schien es Liputin so.

„Jedenfalls haben Sie eine sehr amüsante Art der Gedankenbildung,“ fuhr Nikolai fort. „Und was Agafja anlangt, so begreife ich natürlich, daß Sie sie zu mir geschickt haben, um mich auszuschimpfen.“

„Ich konnte Sie doch nicht zum Duell fordern?“

„Ach ja, sehen Sie mal! Ich habe ja so etwas gehört, daß Sie ein Gegner des Duells sind …“

„Warum soll man das von den Franzosen herübernehmen?“ erwiderte Liputin, sich wieder zusammenkrümmend.

„Sie sind ein Anhänger der Nationalitätsidee?“

Liputin krümmte sich noch mehr zusammen.

„Ah, ah! Was sehe ich!“ rief Nikolai auf einmal, als er auf dem Tische an der sichtbarsten Stelle einen Band von Considérant1 bemerkte. „Sie sind doch nicht etwa Fourierist? Na so etwas! Ist denn das etwa nicht eine Übersetzung aus dem Französischen?“ sagte er lachend und klopfte mit den Fingern auf das Buch.

„Nein, das ist keine Übersetzung aus dem Französischen!“ versetzte Liputin und sprang mit einem gewissen Ingrimm auf. „Das ist eine Übersetzung aus der universellen Sprache der Menschheit und nicht nur aus dem Französischen! Aus der Sprache der universellen sozialen Republik und Harmonie; so ist es! Und nicht nur aus dem Französischen! …“

„Donnerwetter! So eine Sprache gibt es ja gar nicht!“ erwiderte Nikolai weiter lachend.

Manchmal nimmt sogar eine Kleinigkeit unsere Aufmerksamkeit ausschließlich und lange in Anspruch. Über Herrn Stawrogin werde ich noch recht viel zu sagen haben; aber jetzt bemerke ich der Kuriosität halber, daß von allen Eindrücken während der ganzen Zeit, die er in unserer Stadt verlebte, sich seinem Gedächtnisse am schärfsten die unscheinbare und beinah gemeine Gestalt Liputins einprägte, dieses geringen Gouvernementsbeamten, eifersüchtigen Ehemannes und groben Familiendespoten, argen Geizhalses und Wucherers, der die Überreste vom Mittagessen und die Lichtstümpfchen wegschloß und gleichzeitig ein fanatischer Anhänger Gott weiß welcher künftigen „sozialen Harmonie“ war, sich nachts bis zur Berauschtheit bei den phantastischen Vorstellungen von einem künftigen phalanstère1 entzückte und an dessen nahe Verwirklichung in Rußland und in unserm Gouvernement so fest wie an seine eigene Existenz glaubte. Und das an einem Orte, wo er selbst sich von seinem zusammengescharrten Gelde ein Häuschen gekauft, wo er sich zum zweitenmal verheiratet und mit seiner Frau ein Sümmchen Geld bekommen hatte, und wo es vielleicht auf hundert Werst im Umkreise keinen Menschen gab (mit ihm selbst angefangen), der auch nur äußerlich einem zukünftigen Mitgliede der „universellen, die ganze Menschheit umfassenden sozialen Republik und Harmonie“ ähnlich gewesen wäre.

„Weiß Gott, wie sich eine solche Sorte von Menschen herausbilden kann!“ dachte Nikolai erstaunt, wenn er sich manchmal an diesen überraschenden Fourieristen erinnerte.