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iii

„Was haben Sie denn für Sorgen? Doch nicht etwa diese Bagatellen?“ fragte er, mit dem Kopfe nach der Proklamation hindeutend. „Ich kann Ihnen solcher Blättchen so viele herbringen, wie Ihnen nur beliebt; ich habe sie schon im Gouvernement Ch*** kennen gelernt.“

„Das heißt, in der Zeit, als Sie dort wohnten?“

„Nun, natürlich nicht in meiner Abwesenheit. Das Ding hatte noch eine Vignette; es war darüber ein Beil gezeichnet. Erlauben Sie,“ (er nahm die Proklamation in die Hand) „na ja, da ist ja auch das Beil; es ist dieselbe Proklamation, genau dieselbe.“

„Ja, ein Beil! Sehen Sie, ein Beil!“

„Nun ja; haben Sie vor dem Beile Angst?“

„Nein, vor dem Beile nicht … und ich habe überhaupt keine Angst; aber diese Sache … die Sache ist die, es sind da noch gewisse Umstände …“

„Was denn für Umstände? Was man Ihnen aus der Fabrik gebracht hat? He-he! Wissen Sie, in dieser Fabrik werden die Arbeiter selbst bald Proklamationen schreiben.“

„Wieso?“ fragte v. Lembke erstaunt in strengem Tone.

„Nun, ganz einfach. Sehen Sie sich nur einmal diese Leute an! Sie sind zu milde, Andrei Antonowitsch; Sie schreiben Romane. Aber hier müßte nach alter Sitte verfahren werden.“

„Was soll das heißen: ‚nach alter Sitte‘? Was sind das für Ratschläge? Die Fabrik ist gereinigt; ich habe es befohlen, und sie ist gereinigt worden.“

„Aber unter den Arbeitern ist eine Rebellion ausgebrochen. Man müßte sie durch die Bank auspeitschen; dann wäre die Sache erledigt.“

„Eine Rebellion? Das ist Unsinn; ich habe es befohlen, und die Fabrik ist gereinigt worden.“

„Ach, Andrei Antonowitsch, Sie sind zu milde!“

„Erstens bin ich überhaupt nicht so milde, und zweitens …“ Herr v. Lembke fühlte sich wieder verletzt. Es kostete ihn große Überwindung, dieses Gespräch mit dem jungen Menschen zu führen; aber er tat es aus Neugier, um zu sehen, ob dieser ihm nicht vielleicht etwas Neues sagen werde.

„Ah, ah, wieder eine alte Bekannte!“ unterbrach ihn Peter Stepanowitsch und wies auf ein anderes Blatt, das unter einem Briefbeschwerer lag, ebenfalls wie eine Proklamation aussah und augenscheinlich im Auslande gedruckt war, aber in Versen. „Na, diese kann ich auswendig: ‚Eine glänzende Persönlichkeit!‘ Wollen mal sehen; na ja, es stimmt: ‚Eine glänzende Persönlichkeit,‘ ganz richtig. Ich habe dieses Blatt schon kennen gelernt, als ich noch im Auslande war. Wo haben Sie es denn aufgegabelt?“

„Sie sagen, Sie haben es im Auslande gesehen?“ fragte v. Lembke auffahrend.

„Gewiß! Vor vier Monaten; es können auch fünf sein.“

„Was Sie aber doch alles im Auslande gesehen haben!“ bemerkte v. Lembke fein und blickte sein Gegenüber an.

Ohne auf ihn zu hören schlug Peter Stepanowitsch das Blatt auseinander und las laut das folgende Gedicht:

„Eine glänzende Persönlichkeit.

Stammend aus der niedern Masse,
Nicht aus stolzer Adelsklasse,
Hart verfolgt vom Zorn des Zaren
Und vom Hasse der Bojaren,
Litt er willig; doch sein Mund
Tat dem armen Volke kund:
Alle müssen wir auf Erden
Frei und gleich und Brüder werden.

Zu entzünden klug den Brand,
Ging er in ein fremdes Land;
Fern vom Henker und der Knute
Wirkte still der Edle, Gute.
Und das Volk, im Joche stöhnend,
Harrte schon, den Kampf ersehnend,
Von Smolensk bis nach Taschkent:
‚Gib das Zeichen uns, Student!‘

Und dann wollten alle eilen,
Um mit Äxten und mit Beilen
Zu zerschlagen der Bojaren
Herrschaft und des bösen Zaren,
Acker, Vieh und alle Sachen
Zum Gemeinbesitz zu machen,
Kirch' und Ehe aufzuheben
Und in Freud und Glück zu leben.“

„Gewiß ist das bei jenem Offizier gefunden worden, ja?“ fragte Stepan Trofimowitsch.

„Sie kennen auch jenen Offizier?“

„Gewiß doch! Ich habe da mit ihm zwei Tage lang gekneipt. Es war vorauszusehen, daß er einmal verrückt werden würde.“

„Vielleicht ist er gar nicht verrückt geworden.“

„Sie glauben, daß er einen gebissen hat, zeugt von Verstand?“

„Aber erlauben Sie: wenn Sie diese Verse im Auslande gesehen haben und sich dann bei diesem Offizier herausstellt …“

„Was meinen Sie? Sehr scharfsinnig! Sie wollen mich, wie ich sehe, examinieren, Andrei Antonowitsch? Sehen Sie mal,“ begann er auf einmal mit ungewöhnlichem Ernste, „über das, was ich im Auslande gesehen habe, habe ich nach meiner Rückkehr schon an geeigneter Stelle Auskunft gegeben, und die von mir gegebene Auskunft ist für befriedigend erachtet worden; sonst würde ich die hiesige Stadt nicht mit meiner Gegenwart beglücken. Ich bin der Ansicht, daß meine Angelegenheiten auf diesem Gebiete erledigt sind und ich niemandem mehr zur Rechenschaft verpflichtet bin. Und erledigt sind sie nicht etwa, weil ich ein Denunziant wäre, sondern weil ich nicht anders handeln konnte. Diejenigen Personen, die aus ihrer Kenntnis der Sache heraus an Julija Michailowna Empfehlungsbriefe für mich geschrieben haben, haben mich darin als einen ehrenhaften Menschen bezeichnet … Na, aber lassen wir das alles beiseite; ich bin zu Ihnen gekommen, um etwas sehr Ernstes mit Ihnen zu besprechen, und es ist recht gut, daß Sie diesen Ihren Schornsteinfeger hinausgeschickt haben. Die Sache ist mir von großer Wichtigkeit, Andrei Antonowitsch; ich habe eine außerordentliche Bitte an Sie.“

„Eine Bitte? Hm … Nun, sprechen Sie sie aus; ich warte darauf und bin, wie ich bekenne, einigermaßen gespannt. Und ich muß hinzufügen, daß Sie mich überhaupt in große Verwunderung versetzen, Peter Stepanowitsch.“

Herr v. Lembke befand sich in ziemlicher Aufregung. Peter Stepanowitsch schlug ein Bein über das andere.

„In Petersburg“, begann er, „bin ich in vielen Punkten offenherzig gewesen; aber über manches, so zum Beispiel inbezug auf dies hier“ (er tippte mit dem Finger auf die „Glänzende Persönlichkeit“) „habe ich geschwiegen, erstens weil es nicht der Mühe wert war, darüber zu reden, und zweitens, weil ich mich nur über das aussprach, wonach ich gefragt wurde. Ich liebe es nicht, bei solchen Dingen von selbst mehr zu tun, als nötig ist; darin finde ich den Unterschied zwischen einem Schurken und einem anständigen Menschen, den die Verhältnisse einfach überrumpelt haben … Na, aber das nur nebenbei. Aber jetzt … jetzt, wo diese Dummköpfe … na, da das nun einmal herausgekommen ist und Sie es bereits in Händen haben und vor Ihnen, wie ich sehe, nichts verborgen bleibt (denn Sie sind ein Mann, der Augen im Kopfe hat, und man kann Sie nie vorausberechnen), und da diese Narren doch ihr Beginnen fortsetzen, da wollte ich … da wollte ich … nun ja, mit einem Worte, ich bin hergekommen, um Sie zu bitten, einen gewissen Menschen zu retten, der ebenfalls ein Narr, vielleicht ein Verrückter ist, ihn zu retten in Anbetracht seiner Jugend und des vielen Unglücks, das er gehabt hat, und ich vertraue dabei auf Ihre Humanität … Sie werden ja doch wohl nicht bloß in Ihren selbstverfaßten Romanen human sein!“ fügte er mit plumpem Spaß hinzu und brach dann ungeduldig ab.

Kurz, man sah, er war ein aufrichtiger Mensch, der sich aber infolge eines Übermaßes von menschenfreundlichen Gefühlen und vielleicht infolge allzu großen Zartgefühls ungeschickt und linkisch benahm, und vor allen Dingen ein Mensch, mit dessen geistigen Fähigkeiten es nicht weit her war, wie v. Lembke ihn gleich von vornherein mit großem Scharfsinn taxiert und längst über ihn geurteilt hatte, besonders während er in der letzten Woche, allein in seinem Arbeitszimmer, namentlich nachts, aus Leibeskräften im stillen über die unerklärlichen Fortschritte geschimpft hatte, die dieser in Julija Michailownas Gunst gemacht hatte.

„Für wen bitten Sie denn, und was bedeutet das alles?“ erkundigte er sich mit vornehmer Würde, wobei er sich bemühte, seine Neugier zu verbergen.

„Das … das … zum Teufel … Ich kann doch nichts dafür, daß ich zu Ihnen Vertrauen habe! Was kann ich dafür, daß ich Sie für einen höchst anständig denkenden Menschen halte, und namentlich für einen vernünftigen Menschen, das heißt für einen, der imstande ist zu begreifen, daß … hol's der Kuckuck! …“

Der arme Kerl wußte augenscheinlich nicht, wie er das, was er sagen wollte, herausbringen sollte.

„Sie sehen jedenfalls ein,“ fuhr er fort, „Sie sehen jedenfalls ein, daß, wenn ich Ihnen seinen Namen nenne, ich Ihnen den Menschen auf Gnade und Ungnade preisgebe; ich gebe ihn Ihnen auf Gnade und Ungnade preis, nicht wahr? Nicht wahr?“

„Aber wie kann ich denn erraten, um wen es sich handelt, wenn Sie sich nicht entschließen können, seinen Namen auszusprechen?“

„Das ist es ja eben; Sie zwingen einen immer auf die Knie mit dieser Ihrer Logik, hol's der Henker … na, hol's der Henker … diese ‚Glänzende Persönlichkeit‘, dieser ‚Student‘, das ist Schatow … nun wissen Sie alles!“

„Schatow? Was meinen Sie damit: ‚Das ist Schatow‘?“

„Schatow ist der ‚Student‘, von dem in diesem Gedichte die Rede ist. Er wohnt hier; ein früherer Leibeigener; na, der, welcher die Ohrfeige gegeben hat.“

„Ich weiß, ich weiß!“ erwiderte Lembke stirnrunzelnd. „Aber, erlauben Sie, was wird ihm denn eigentlich schuldgegeben, und, was die Hauptsache ist, in welcher Hinsicht legen Sie für ihn Fürsprache ein?“

„Ich bitte Sie, ihn zu retten, verstehen Sie wohl! Ich habe ihn ja schon vor acht Jahren gekannt; ich war sogar sein Freund, kann man vielleicht sagen,“ erwiderte Peter Stepanowitsch, der in lebhafte Erregung geriet. „Na, ich bin Ihnen ja keine Rechenschaft über mein früheres Leben schuldig,“ fuhr er mit einer wegwerfenden Handbewegung fort; „das Ganze ist von gar keiner Bedeutung; es sind nur drei bis vier Menschen, und mit denen im Auslande kommen noch nicht zehn heraus; aber, was die Hauptsache ist, ich hatte auf Ihre Humanität und auf Ihren Verstand gehofft. Sie werden die Sache in ihrer wahren Gestalt erkennen und Ihrerseits darstellen und nicht als Gott weiß was, sondern als die törichte Schwärmerei eines durch Unglück, beachten Sie das wohl, durch langes Unglück verrückt gewordenen Menschen und nicht als wer weiß was für eine unerhörte politische Verschwörung …“

Er war ordentlich außer Atem gekommen.

„Hm … Ich sehe, daß er an den Proklamationen mit dem Beil Schuld trägt,“ sagte Lembke, das Resultat ziehend, in beinah majestätischem Tone. „Erlauben Sie aber: wenn er alleinsteht, wie konnte er sie dann sowohl hier als auch in den Provinzen und sogar im Gouvernement Ch*** verbreiten, und endlich … vor allen Dingen: wo hat er sie herbekommen?“

„Ich sage Ihnen ja, es sind ihrer offenbar im ganzen nur fünf Menschen, na oder zehn; woher soll ich es wissen?“

„Sie wissen es nicht?“

„Woher, zum Kuckuck, soll ich das wissen?“

„Aber Sie wußten doch, daß Schatow einer der Teilnehmer ist?“

„Ach!“ Peter Stepanowitsch bewegte die Hand, als ob er sich gegen den überwältigenden Scharfsinn des Fragers schützen wolle. „Na, hören Sie, ich will Ihnen die ganze Wahrheit sagen: von den Proklamationen weiß ich nichts, das heißt absolut nichts, hol's der Henker; verstehen Sie wohl: nichts … Na, natürlich, da ist jener Unterleutnant, und noch jemand hier am Orte … na, und vielleicht Schatow; na, und noch jemand; na, das sind sie auch alle, eine elende, klägliche Gesellschaft … Aber ich bin hergekommen, um für Schatow zu bitten; der muß gerettet werden; denn dieses Gedicht ist von ihm, sein eigenes Machwerk, und in seinem Auftrage im Auslande gedruckt; das weiß ich genau; aber von den Proklamationen weiß ich schlechterdings nichts.“

„Wenn die Verse von ihm herrühren, dann trifft das gewiß auch für die Proklamationen zu. Welche Tatsachen veranlassen Sie aber, Herrn Schatow im Verdacht zu haben?“

Mit der Miene eines Menschen, der nun völlig die Geduld verloren hat, holte Peter Stepanowitsch eine Brieftasche aus der Tasche und entnahm dieser einen Zettel.

„Da sind die Tatsachen!“ rief er und warf ihn auf den Tisch.

Lembke faltete den Zettel auseinander und sah, daß derselbe vor einem halben Jahre von hier nach irgendeinem Orte im Auslande geschrieben war; der Inhalt war kurz und bestand nur aus zwei Zeilen:

„Die ‚Glänzende Persönlichkeit‘ kann ich hier nicht drucken; ich kann überhaupt nichts; drucken Sie das Blatt im Auslande!

Iw. Schatow.“

Lembke blickte Peter Stepanowitsch starr an. Warwara Petrowna hatte recht gehabt mit ihrer Bemerkung, daß sein Blick an den eines Hammels erinnere, besonders manchmal.

„Die Sache hängt nämlich so zusammen,“ sagte Peter Stepanowitsch hastig: „Er hat diese Verse hier vor einem halben Jahre geschrieben, konnte sie aber hier nicht drucken, nun, auf einer geheimen Druckerei. Und daher bittet er, sie im Auslande zu drucken … Es scheint, das ist deutlich?“

„Ja, das ist deutlich; aber wen bittet er denn? Sehen Sie, das ist noch nicht deutlich,“ bemerkte Lembke mit schlauer Ironie.

„Nun, natürlich Kirillow; der Brief ist an Kirillow nach dem Auslande geschrieben … Das wußten Sie nicht, wie? Das Ärgerliche ist eben dies, daß Sie sich vielleicht vor mir nur verstellen und schon längst selbst von diesen Versen und allem andern Kenntnis haben! Wie sind diese Verse denn auf Ihren Tisch gekommen? Die Verse haben den Weg hierher schlau gefunden! Warum foltern Sie mich, wenn es so ist?“

Er wischte sich krampfhaft mit dem Taschentuche den Schweiß von der Stirn.

„Es ist mir vielleicht einiges bekannt …“ erwiderte Lembke geschickt ausweichend; „aber wer ist denn dieser Kirillow?“

„Nun, das ist ein von auswärts hergezogener Ingenieur; er war Stawrogins Sekundant, ein Wahnsinniger, ein Verrückter; Ihr Unterleutnant hat tatsächlich vielleicht nur einen Anfall von Tobsucht gehabt; aber dieser Mensch ist total verrückt, total; das garantiere ich. Ach, Andrei Antonowitsch, wenn die Regierung wüßte, von welcher Art diese Leute durch die Bank sind, dann würde sie keine Hand gegen sie aufheben. Alle, wie sie da sind, gehören sie ins Irrenhaus; ich habe sie mir in der Schweiz und auf ihren Kongressen zur Genüge angesehen.“

„Dort, von wo aus die hiesige Bewegung geleitet wird?“

„Aber wer leitet sie? Drei bis vier Menschen. Sowie man sie ansieht, bekommt man Langeweile. Und was für eine hiesige Bewegung leiten sie denn? Die Proklamationen, ja? Und wer wird denn angeworben: Unterleutnants, die am Delirium leiden, und zwei, drei Studenten! Sie sind ein vernünftiger Mensch; daher möchte ich Ihnen die Frage vorlegen: warum lassen sich nicht bedeutendere Leute anwerben, warum immer nur Studenten und unausgereifte Menschen von zweiundzwanzig Jahren? Und sind ihrer etwa viele? Eine Million Spürhunde ist auf der Suche nach ihnen, und wie viele finden sie denn im ganzen? Sieben Menschen! Ich sage Ihnen, die Geschichte wird einem langweilig.“

Lembke hörte aufmerksam zu, aber mit einer Miene, die deutlich besagte: mit allgemeinen Redensarten ist mir nicht gedient.

„Aber erlauben Sie, Sie behaupten, daß der Brief nach dem Auslande adressiert war; aber eine Adresse ist hier nicht vorhanden; woher wissen Sie denn, daß der Brief an Herrn Kirillow adressiert war und ferner nach dem Auslande, und … und … daß er wirklich von Herrn Schatow geschrieben ist?“

„Verschaffen Sie sich doch sogleich Schatows Handschrift, und vergleichen Sie beides! In Ihrer Kanzlei wird sich gewiß eine Unterschrift von ihm auftreiben lassen. Und daß der Brief an Kirillow gerichtet war, weiß ich daher, weil Kirillow ihn mir damals selbst gezeigt hat.“

„Also sind Sie selbst …“

„Nun ja, natürlich, ich selbst. Die Leute haben mir da alles mögliche gezeigt. Und was diese Verse anlangt, so wird fingiert, der verstorbene Herzen habe sie für Schatow geschrieben, als dieser sich noch im Auslande umhertrieb; sie seien als eine Erinnerung an ihre Begegnung, als ein Lob und eine Empfehlung der Persönlichkeit gemeint; na, weiß der Teufel … Und Schatow verbreitet das Gedicht nun unter den jungen Leuten und sagt ihnen damit: ‚So hat Herzen selbst über mich geurteilt.‘“

„Tje, tje, tje!“ schnalzte Lembke, als wenn er nun endlich alles erraten hätte. „Ich habe immer überlegt: die Proklamation, das versteht man; aber warum die Verse?“

„Wie sollten Sie das nicht verstehen? Aber weiß der Kuckuck, warum ich Ihnen das alles vorplaudere! Hören Sie, geben Sie mir Schatow frei, und dann mag alle übrigen der Teufel holen, sogar Kirillow einbegriffen, der sich jetzt im Filippowschen Hause eingeschlossen hat und verborgen hält, wo auch Schatow wohnt. Diese Menschen mögen mich nicht leiden, weil ich mich von ihnen losgesagt habe; aber versprechen Sie mir, Schatow zu schonen, und ich will Ihnen alle andern auf einem Präsentierteller darbieten. Ich werde mich nützlich machen, Andrei Antonowitsch! Ich schätze diese ganze klägliche Gesellschaft auf neun bis zehn Mann. Ich werde ihnen selbst nachspüren, auf eigene Hand. Dreie kennen wir schon: Schatow, Kirillow und den Unterleutnant. Die übrigen erkenne ich noch nicht mit hinreichender Deutlichkeit … übrigens bin ich nicht kurzsichtig. Es ist hier gerade wie im Gouvernement Ch***; was waren das da für Leute, die mit Proklamationen abgefaßt wurden: zwei Studenten, ein Gymnasiast, zwei zwanzigjährige Adlige, ein Lehrer und ein sechzigjähriger Major a. D., der vom Trinken ganz dumm im Kopfe war; das war alles; glauben Sie mir, das war alles; man war ganz erstaunt darüber, daß das alles war. Aber ich brauche sechs Tage. Ich habe es mir schon ausgerechnet: sechs Tage, nicht weniger. Wenn Sie ein gutes Resultat erzielen wollen, so lassen Sie die Leute noch sechs Tage lang unangerührt, und dann werde ich sie Ihnen in ein Bündel zusammenbinden; aber wenn Sie sie früher aufstören, so fliegt das Nest aus. Aber schenken Sie mir Schatow! Ich bitte für Schatow … Das beste wäre, wenn Sie ihn insgeheim und freundschaftlich zu sich rufen ließen, etwa hierher, in Ihr Arbeitszimmer, den Schleier vor ihm lüfteten und ihn examinierten. Er wird Ihnen gewiß von selbst zu Füßen fallen und in Tränen ausbrechen! Er ist ein nervöser, unglücklicher Mensch; seine Frau hat intimen Verkehr mit Stawrogin gehabt. Seien Sie freundlich zu ihm, und er wird Ihnen alles selbst enthüllen; aber Sie müssen noch sechs Tage damit warten … Und vor allen Dingen, vor allen Dingen, sagen Sie keine Silbe zu Julija Michailowna! Es muß ein Geheimnis bleiben. Können Sie das Geheimnis bewahren?“

„Wie?“ fragte Lembke und riß die Augen weit auf. „Haben Sie denn Julija Michailowna nichts davon entdeckt?“

„Ihr entdeckt? Aber ich bitte Sie, Gott soll mich behüten! Ach, Andrei Antonowitsch! Sehen Sie, ich lege den größten Wert auf die Freundschaft Ihrer Frau Gemahlin und schätze sie selbst sehr hoch … na und so weiter … aber einen solchen Bock werde ich nicht schießen. Ich widerspreche ihr nicht, weil das, wie Sie selbst wissen, gefährlich ist. Ich lasse wohl auch ab und zu ein Wörtchen vor ihr fallen, weil sie das gerne hat; aber daß ich ihr, wie jetzt eben Ihnen, Namen oder so etwas angeben sollte, davon ist nicht die Rede, liebster Herr! Warum wende ich mich denn jetzt an Sie? Weil Sie doch eine Mannsperson sind, ein ernsthafter Mensch mit langjähriger, sicherer dienstlicher Erfahrung. Sie haben vieles in der Welt gesehen. Sie wissen, meine ich, noch von Ihrer Petersburger Tätigkeit her genau über jeden Schritt Bescheid, den man in solchen Angelegenheiten tun muß. Aber wenn ich ihr zum Beispiel diese zwei Namen angäbe, so würde sie sie sogleich austrommeln … Sie möchte ja doch Petersburg von hier aus in Erstaunen versetzen. Nein, sie ist zu hitzig; das ist die Sache!“

„Ja, dazu inkliniert sie ein wenig,“ murmelte Andrei Antonowitsch mit einem gewissen Vergnügen; gleichzeitig aber ärgerte er sich gewaltig darüber, daß dieser Flegel sich erdreistete, über Julija Michailowna in so freier Manier zu reden.

Peter Stepanowitsch meinte wahrscheinlich, daß das Gesagte noch nicht ausreiche und noch eine weitere Dosis nötig sei, um Herrn v. Lembke zu schmeicheln und ihn völlig in seine Gewalt zu bekommen.

„Sehr richtig, sie inkliniert dazu,“ stimmte er bei. „Sie ist ja vielleicht eine geniale, literarisch hochgebildete Dame; aber sie scheucht die Sperlinge auseinander. Sie hält es nicht sechs Stunden aus, geschweige denn sechs Tage. Ach, Andrei Antonowitsch, verbieten Sie einer Frau nie etwas auf die Dauer von sechs Tagen! Sie erkennen ja an, daß ich einige Erfahrung besitze, ich meine in diesen Dingen; ich weiß ja manches, und Sie wissen selbst, daß ich in der Lage bin, manches zu wissen. Ich bitte Sie nicht aus Mutwillen um die sechs Tage, sondern aus ernstem Grunde.“

„Ich habe gehört …“ (Lembke entschloß sich nur schwer dazu, seinen Gedanken auszusprechen), „ich habe gehört, daß Sie nach Ihrer Rückkehr aus dem Auslande an der gehörigen Stelle Erklärungen abgegeben haben … als fühlten Sie Reue?“

„Na, nehmen wir an, es wäre so etwas geschehen!“

„Ich habe natürlich kein Verlangen, tiefer einzudringen … Aber es hat mir immer geschienen, als hätten Sie hier bisher in einem ganz anderen Sinne gesprochen, zum Beispiel über den christlichen Glauben, über die gesellschaftlichen Einrichtungen und selbst über die Regierung …“

„Ich habe alles mögliche gesagt. Ich spreche auch jetzt noch ebenso; nur darf man diese Gedanken nicht in der Weise durchzuführen suchen, wie es jene Dummköpfe möchten; das ist der Drehpunkt. Oder was hat das für Sinn, daß jener Unterleutnant einen in die Schulter gebissen hat? Auch Sie waren ja mit mir einverstanden und sagten nur, es sei verfrüht.“

„Meine Äußerung, daß ich einverstanden sei, und meine Bemerkung, das sei verfrüht, bezogen sich eigentlich auf etwas anderes.“

„Bei Ihnen hat doch jedes Wort einen Doppelsinn! He-he! Sie sind ein vorsichtiger Mensch!“ sagte Peter Stepanowitsch in heiterem Tone. „Hören Sie, mein Teuerster, ich mußte mit Ihnen bekannt werden; na, und darum habe ich in meiner Manier geredet. In dieser Art habe ich nicht nur mit Ihnen, sondern auch schon mit vielen anderen Bekanntschaft gemacht. Vielleicht hielt ich für nötig, Ihren Charakter kennen zu lernen.“

„Wozu wollten Sie denn meinen Charakter kennen lernen?“

„Na, was weiß ich wozu“ (er lachte wieder). „Sehen Sie, teurer und hochverehrter Andrei Antonowitsch, Sie sind schlau; aber darauf sind Sie doch noch nicht gekommen und werden auch gewiß nicht darauf kommen, verstehen Sie? Vielleicht verstehen Sie mich? Ich habe zwar nach meiner Rückkehr aus dem Auslande an der gehörigen Stelle Erklärungen abgegeben und weiß wirklich nicht, warum jemand, der seine bestimmten Überzeugungen hat, nicht so sollte handeln dürfen, wie es seine aufrichtigen Überzeugungen verlangen; aber es hat mich ‚dort‘ niemand über Ihren Charakter aufgeklärt, und ich habe ‚von dort‘ noch keine derartigen Aufträge übernommen. Erwägen Sie nur selbst: statt Ihnen als erstem die zwei Namen anzugeben, hätte ich auch direkt ‚dorthin‘ einen Wink geben können, nämlich dorthin, wo ich gleich zuerst meine Erklärungen abgegeben habe; und wenn ich eine Verbesserung meiner Finanzen oder sonst einen Vorteil im Auge gehabt hätte, so wäre mein jetziges Verfahren ein Rechenfehler; denn dankbar werden die Herren dort jetzt nicht mir sein, sondern Ihnen. Ich handle so einzig und allein, um Schatow zu retten,“ fügte Peter Stepanowitsch mit edler Wärme hinzu, „nur um Schatows willen, in Erinnerung an unsere frühere Freundschaft … Na, und wenn Sie die Feder ergreifen, um ‚dorthin‘ zu berichten, dann loben Sie mich ein bißchen, wenn Sie wollen … ich werde nichts dagegen haben, he-he! Aber nun adieu; ich habe gar zu lange dagesessen und hätte nicht soviel schwatzen sollen!“ fügte er nicht ohne Anmut hinzu und stand vom Sofa auf.

„Im Gegenteil, ich freue mich sehr, daß die Angelegenheit sozusagen geordnet ist,“ sagte v. Lembke, indem er sich ebenfalls mit freundlicher Miene erhob, offenbar unter der Einwirkung der letzten Worte. „Ich nehme Ihren Dienst dankbar an; und seien Sie überzeugt, daß alles, was meinerseits hinsichtlich einer Äußerung über Ihren Eifer geschehen kann …“

„Sechs Tage, das ist die Hauptsache; sechs Tage Frist, und daß Sie sich diese sechs Tage still verhalten; das ist's, was ich brauche.“

„Nun gut.“

„Natürlich binde ich Ihnen nicht die Hände; wie könnte ich das wagen? Sie werden es nicht unterlassen können, der Sache nachzuspüren; nur erschrecken Sie das Nest nicht vor der Zeit; in diesem Punkte verlasse ich mich auf Ihre Klugheit und auf Ihre Erfahrung. Aber Sie haben gewiß eine Menge eigener Spürhunde aller Art bereit, he-he!“ platzte Peter Stepanowitsch, wie junge Menschen eben sind, heiter und leichtfertig heraus.

„Ganz so ist es denn doch nicht,“ erwiderte Lembke, liebenswürdig ausweichend. „Das pflegen sich junge Leute so einzubilden, daß wir immer einen großen Apparat in Bereitschaft haben … Aber, apropos, gestatten Sie noch ein Wort: wenn dieser Kirillow Stawrogins Sekundant war, dann ist wohl auch Herr Stawrogin …“

„Was ist mit Stawrogin?“

„Ich meine, wenn sie miteinander so befreundet sind?“

„Ach nein, nein, nein! Da haben Sie trotz all Ihrer Schlauheit doch fehlgeschossen. Ich muß mich sogar darüber wundern. Ich glaubte ja, daß Sie hierüber orientiert wären … Hm … Stawrogin ist das vollständige Gegenteil, aber das vollständige … Avis au lecteur."

„Wirklich? Ist das möglich?“ fragte Lembke mißtrauisch. „Julija Michajlowna hat mir mitgeteilt, nach Nachrichten, die sie aus Petersburg erhalten habe, sei er sozusagen mit gewissen Instruktionen hergekommen …“

„Ich weiß nichts, nichts weiß ich, gar nichts! Adieu! Avis au lecteur!" rief Peter Stepanowitsch, der Frage unverhohlen ausweichend.

Er lief zur Tür.

„Gestatten Sie, Peter Stepanowitsch, gestatten Sie!“ rief ihm Lembke nach. „Noch eine ganz kleine amtliche Sache, und dann werde ich Sie nicht mehr aufhalten.“

Er nahm aus dem Tischkasten ein Kuvert.

„Hier ist noch ein eigentümliches Exemplar aus derselben Kategorie, und ich beweise Ihnen damit, daß ich Ihnen im höchsten Grade vertraue. Sehen Sie es an, und sagen Sie mir Ihre Meinung darüber!“

In dem Kuvert steckte ein Brief, ein seltsamer, anonymer, an Lembke adressierter Brief, der ihm erst tags zuvor zugegangen war. Peter Stepanowitsch las zu seinem größten Ärger Folgendes:

„Exzellenz!

Denn dem Range nach sind Sie das. Hiermit mache ich Anzeige von einem Anschlage auf das Leben hochgestellter Persönlichkeiten und des Vaterlandes; denn dazu führt es direkt. Ich selbst habe viele Jahre lang fortwährend welche ausgestreut. Auch Gottlosigkeit ist dabei. Es wird eine Rebellion vorbereitet; es sind mehrere tausend Proklamationen da, und hinter jeder werden hundert Menschen jappend herlaufen, wenn die Behörde sie nicht vorher wegnimmt; denn es sind eine Menge Belohnungen versprochen, und das gewöhnliche Volk ist dumm, und dann noch der Branntwein. Das Volk, das sich fragt, wer der Schuldige ist, wird den einen und den andern zu Grunde richten und da ich vor beiden Seiten in Furcht bin, so habe ich bereut, woran ich nicht teilgenommen habe; denn meine Verhältnisse sind nun einmal von der Art. Wenn Sie wollen, daß eine Anzeige erfolgt zur Rettung des Vaterlandes, sowie auch der Kirchen und Heiligenbilder, so bin ich der einzige, der das tun kann. Aber nur unter der Bedingung, daß mir vom Ministerium des Innern telegraphisch Verzeihung erteilt wird, sofort, mir allein von allen; die andern mögen sich verantworten. Stellen Sie als Signal jeden Abend um sieben Uhr ein Licht ins Fenster beim Portier. Wenn ich das sehe, werde ich Vertrauen haben und hinkommen, um die barmherzige Hand aus der Hauptstadt zu küssen, aber unter der Bedingung, daß ich eine Pension bekomme; denn wovon soll ich leben? Sie selbst werden es nicht zu bereuen haben; denn für Sie wird dabei ein hoher Orden herauskommen. Es muß ganz im stillen verfahren werden; sonst drehen sie einem das Genick um.

Euer Exzellenz verzweifelter Mensch
fällt zu Ihren Fußspuren nieder

der reuige Freidenker Incognito.“

Herr v. Lembke erwähnte, der Brief sei gestern in die Portierloge hineingelegt worden in einem Augenblicke, als niemand darin gewesen sei.

„Wie denken Sie denn darüber?“ fragte Peter Stepanowitsch in beinah grobem Tone.

„Ich möchte meinen, daß es ein anonymes Pasquill ist, ein Verspottung.“

„Das wird das Wahrscheinlichste sein. Sie führt man nicht hinter das Licht.“

„Ich glaube das besonders deshalb, weil es so dumm ist.“

„Haben Sie hier schon andere Pasquille erhalten?“

„Ja, zweimal, beide anonym.“

„Na, natürlich tragen sie keine Unterschrift. In verschiedenem Stil und in verschiedener Handschrift?“

„Ja, in verschiedenem Stil und in verschiedener Handschrift.“

„Und waren die auch so possenhaft wie dieses hier?“

„Ja, das waren sie, und, wissen Sie, sehr garstig.“

„Na, wenn Sie sonst schon welche bekommen haben, dann wird wohl auch dies eines sein.“

„Ich glaube das hauptsächlich deswegen, weil es so dumm ist. Denn jene Leute sind gebildet und schreiben sicherlich nicht so dumm.“

„Na ja, na ja.“

„Wie aber, wenn da wirklich jemand eine Anzeige erstatten will?“

„Das ist unwahrscheinlich,“ antwortete Peter Stepanowitsch kurz und trocken. „Was bedeutet denn das Telegramm aus dem Ministerium des Innern und die Pension? Ein offenkundiges Pasquill.“

„Ja, ja,“ stimmte ihm Lembke beschämt bei.

„Wissen Sie was? Überlassen Sie das Schriftstück mir! Ich werde Ihnen den Verfasser mit Sicherheit ausfindig machen. Noch bevor ich die andern herausbekomme.“

„Nehmen Sie es!“ willigte v. Lembke ein, wiewohl nach einigem Zaudern.

„Haben Sie es schon jemandem gezeigt?“

„Nein, nach Möglichkeit niemandem.“

„Also doch Ihrer Frau Gemahlin?“

„Ach, Gott soll mich bewahren, und zeigen auch Sie es ihr um des Himmels willen nicht!“ rief Lembke ängstlich. „Es würde sie so angreifen … und sie würde auf mich furchtbar aufgebracht sein.“

„Ja, Sie würden der erste sein, der es von ihr abbekäme; sie würde sagen, Sie seien selbst schuld daran, wenn Ihnen solche Briefe geschrieben würden. Man kennt ja die Logik der Frauen. Nun, leben Sie wohl! Ich werde Ihnen vielleicht schon in drei Tagen diesen Verfasser vorstellen. Die Hauptsache bleibt unsere Verabredung.“