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viertes Kapitel

Der letzte Beschluß

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An diesem Tage sahen viele Peter Stepanowitsch; diejenigen, die ihn gesehen hatten, erinnerten sich, daß er sich in höchst aufgeregtem Zustande befunden hatte. Um zwei Uhr nachmittags kam er zu Gaganow gelaufen, der erst am Tage zuvor vom Lande angekommen war, und in dessen Hause sich eine große Menge von Besuchern zusammenfand, die viel und heftig über die soeben stattgefundenen Ereignisse debattierten. Peter Stepanowitsch redete am meisten von allen und brachte die andern dazu, ihm zuzuhören. Man hatte ihn bei uns immer für einen »geschwätzigen, ein bißchen verdrehten Studenten« gehalten; aber jetzt sprach er über Julija Michailowna, und bei dem allgemeinen Wirrwarr war das ein fesselndes Thema. In seiner Eigenschaft als ihr intimer Vertrauter in der letzten Zeit, teilte er über sie viele ganz neue und überraschende Einzelheiten mit; unabsichtlich (und natürlich unvorsichtigerweise) berichtete er mehrere private Äußerungen dieser Dame über einige in der Stadt allgemein bekannte Persönlichkeiten, wodurch deren Ehrgefühl verletzt wurde. Es kam bei ihm alles unklar und verworren heraus wie bei einem nicht allzu klugen Menschen, der sich als ehrlicher Mensch in die peinliche Notwendigkeit versetzt sieht, mit einem Male einen ganzen Berg von Zweifeln aufzuklären, und in seiner Einfalt und Ungeschicklichkeit selbst nicht weiß, womit er anfangen und aufhören soll. Ziemlich unvorsichtig ließ er sich auch die Bemerkung entschlüpfen, daß Julija Michailowna um Stawrogins ganzes Geheimnis gewußt habe, und daß sie es gewesen sei, die die ganze Intrige geleitet hätte. Sie habe auch ihn, Peter Stepanowitsch, da er selbst in diese unglückliche Lisa verliebt gewesen sei, mit hineingezogen und ihn dabei dermaßen »eingewickelt«, daß er sie »beinahe« in einem Wagen zu Stawrogin hingebracht habe. »Ja, ja, Sie haben gut lachen, meine Herren; wenn ich nur gewußt hätte, wie die Sache enden würde, ja, wenn ich das nur gewußt hätte!« schloß er. Auf verschiedene dringende Fragen nach Stawrogin erklärte er geradezu, die Katastrophe mit Lebjadkin sei seiner Meinung nach ein reiner Zufall, und Lebjadkin selbst sei an allem dadurch schuld, daß er Geld gezeigt habe. Diesen Punkt setzte er besonders gut auseinander. Einer der Zuhörer bemerkte ihm, er gebe sich vergebens soviel Mühe sich zu verstellen; er habe in Julija Michailownas Hause gegessen, getrunken, ja beinahe geschlafen, und jetzt sei er der erste, der sie anschwärze; dieses Verhalten sei ganz und gar nicht so schön, wie er meine. Aber Peter Stepanowitsch verteidigte sich sofort:

»Ich habe dort nicht etwa deshalb gegessen und getrunken, weil ich kein Geld gehabt hatte, und ich kann nichts dafür, daß man mich einlud. Gestatten Sie, daß ich selbst beurteile, inwieweit ich dafür dankbar zu sein habe.«

Im allgemeinen hinterließ er einen günstigen Eindruck: »Er ist ja ein alberner Patron und gewiß ein hohler Geselle; aber was kann er für Julija Michailownas Dummheiten? Im Gegenteil sieht man ja, daß er sie zurückzuhalten gesucht hat.«

Gegen zwei Uhr nachmittags verbreitete sich die Nachricht, daß Stawrogin, über den soviel geredet wurde, plötzlich mit dem Mittagszuge nach Petersburg gefahren sei. Das erregte großes Aufsehen; viele runzelten die Stirn. Peter Stepanowitsch war dermaßen überrascht, daß, wie man erzählt, sein Gesicht sich ganz verzerrte und er sonderbarerweise ausrief: »Wie hat man ihn denn weglassen können?« Er lief sogleich von Gaganow fort. Indessen sah man ihn noch in zwei oder drei anderen Häusern.

Um die Dämmerstunde fand er die Möglichkeit, auch zu Julija Michailowna durchzudringen, wiewohl nur mit der größten Mühe, da sie ihn entschieden nicht empfangen wollte. Erst drei Wochen später erfuhr ich von diesem Zusammensein, und zwar aus ihrem eigenen Munde, vor ihrer Abreise nach Petersburg. Sie teilte mir keine Einzelheiten darüber mit, bemerkte aber, noch nachträglich zitternd, er habe sie damals in ein maßloses Erstaunen versetzt. Ich nehme an, daß er sie einfach durch die Drohung erschreckt hat, sie als Helfershelferin zu denunzieren, falls sie sich beikommen ließe zu »reden«. Die Notwendigkeit, sie einzuschüchtern, hing eng mit seinen damaligen Plänen zusammen, die ihr selbstverständlich unbekannt waren, und erst später, nach fünf Tagen, erriet sie, warum er ihrer Verschwiegenheit so sehr gemißtraut und neue Ausbrüche ihres Unwillens so sehr gefürchtet hatte.

Zwischen sieben und acht Uhr abends, als es bereits ganz dunkel geworden war, versammelten sich am Rande der Stadt in der Fomin-Gasse, in einem kleinen, schief gewordenen Häuschen, in der Wohnung des Fähnrichs Erkel die »Unsrigen« vollzählig als Fünferkomitee. Obwohl Peter Stepanowitsch diese Versammlung selbst angesetzt hatte, verspätete er sich doch in unverzeihlicher Weise, und die Mitglieder mußten eine Stunde lang auf ihn warten. Dieser Fähnrich Erkel war jener selbe von auswärts gekommene junge Offizier, der an dem Abende bei Wirginski die ganze Zeit über mit dem Bleistifte in der Hand und mit dem Notizbuche vor sich dagesessen hatte. Er war erst vor kurzem in die Stadt gekommen, hatte sich ganz allein in einer stillen Gasse bei zwei Schwestern, alten Kleinbürgerinnen, eingemietet und mußte bald wieder abreisen; bei ihm zusammenzukommen konnte am wenigsten Aufmerksamkeit erregen. Dieser sonderbare junge Mensch zeichnete sich durch eine ganz ungewöhnliche Schweigsamkeit aus: er konnte zehn Abende hintereinander in lärmender Gesellschaft und bei den interessantesten Gesprächen dasitzen, ohne selbst ein Wort zu sagen, wobei er aber mit der größten Aufmerksamkeit seine kindlichen Augen auf die Redenden richtete und zuhörte. Er hatte ein sehr hübsches und sogar ein sehr kluges Gesicht. Zum Fünferkomitee gehörte er nicht; die »Unsrigen« nahmen an, daß er irgendwelche besonderen Aufträge rein exekutiver Art habe. Jetzt ist bekannt, daß er keinerlei Aufträge hatte, ja schwerlich selbst seine Lage begriff. Er beugte sich nur vor Peter Stepanowitsch, den er erst vor kurzem kennen gelernt hatte. Wäre er mit einem vorzeitig sittlich verdorbenen Menschen zusammengekommen und hätte ihn dieser unter irgendeinem sozialistisch und romantisch klingenden Vorwande dazu angeregt, eine Räuberbande zu bilden, und ihm als Probestück befohlen, den ersten besten Bauer totzuschlagen und auszuplündern, so wäre er unfehlbar hingegangen und hätte das gehorsam ausgeführt. Er hatte irgendwo eine kranke Mutter wohnen, der er die Hälfte seines kärglichen Gehaltes schickte; — und wie mochte sie diesen armen Blondkopf küssen und für ihn zittern und für ihn beten! Ich habe über ihn so ausführlich gesprochen, weil er mir sehr leid tut.

Die »Unsrigen« befanden sich in großer Aufregung. Die Ereignisse der vorhergehenden Nacht waren ihnen überraschend gekommen und schienen sie ängstlich gemacht zu haben. Der einfache, wiewohl systematisch organisierte Skandal, an dessen Vorbereitung sie sich bisher so eifrig beteiligt hatten, hatte sich in einer für sie unerwarteten Weise entwickelt. Die nächtliche Feuersbrunst, die Ermordung der beiden Lebjadkins, die Gewalttätigkeit der Menge gegen Lisa, all das waren Überraschungen, die in ihrem Programm nicht vorgesehen gewesen waren. Mit Heftigkeit beschuldigten sie die Hand, die sie leitete, des Despotismus und der Unaufrichtigkeit. Kurz, während sie auf Peter Stepanowitsch warteten, hetzten sie einander dergestalt auf, daß sie wieder beschlossen, ihn noch einmal energisch um eine unumwundene Erklärung zu ersuchen und, wenn er wieder ausweichen sollte, wie das schon dagewesen war, sogar das Fünferkomitee aufzulösen, aber mit der Absicht, an seiner Statt eine neue geheime Gesellschaft »der Propaganda der Idee« zu gründen, und zwar auf eigene Hand und auf den Prinzipien der Gleichberechtigung und der Demokratie. Liputin, Schigalew und der Kenner des Volkes unterstützten diesen Gedanken ganz besonders; Ljamschin verhielt sich schweigsam, wiewohl er eine zustimmende Miene machte. Wirginski schwankte und wünschte zunächst Peter Stepanowitsch zu hören. Man entschied sich dafür, Peter Stepanowitsch zu hören; aber dieser kam immer noch nicht; durch eine derartige Rücksichtslosigkeit wurde die Erbitterung noch gesteigert. Erkel schwieg vollständig und beschränkte sich darauf, Tee zu reichen, den er von seinen Wirtinnen eigenhändig in Gläsern auf einem Präsentierbrett holte; einen Samowar hatte er nicht hereingebracht, auch ließ er die Magd nicht ins Zimmer.

Peter Stepanowitsch erschien erst um halb neun. Mit schnellen Schritten ging er zu dem runden Sofatisch, an dem die Gesellschaft Platz genommen hatte; er behielt seine Mütze in der Hand und lehnte den Tee ab. Seine Miene war ärgerlich, streng und hochmütig. Wahrscheinlich hatte er sofort an den Gesichtern gemerkt, daß sie »rebellierten«.

»Ehe ich den Mund auftue, packen Sie Ihren Kram aus; Sie haben etwas vor,« bemerkte er mit einem boshaften Lächeln, indem er seinen Blick über die Gesichter schweifen ließ.

Liputin begann »im Namen aller« und erklärte mit einer Stimme, die im Gefühl der erlittenen Kränkung zitterte, wenn das so weitergehe, könne man sich selbst die Stirn zerschlagen. Oh, sie fürchteten sich ganz und gar nicht davor, sich die Stirn zu zerschlagen, und seien sogar dazu bereit, aber einzig und allein für die gemeinsame Sache (allgemeine Bewegung und Zustimmung). Aber deshalb müsse man auch ihnen gegenüber aufrichtig sein, damit sie immer im voraus unterrichtet seien; was solle sonst daraus werden? (wieder Bewegung, einige Kehllaute). »Ein solches Verfahren ist demütigend und gefährlich. Wir sagen das durchaus nicht, weil wir Furcht hätten; aber wenn nur ein einziger handelt und alle übrigen weiter nichts als Steine im Brett sind, dann kann es kommen, daß der eine einen Fehler macht und alle dadurch zugrunde gehen.« (Zurufe: »Ja, ja!« Allgemeine Zustimmung.)

»Hol's der Teufel, was wollen Sie denn eigentlich?«

»Welche Beziehung zur gemeinsamen Sache«, fuhr Liputin fort, der vor Wut kochte, »haben die Intrigen dieses Herrn Stawrogin? Mag er auch auf irgendwelche geheime Weise zur Zentrale gehören, falls überhaupt diese phantastische Zentrale wirklich existiert; indes das wollen wir gar nicht wissen. Aber inzwischen ist ein Mord begangen, die Polizei ist in Bewegung gekommen, und man wird dem Faden nachgehen bis zum Knäuel.«

»Sie werden mit Stawrogin zugrunde gehen, und wir ebenfalls,« fügte der Kenner des Volkes hinzu.

»Und ohne allen Nutzen für die gemeinsame Sache,« schloß Wirginski in trübem Tone.

»Was ist das für Unsinn! Der Mord ist ein zufälliges Ereignis; Fedka hat ihn begangen, um zu rauben.«

»Hm! Es ist doch ein sonderbares Zusammentreffen,« sagte Liputin, sich zusammenkrümmend.

»Na, man kann sogar sagen, daß gerade Sie die Schuld an dem Morde tragen.«

»Wieso? Was soll das heißen?«

»Erstens haben Sie, Liputin, sich selbst an dieser Intrige beteiligt, und zweitens, was die Hauptsache ist, war Ihnen befohlen worden, Lebjadkin wegzuschaffen, und es war Ihnen zu diesem Zwecke Geld gegeben worden; aber was taten Sie? Hätten Sie ihn weggeschafft, dann wäre nichts passiert.«

»Aber haben denn nicht Sie selbst den Gedanken ausgesprochen, daß es gut wäre, wenn man ihn das Gedicht vorlesen ließe?«

»Ein Gedanke ist kein Befehl. Der Befehl lautete, Sie sollten ihn wegschaffen.«

»Der Befehl! Ein recht sonderbarer Ausdruck! … Vielmehr haben Sie mir ausdrücklich befohlen, die Wegschaffung zu verschieben.«

»Sie irren sich und reden töricht und eigenwillig. Der Mord aber ist Fedkas Tat, und er hat sie ganz allein begangen, um zu rauben. Sie haben auf das Gerede der Menschen hingehört und es geglaubt. Sie haben es mit der Angst bekommen. Stawrogin ist nicht so dumm; und der Beweis dafür ist, daß er heute um zwölf Uhr mittags nach einem Gespräche mit dem Vizegouverneur weggefahren ist; wenn irgend etwas gegen ihn vorläge, hätte man ihn nicht am hellen, lichten Tage nach Petersburg fahren lassen.«

»Wir behaupten ja auch gar nicht, daß Herr Stawrogin den Mord selbst begangen hat,« erwiderte Liputin giftig und ohne sich zu genieren. »Möglicherweise hat er nicht einmal etwas davon gewußt, ebensowenig wie ich; und das ist Ihnen selbst sehr wohl bekannt, daß ich nichts davon gewußt habe, obgleich ich wie ein Hammel von selbst in den Kochkessel hineingestiegen bin.«

»Wen beschuldigen Sie denn?« fragte Peter Stepanowitsch, ihn finster anblickend.

»Eben diejenigen, die für nötig gehalten haben die Stadt anzuzünden.«

»Das Schlimmste ist, daß Sie sich so gewundener Ausdrücke bedienen. Wollen Sie übrigens dies hier gefälligst lesen und es den andern zeigen: nur so zur Kenntnisnahme.«

Er zog Lebjadkins anonymen Brief an Lembke aus der Tasche und übergab ihn Liputin. Dieser las ihn durch, wunderte sich offenbar sehr und gab ihn seinem Nachbar; der Brief machte schnell die Runde.

»Ist das wirklich Lebjadkins Handschrift?« bemerkte Schigalew.

»Ja, es ist seine Handschrift,« erklärten Liputin und Tolkatschenko (das heißt der Kenner des Volkes).

»Ich wollte Ihnen den Brief nur zur Kenntnisnahme vorlegen, und weil ich weiß, daß Sie an Lebjadkins Schicksal so herzlichen Anteil nehmen,« sagte Peter Stepanowitsch, als er den Brief wieder in Empfang nahm. »Auf diese Weise, meine Herren, hat ein gewisser Fedka uns ganz zufällig von einem gefährlichen Menschen befreit. Da sieht man, was der Zufall manchmal zu bedeuten hat! Nicht wahr, das ist lehrreich?«

Die Mitglieder wechselten untereinander schnelle Blicke.

»Aber jetzt, meine Herren, ist die Reihe zu fragen an mir,« fuhr Peter Stepanowitsch fort und nahm eine würdevolle Haltung an. »Gestatten Sie die Frage, wie Sie dazu gekommen sind, die Stadt ohne Erlaubnis in Brand zu stecken?«

»Was soll das heißen? Wir, wir sollen die Stadt in Brand gesteckt haben? Sie sind wohl nicht bei Troste!« riefen die Versammelten durcheinander.

»Ich weiß ja, daß Sie schon gar zu übermütig geworden sind,« fuhr Peter Stepanowitsch hartnäckig fort; »aber das ist doch eine andere Sache als die kleinen Skandälchen, die Sie sich mit Julija Michailowna erlaubt haben. Ich habe Sie hier versammelt, meine Herren, um Ihnen die Größe der Gefahr darzulegen, die Sie so törichterweise auf sich heraufbeschwören, und die auch außer Ihnen nur zu vieles bedroht.«

»Erlauben Sie, wir beabsichtigten jetzt eben im Gegenteil bei Ihnen Verwahrung einzulegen gegen den Despotismus und die Überhebung, womit über die Köpfe der Mitglieder hinweg eine so ernste und gleichzeitig so sonderbare Maßregel ergriffen worden ist,« erklärte der bis dahin so schweigsame Wirginski ganz empört.

»Also Sie leugnen es? Aber ich behaupte, daß Sie die Stadt angezündet haben, Sie allein und kein anderer. Meine Herren, lügen Sie nicht; ich habe zuverlässige Beweise. Durch Ihre Eigenmächtigkeit haben Sie sogar die gemeinsame Sache in Gefahr gebracht. Sie sind nur eine einzelne Masche in einem gewaltigen Netze und der Zentrale gegenüber zu blindem Gehorsam verpflichtet. Trotzdem haben drei von Ihnen Schpigulinsche Arbeiter zur Brandstiftung aufgereizt, ohne dazu die geringste Instruktion zu besitzen, und so hat denn die Brandstiftung auch wirklich stattgefunden.«

»Welche drei? Welche drei von uns?«

»Vorgestern zwischen drei und vier Uhr in der Nacht haben Sie, Tolkatschenko, den Fabrikarbeiter Fomka Sawjalow im ‚Vergißmeinnicht‘ dazu beredet.«

»Aber ich bitte Sie!« rief dieser, halb aufspringend, »ich habe kaum ein Wort zu ihm gesagt, und auch das ohne besondere Absicht, nur so, weil er am Morgen durchgepeitscht worden war; und ich habe die Sache sofort wieder fallen lassen, da ich sah, daß er zu betrunken war. Wenn Sie mich nicht daran erinnert hätten, würde ich die Sache vollständig vergessen haben. Von einem Worte konnte nichts anbrennen.«

»Sie reden gerade wie jener, der sich darüber wunderte, daß von einem einzigen Fünkchen ein ganze Pulverfabrik in die Luft geflogen war.«

»Ich habe es flüsternd gesagt und in einer Ecke, ihm ins Ohr; wie haben Sie es wiedererfahren können?« fragte auf einmal Tolkatschenko, der sich das vergebens überlegt hatte.

»Ich habe dort unter dem Tische gesessen. Beunruhigen Sie sich nicht, meine Herren, ich kenne alle Ihre Schritte. Sie lächeln boshaft, Herr Liputin? Aber ich weiß zum Beispiel, daß Sie vorvorgestern um Mitternacht in Ihrem Schlafzimmer, als Sie sich zu Bette legten, Ihre Frau arg gekniffen haben.«

Liputin sperrte den Mund auf und wurde blaß.

(Später wurde bekannt, daß er von Liputins Heldentat durch Agasja, dessen Dienstmädchen, erfahren hatte, der er gleich von Anfang an Geld für Spionendienste bezahlt hatte, was sich erst in der Folge herausstellte.)

»Darf auch ich eine Tatsache konstatieren?« fragte Schigalew, indem er sich erhob.

»Tun Sie das!«

Schigalew setzte sich und machte sich fertig:

»Soweit ich es verstanden habe, und es war ja auch nicht mißzuverstehen, haben Sie selbst am Anfang und nachher noch einmal mit sehr beredten Worten, wiewohl nur rein theoretisch, ein Bild von Rußland entworfen, das mit einem gewaltigen, maschenreichen Netze bedeckt sei. Jede der tätigen Gruppen habe ihrerseits die Aufgabe, Proselyten zu machen, sich durch seitliche Verzweigungen auszudehnen und durch eine systematische, sich gegen alle Mißbräuche richtende Propaganda ununterbrochen das Ansehen der örtlichen Behörden zu erschüttern, in den Ortschaften Mißtrauen zu erregen, Zynismus und Skandalgeschichten, völligen Unglauben an alles Mögliche, sowie die Begierde nach etwas Besserem hervorzurufen und schließlich durch das Operieren mit Brandstiftungen als dem volkstümlichsten Mittel das Land im vorgeschriebenen Augenblicke nötigenfalls sogar in Verzweiflung zu stürzen. Sind das Ihre Worte? Ich habe mich bemüht, sie buchstäblich im Gedächtnisse zu behalten. Ist das Ihr Aktionsprogramm, das Sie uns in Ihrer Eigenschaft als Bevollmächtigter des zentralen, aber uns bisher völlig unbekannten und für uns beinah phantastischen Komitees mitgeteilt haben?«

»Es ist richtig; nur treten Sie die Sache zu breit.«

»Ein jeder hat das Recht, sich in seiner Weise auszusprechen. Indem Sie uns zu verstehen gaben, daß solcher einzelnen Maschen des allgemeinen Netzes, das schon jetzt Rußland überziehe, zur Zeit mehrere Hunderte beständen, und indem Sie die Anschauung entwickelten, daß, wenn ein jeder seine Sache prompt ausführe, ganz Rußland im gegebenen Augenblicke auf ein Signal …«

»Ach, hol's der Teufel, ich habe auch schon ohne Sie genug zu tun!« rief Peter Stepanowitsch, sich auf seinem Lehnstuhl ungeduldig hin und her drehend.

»Nun gut, ich werde mich kurz fassen und schließe mit einer Frage: wir haben hier bereits Skandalgeschichten erlebt; wir haben die Unzufriedenheit der Einwohnerschaft gesehen; wir sind bei dem Zusammenbruch der hiesigen Regierungsbehörde zugegen gewesen und haben daran teilgenommen; und wir haben schließlich mit eigenen Augen eine Feuersbrunst gesehen. Womit sind Sie denn unzufrieden? Ist das nicht Ihr Programm? Was können Sie uns für einen Vorwurf machen?«

»Den Vorwurf der Eigenmächtigkeit!« schrie Peter Stepanowitsch wütend. »Solange ich hier bin, dürfen Sie nicht wagen, ohne meine Erlaubnis zu handeln. Aber genug davon! Eine Denunziation steht unmittelbar bevor, und vielleicht schon morgen oder heute nacht werden Sie festgenommen werden. Nun wissen Sie es! Die Nachricht ist zuverlässig.«

Jetzt sperrten alle den Mund auf.

»Sie werden nicht nur als Aufhetzer zur Brandstiftung, sondern auch als Fünferkomitee festgenommen werden. Dem Denunzianten ist das ganze Geheimnis des Netzes bekannt. Das haben Sie mit Ihren Streichen angerichtet!«

»Gewiß Stawrogin!« rief Liputin.

»Wie? … Warum Stawrogin?« Peter Stepanowitsch schien zu stocken. »Unsinn!« fuhr er, sich sogleich besinnend, fort, »es ist Schatow! Es ist Ihnen wohl schon allen bekannt, daß Schatow früher dem Bunde angehörte. Ich muß Ihnen die Enthüllung machen, daß ich ihn durch Personen, gegen die er keinen Argwohn hegt, habe beobachten lassen und zu meinem Erstaunen erfahren habe, daß für ihn die Einrichtung des Netzes und kurz gesagt alles kein Geheimnis ist. Um sich von der Anklage wegen früherer Beteiligung zu retten, wird er alle denunzieren. Bisher hat er immer noch geschwankt, und ich habe ihn geschont. Jetzt haben Sie ihn durch diese Feuersbrunst entfesselt: das hat ihm einen starken Eindruck gemacht, und er wird nun nicht mehr schwanken. Schon morgen werden wir als Brandstifter und politische Verbrecher arretiert werden.«

»Ist das sicher? Woher weiß es Schatow?«

Die Aufregung war eine unbeschreibliche.

»Alles ist vollkommen sicher. Ich bin nicht berechtigt, Ihnen meine Wege, und wie ich das alles entdeckt habe, zu enthüllen; aber hören Sie, was ich einstweilen für Sie tun kann: ich kann durch eine bestimmte Persönlichkeit auf Schatow so einwirken, daß er, ganz ohne Verdacht zu schöpfen, die Denunziation noch aufschiebt, aber nicht länger als für einen Tag. Für längere Zeit als einen Tag kann ich es nicht erreichen. Somit können Sie sich bis übermorgen als gesichert betrachten.«

Alle schwiegen.

»Da müßte man ja ihn selbst zum Teufel schicken!« rief als erster Tolkatschenko.

»Das hätte man schon längst tun sollen!« fiel Ljamschin grimmig ein und schlug mit der Faust auf den Tisch.

»Aber wie soll man es machen?« murmelte Liputin.

Peter Stepanowitsch griff diese Frage sofort auf und setzte seinen Plan auseinander. Derselbe bestand darin, Schatow zwecks Übergabe der in seinen Händen befindlichen geheimen Druckerei morgen bei Einbruch der Nacht an den einsamen Ort zu locken, wo sie vergraben war, und »dort dann das Erforderliche zu tun«. Er ging auf viele notwendige Einzelheiten ein, die wir jetzt weglassen, und setzte umständlich die gegenwärtigen zweideutigen Beziehungen Schatows zum Zentralkomitee auseinander, die dem Leser bereits bekannt sind.

»Alles ganz gut,« bemerkte Ljamschin unsicher; »aber wenn da wieder … ein neues Ereignis von derselben Art stattfindet … so wird das die Leute gar zu stutzig machen.«

»Ohne Zweifel,« stimmte ihm Peter Stepanowitsch bei; »aber auch das ist vorhergesehen. Es gibt ein Mittel, um den Verdacht völlig abzulenken.«

Und er erzählte mit derselben Genauigkeit, wie vorher, von Kirillow, von seiner Absicht, sich zu erschießen, und wie er versprochen habe, auf das Signal zu warten und bei seinem Tode ein Schriftstück zu hinterlassen und alles auf sich zu nehmen, was man ihm diktieren werde. (Kurz, alles, was dem Leser bereits bekannt ist.)

»Sein fester Entschluß, sich des Lebens zu berauben, ein philosophischer und meiner Ansicht nach verrückter Entschluß, ist ‚dort‘ bekannt geworden,« fuhr Peter Stepanowitsch in seiner Auseinandersetzung fort. »‚Dort‘ läßt man auch nicht das Kleinste, nicht das Unbedeutendste unbenutzt; alles wird zum Vorteile der gemeinsamen Sache verwertet. Da man den Nutzen vorhersah und sich überzeugt hatte, daß sein Entschluß durchaus ernst ist, so hat man ihm die Mittel zur Rückreise nach Rußland gewährt (er wollte aus irgendwelchem Grunde unbedingt in Rußland sterben), ihm einen Auftrag erteilt, den er sich verpflichtete auszuführen und auch ausgeführt hat, und ihn überdies durch das Ihnen bereits mitgeteilte Versprechen verpflichtet, seinem Leben erst dann ein Ende zu machen, wenn man es ihm sagen werde. Er hat alles versprochen. Beachten Sie, daß er mit unserer gemeinsamen Sache auf besonderer Grundlage in Beziehung steht und sich nützlich zu machen wünscht; mehr darf ich Ihnen nicht enthüllen. Morgen, nach Erledigung der Schatowschen Angelegenheit, werde ich ihm ein Schriftstück diktieren, daß er Schatow umgebracht habe. Das wird sehr glaublich erscheinen: sie sind Freunde gewesen und zusammen nach Amerika gereist; dort haben sie sich entzweit, und das alles wird in dem Schriftstück dargelegt werden … und … und je nach den Umständen werde ich Kirillow auch sonst noch dies und das in die Feder diktieren können, zum Beispiel von den Proklamationen und womöglich auch etwas über die Brandstiftung. Darüber werde ich übrigens noch nachdenken. Beunruhigen Sie sich nicht; er ist frei von Vorurteilen; er wird alles unterschreiben.«

Es wurden Zweifel geäußert. Die Geschichte erschien phantastisch. Über Kirillow hatten übrigens alle schon mehr oder weniger etwas gehört, Liputin das meiste von allen.

»Er wird auf einmal anderen Sinnes werden und nicht wollen,« sagte Schigalew. »So oder so, jedenfalls ist er ein Verrückter und die Hoffnung auf ihn eine unsichere Sache.«

»Seien Sie ohne Sorge, meine Herren; er wird wollen,« erwiderte Peter Stepanowitsch, weitere Einwendungen abschneidend. »Nach der Verabredung bin ich verpflichtet, ihn tags zuvor, also heute noch, zu benachrichtigen. Ich lade Liputin ein, sofort mit mir zu ihm zu gehen und sich zu vergewissern; und bei der Rückkehr wird er dann Ihnen, meine Herren, nötigenfalls heute noch mitteilen, ob ich Ihnen die Wahrheit gesagt habe oder nicht. Übrigens,« unterbrach er sich plötzlich in sehr gereiztem Tone, wie wenn er sich auf einmal bewußt würde, daß er diesen geringwertigen Menschen gar zu viel Ehre antue, wenn er sie so zu überzeugen versuche und sich mit ihnen abmühe, »übrigens mögen Sie handeln, wie es Ihnen beliebt. Wenn Sie sich nicht dazu entschließen können, ist der Bund zerrissen, aber einzig und allein durch Ihren Ungehorsam und Ihre Verräterei. Auf diese Weise sind wir von diesem Augenblicke an geschiedene Leute. Wissen Sie aber, daß Sie in solchem Falle außer der Unannehmlichkeit der Schatowschen Denunziation und ihrer Folgen sich auch noch eine kleine Unannehmlichkeit zuziehen, die bei der Bildung des Bundes klar ausgesprochen worden ist. Was mich anlangt, so fürchte ich mich nicht allzu sehr vor Ihnen, meine Herren … Glauben Sie nicht, daß ich schon so fest mit Ihnen verbunden bin … Übrigens ist das ganz gleichgültig.«

»Nein, wir sind entschlossen,« erklärte Ljamschin.

»Einen anderen Ausweg gibt es nicht,« murmelte Tolkatschenko, »und wenn Liputin das wirklich über Kirillow bestätigt, dann …«

»Ich bin dagegen; aus aller Kraft meiner Seele protestiere ich gegen einen solchen Blutbeschluß!« sagte Wirginski und erhob sich von seinem Platze.

»Aber?« fragte Peter Stepanowitsch.

»Was meinen Sie mit ‚aber‘?«

»Sie sagten ‚aber‘ … und ich warte auf die Fortsetzung.«

»Ich habe, soviel ich weiß, nicht ‚aber‘ gesagt … Ich wollte nur sagen: wenn dieser Beschluß gefaßt wird, dann …«

»Nun, dann?«

Wirginski verstummte.

»Ich meine, man kann die Sicherheit des eigenen Lebens geringschätzen,« sagte Erkel, der plötzlich auch einmal den Mund auftat; »aber wenn die gemeinsame Sache dadurch leiden kann, so darf man, meine ich, die Sicherheit des eigenen Lebens nicht geringschätzen …«

Er verwirrte sich und errötete. Wie sehr auch alle mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt waren, so blickten ihn doch alle erstaunt an; so unerwartet kam es ihnen, daß auch er angefangen hatte zu reden.

»Ich bin für die gemeinsame Sache,« erklärte Wirginski plötzlich.

Alle erhoben sich von ihren Plätzen. Es wurde beschlossen, am nächsten Mittage noch einmal Nachrichten auszutauschen, ohne daß alle an einem Orte zusammenkämen, und dann eine endgültige Verabredung zu treffen. Es wurde der Ort bezeichnet, wo die Druckerei vergraben war, und die Rollen und Obliegenheiten verteilt. Liputin und Peter Stepanowitsch begaben sich unverzüglich zusammen zu Kirillow.