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〈Ausbreitung der Psychoanalyse in Amerika und Europa〉

In den Jahren von 1907 an, die auf den Zusammenschluß der Schulen von Wien und Zürich folgten, nahm die Psychoanalyse jenen außerordentlichen Aufschwung, in dessen Zeichen sie sich heute noch befindet und der ebenso sicher bezeugt ist durch die Verbreitung der ihr dienenden Schriften und die Zunahme der Ärzte, welche sie ausüben oder erlernen wollen, wie durch die Häufung der Angriffe gegen sie auf Kongressen und in gelehrten Gesellschaften. Sie wanderte in die fernsten Länder, schreckte überall nicht nur die Psychiater auf, sondern machte auch die gebildeten Laien und die Arbeiter auf anderen Wissensgebieten aufhorchen. Havelock Ellis, der ihrer Entwicklung mit Sympathie gefolgt war, ohne sich jemals ihren Anhänger zu nennen, schrieb 1911 in einem Bericht an den Australasiatischen medizinischen Kongreß: Freud’s psychoanalysis is now championed and carried out not only in Austria and in Switzerland, but in the United States, in England, in India, in Canada, and, I doubt not, in Australasia.“1 Ein (wahrscheinlich deutscher) Arzt aus Chile trat auf dem internationalen Kongreß in Buenos Aires 1910 für die Existenz der infantilen Sexualität ein und lobte die Erfolge der psychoanalytischen Therapie bei Zwangssymptomen;2 ein englischer Nervenarzt in Zentralindien (Berkeley-Hill) ließ mir durch einen distinguierten Kollegen, der nach Europa reiste, mitteilen, daß die mohammedanischen Hindus, an denen er die Analyse ausübe, keine andere Ätiologie ihrer Neurosen erkennen ließen als unsere europäischen Patienten.

Die Einführung der Psychoanalyse in Nordamerika ging unter besonders ehrenvollen Anzeichen vor sich. Im Herbst 1909 wurden Jung und ich von Stanley Hall, dem Präsidenten der Clark University in Worcester (bei Boston), eingeladen, uns an der zwanzigjährigen Gründungsfeier des Institutes durch Abhaltung von Vorträgen in deutscher Sprache zu beteiligen. Wir fanden zu unserer großen Überraschung, daß die vorurteilslosen Männer jener kleinen, aber angesehenen pädagogisch-philosophischen Universität alle psychoanalytischen Arbeiten kannten und in den Vorträgen für ihre Schüler gewürdigt hatten. In dem so prüden Amerika konnte man wenigstens in akademischen Kreisen alles, was im Leben als anstößig galt, frei besprechen und wissenschaftlich behandeln. Die fünf Vorträge, die ich in Worcester improvisiert habe, erschienen dann im „American Journ. of Psychology“ in englischer Übersetzung, bald darauf deutsch unter dem Titel „Über Psychoanalyse“; Jung las über diagnostische Assoziationsstudien und über ‚Konflikte der kindlichen Seele‘. Wir wurden dafür mit dem Ehrentitel von LL. D. (Doktoren beider Rechte) belohnt. Die Psychoanalyse war während jener Festwoche in Worcester durch fünf Personen vertreten, außer Jung und mir waren es Ferenczi, der sich mir als Reisebegleiter angeschlossen hatte, Ernest Jones, damals an der Universität in Toronto (Kanada), jetzt in London, und A. Brill, der bereits in New York analytische Praxis ausübte.

Die bedeutsamste persönliche Beziehung, die sich in Worcester noch ergab, war die zu James J. Putnam, dem Lehrer der Neuropathologie an der Harvard University, der vor Jahren ein abfälliges Urteil über die Psychoanalyse ausgesprochen hatte, sich jetzt aber rasch mit ihr befreundete und sie in zahlreichen inhaltreichen wie formschönen Vorträgen seinen Landsleuten und Fachgenossen empfahl. Der Respekt, den sein Charakter ob seiner hohen Sittlichkeit und kühnen Wahrheitsliebe in Amerika genoß, kam der Psychoanalyse zugute und deckte sie gegen die Denunziationen, denen sie sonst wahrscheinlich zeitig erlegen wäre. Putnam hat dann später dem großen ethischen und philosophischen Bedürfnis seiner Natur allzusehr nachgegeben und an die Psychoanalyse die, wie ich meine, unerfüllbare Forderung gestellt, daß sie sich in den Dienst einer bestimmten sittlich-philosophischen Weltanschauung finden solle; er ist aber die Hauptstütze der psychoanalytischen Bewegung in seinem Heimatlande geblieben.3

Um die Ausbreitung dieser Bewegung erwarben sich dann Brill und Jones die größten Verdienste, indem sie in ihren Arbeiten in selbstverleugnender Emsigkeit die leicht zu beobachtenden Grundtatsachen des Alltagslebens, des Traumes und der Neurose immer wieder von neuem ihren Landsleuten vor Augen führten. Brill hat diese Einwirkung durch seine ärztliche Tätigkeit und durch die Übersetzung meiner Schriften, Jones durch lehrreiche Vorträge und schlagfertige Diskussionen auf den amerikanischen Kongressen verstärkt.4

Der Mangel einer eingewurzelten wissenschaftlichen Tradition und die geringere Strammheit der offiziellen Autorität sind der von Stanley Hall für Amerika gegebenen Anregung entschieden vorteilhaft gewesen. Es war dort auch von allem Anfang an charakteristisch, daß sich Professoren und Leiter von Irrenanstalten in gleichem Maße wie selbständige Praktiker an der Analyse beteiligt zeigten. Aber gerade darum ist es klar, daß der Kampf um die Analyse dort seine Entscheidung finden muß, wo sich die größere Resistenz ergeben hat, auf dem Boden der alten Kulturzentren.

Von den europäischen Ländern hat bisher Frankreich sich am unempfänglichsten für die Psychoanalyse erwiesen, obwohl verdienstvolle Arbeiten des Züricher A. Maeder dem französischen Leser einen bequemen Zugang zu deren Lehren eröffnet hatten. Die ersten Regungen von Teilnahme kamen aus der französischen Provinz. Morichau-Beauchant (Poitiers) war der erste Franzose, der sich öffentlich zur Psychoanalyse bekannte. Régis und Hesnard (Bordeaux) haben erst kürzlich (1914) in einer ausführlichen, nicht immer verständnisvollen Darstellung, die an der Symbolik besonderen Anstoß nimmt, die Vorurteile ihrer Landsleute gegen die neue Lehre zu zerstreuen gesucht. In Paris selbst scheint noch die Überzeugung zu herrschen, der auf dem Londoner Kongreß 1913 Janet so beredten Ausdruck gab, daß alles, was gut an der Psychoanalyse sei, mit geringen Abänderungen die Janetschen Ansichten wiederhole, alles darüber hinaus aber sei von Übel. Janet mußte sich noch auf diesem Kongreß selbst eine Reihe von Zurechtweisungen von E. Jones gefallen lassen, der ihm seine geringe Sachkenntnis vorhalten konnte. Seine Verdienste um die Psychologie der Neurosen können wir trotzdem nicht vergessen, auch wenn wir seine Ansprüche zurückweisen.

In Italien blieb nach einigen vielversprechenden Anfängen die weitere Beteiligung aus. In Holland fand die Analyse durch persönliche Beziehungen frühzeitig Eingang; van Emden, van Ophuijsen, van Renterghem („Freud en zijn School“) und die beiden Stärcke sind dort theoretisch und praktisch mit Erfolg tätig.5 Das Interesse der wissenschaftlichen Kreise Englands für die Analyse hat sich sehr langsam entwickelt, aber alle Anzeichen sprechen dafür, daß ihr gerade dort, begünstigt von dem Sinn der Engländer für Tatsächliches und ihrer leidenschaftlichen Parteinahme für Gerechtigkeit, eine hohe Blüte bevorsteht.

In Schweden hat P. Bjerre, der Nachfolger in der ärztlichen Tätigkeit Wetterstrands, die hypnotische Suggestion für die analytische Behandlung, wenigstens zeitweilig, aufgegeben. R. Vogt (Kristiania) hat bereits 1907 die Psychoanalyse in seinem „Psykiatriens grundtraek“ gewürdigt, so daß das erste Lehrbuch der Psychiatrie, welches von der Psychoanalyse Kenntnis nahm, ein in norwegischer Sprache geschriebenes war. In Rußland ist die Psychoanalyse sehr allgemein bekannt und verbreitet worden; fast alle meine Schriften sowie die anderer Anhänger der Analyse sind ins Russische übersetzt. Ein tieferes Verständnis der analytischen Lehren hat sich aber in Rußland noch nicht ergeben. Die Beiträge russischer Ärzte sind derzeit unbeträchtlich zu nennen. Nur Odessa besitzt in der Person von M. Wulff einen geschulten Analytiker. Die Einführung der Psychoanalyse in die polnische Wissenschaft und Literatur ist hauptsächlich das Verdienst von L. Jekels. Das Österreich geographisch so nahe verbundene, ihm wissenschaftlich so entfremdete Ungarn hat der Psychoanalyse bisher nur einen Mitarbeiter geschenkt, S. Ferenczi, aber einen solchen, der wohl einen Verein aufwiegt.6

Den Stand der Psychoanalyse in Deutschland kann man nicht anders beschreiben, als indem man konstatiert, sie stehe im Mittelpunkte der wissenschaftlichen Diskussion und rufe bei Ärzten wie bei Laien Äußerungen entschiedenster Ablehnung hervor, welche aber bisher kein Ende gefunden haben, sondern sich immer wieder von neuem erheben und zeitweise verstärken. Keine offizielle Lehranstalt hat bisher die Psychoanalyse zugelassen, erfolgreiche Praktiker, die sie ausüben, sind nur in geringer Anzahl vorhanden; nur wenige Anstalten, wie die von Binswanger in Kreuzungen (auf Schweizer Boden), Marcinowski in Holstein, haben sich ihr eröffnet. Auf dem kritischen Boden von Berlin behauptet sich einer der hervorragendsten Vertreter der Analyse, K. Abraham, ein früherer Assistent von Bleuler. Man könnte sich verwundern, daß dieser Stand der Dinge sich nun schon seit einer Reihe von Jahren unverändert erhalten hat, wenn man nicht wüßte, daß die obige Schilderung nur den äußeren Anschein wiedergibt. Man darf die Ablehnung der offiziellen Vertreter der Wissenschaft und der Anstaltsleiter sowie des von ihnen abhängigen Nachwuchses in ihrer Bedeutung nicht überschätzen. Es ist begreiflich, daß die Gegner laut die Stimme erheben, während die Anhänger eingeschüchtert Ruhe halten. Manche der letzteren, deren erste Beiträge zur Analyse gute Erwartungen erwecken mußten, haben sich denn auch unter dem Drucke der Verhältnisse von der Bewegung zurückgezogen. Aber diese selbst schreitet im stillen unaufhaltsam fort, wirbt immer neue Anhänger unter den Psychiatern wie den Laien, führt der psychoanalytischen Literatur eine stetig sich steigernde Anzahl von Lesern zu und nötigt eben darum die Gegner zu immer heftigeren Abwehrversuchen. Ich habe etwa ein Dutzend Male im Laufe dieser Jahre in Berichten über die Verhandlungen bestimmter Kongresse und wissenschaftlicher Vereinssitzungen oder in Referaten nach gewissen Publikationen zu lesen bekommen: nun sei die Psychoanalyse tot, endgültig überwunden und erledigt! Die Antwort hätte ähnlich lauten müssen wie das Telegramm Mark Twains an die Zeitung, welche fälschlich seinen Tod gemeldet hatte: Nachricht von meinem Ableben stark übertrieben. Nach jeder dieser Totsagungen hat die Psychoanalyse neue Anhänger und Mitarbeiter gewonnen oder sich neue Organe geschaffen. Totgesagt war doch ein Fortschritt gegen Totgeschwiegen!


  1. Havelock Ellis, The Doctrines of the Freud School.
  2. G. Greve, „Sobre Psicologia y Psicoterapia de ciertos Estados angustiosos“, Zentralbl. f. Psychoanalyse, Bd. 1, S. 594.
  3. S. J. J. Putnam, „Addresses on Psycho-Analysis“, Internat. Psycho-Analytical Library, Nr. 1, 1921. — Putnam starb 1918.
  4. Die Publikationen beider Autoren sind gesammelt erschienen: Brill, „Psychoanalysis, Its Theories and Practical Applications“, 1912, und E. Jones, „Papers on Psychoanalysis“, 1913. Vom ersten Buch ist 1914, vom anderen 1918 eine sehr verstärkte Second Edition (1938 Fourth) erschienen.
  5. Die erste offizielle Anerkennung, welcher Traumdeutung und Psychoanalyse in Europa teilhaftig wurden, spendete ihnen der Psychiater Jelgersma als Rektor der Universität Leiden in seiner Rektoratsrede vom 9. Februar 1914. („Unbewußtes Geistesleben“, Beihefte der „Intern. Zeitschrift für Psychoanalyse“, Nr. 1.)
  6. [Zusatz 1923:] Es kann nicht meine Absicht sein, diese 1914 entworfene Schilderung up to date zu führen. Nur einzelne Bemerkungen sollen andeuten, wie sich in der Zwischenzeit, die den Weltkrieg einschließt, das Bild geändert hat. In Deutschland setzt sich eine langsame, nicht immer zugestandene Infiltration der analytischen Lehren in die klinische Psychiatrie durch; die in den letzten Jahren erschienenen französischen Übersetzungen meiner Schriften haben endlich auch in Frankreich ein starkes Interesse an der Psychoanalyse erweckt, das derzeit in literarischen Kreisen wirksamer ist als in wissenschaftlichen. In Italien sind M. Levi Bianchini (Nocera sup.) und Edoardo Weiss (Trieste) als Übersetzer und Vorkämpfer der Psychoanalyse aufgetreten („Biblioteca Psicoanalitica Italiana„). Der lebhaften Anteilnahme in den spanischredenden Ländern (Prof. H. Delgado in Lima) trägt eine in Madrid erscheinende Gesamtausgabe meiner Werke Rechnung (übersetzt von Lopez-Ballesteros). Für England scheint sich die oben ausgesprochene Vorhersage stetig zu erfüllen, in Britisch-Indien (Kalkutta) hat sich eine besondere Pflegestätte der Analyse gebildet. Die Vertiefung der Analyse in Nordamerika hält noch immer nicht Schritt mit ihrer Popularität. In Rußland hat die psychoanalytische Arbeit nach dem Umsturz an mehreren Zentren neu begonnen. In polnischer Sprache erscheint jetzt die „Polska Bibljoteka Psychoanalityczna“. In Ungarn ist unter der Leitung von Ferenczi eine glänzende analytische Schule aufgeblüht. (Vgl. „Festschrift zum 50. Geburtstag von Dr. S. Ferenczi“.) Am abweisendsten verhalten sich derzeit noch die skandinavischen Länder.