〈Die Züricher Schule. Bleuler, C. G. Jung〉
Von 1907 an änderte sich die Situation gegen alle Erwartungen und wie mit einem Schlage. Man erfuhr, daß die Psychoanalyse in aller Stille Interesse erweckt und Freunde gefunden habe, ja, daß es wissenschaftliche Arbeiter gebe, welche bereit seien, sich zu ihr zu bekennen. Eine Zuschrift von Bleuler hatte mich schon früher wissen lassen, daß meine Arbeiten im Burghölzli studiert und verwertet würden. Im Januar 1907 kam der erste Angehörige der Züricher Klinik, Dr. Eitingon, nach Wien, es folgten bald andere Besuche, die einen lebhaften Gedankenaustausch anbahnten; endlich kam es über Einladung von C. G. Jung, damals noch Adjunkt am Burghölzli, zu einer ersten Zusammenkunft in Salzburg im Frühjahre 1908, welche die Freunde der Psychoanalyse von Wien, Zürich und anderen Orten her vereinigte. Eine Frucht dieses ersten psychoanalytischen Kongresses war die Gründung einer Zeitschrift, welche als „Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen“, herausgegeben von Bleuler und Freud, redigiert von Jung, im Jahre 1909 zu erscheinen begann. Eine innige Arbeitsgemeinschaft zwischen Wien und Zürich fand in dieser Publikation ihren Ausdruck.
Ich habe die großen Verdienste der Züricher psychiatrischen Schule um die Ausbreitung der Psychoanalyse, des besonderen die von Bleuler und Jung, wiederholt dankend anerkannt und stehe nicht an, dies heute, unter so veränderten Verhältnissen, von neuem zu tun. Gewiß war es nicht erst die Parteinahme der Züricher Schule, welche damals die Aufmerksamkeit der wissenschaftlichen Welt auf die Psychoanalyse richtete. Die Latenzzeit war eben abgelaufen, und an allen Orten wurde die Psychoanalyse Gegenstand eines sich steigernden Interesses. Aber an allen anderen Orten ergab diese Zuwendung von Interesse zunächst nichts anderes als eine meist leidenschaftlich akzentuierte Ablehnung, in Zürich hingegen wurde die prinzipielle Übereinstimmung der Grundton des Verhältnisses. An keiner anderen Stelle fand sich auch ein so kompaktes Häuflein von Anhängern beisammen, konnte eine öffentliche Klinik in den Dienst der psychoanalytischen Forschung gestellt werden oder war ein klinischer Lehrer zu sehen, der die psychoanalytische Lehre als integrierenden Bestandteil in den psychiatrischen Unterricht aufnahm. Die Züricher wurden so die Kerntruppe der kleinen, für die Würdigung der Analyse kämpfenden Schar. Bei ihnen allein war Gelegenheit, die neue Kunst zu erlernen und Arbeiten in ihr auszuführen. Die meisten meiner heutigen Anhänger und Mitarbeiter sind über Zürich zu mir gekommen, selbst solche, die es geographisch weit näher nach Wien hatten als nach der Schweiz. Wien liegt exzentrisch für den Westen Europas, der die großen Zentren unserer Kultur beherbergt; sein Ansehen wird seit vielen Jahren durch schwerwiegende Vorurteile beeinträchtigt. In der geistig so rührigen Schweiz strömen Vertreter der bedeutsamsten Nationen zusammen; ein Infektionsherd an dieser Stelle mußte für die Ausbreitung der psychischen Epidemie, wie Hoche in Freiburg sie genannt hatte, besonders wichtig werden.
Nach dem Zeugnis eines Kollegen, der die Entwicklung im Burghölzli mitgemacht, kann man feststellen, daß die Psychoanalyse dort schon sehr frühzeitig Interesse erweckte. In Jungs 1902 veröffentlichter Schrift über okkulte Phänomene findet sich bereits ein erster Hinweis auf die Traumdeutung. Von 1903 oder 1904 an, berichtet mein Gewährsmann, stand die Psychoanalyse im Vordergrunde. Nach der Anknüpfung persönlicher Beziehungen zwischen Wien und Zürich bildete sich, Mitte des Jahres 1907, auch im Burghölzli ein zwangloser Verein, der in regelmäßigen Zusammenkünften die Probleme der Psychoanalyse diskutierte. Bei der Union, die sich zwischen der Wiener und der Züricher Schule vollzog, waren die Schweizer keineswegs der bloß empfangende Teil. Sie hatten selbst bereits respektable wissenschaftliche Arbeit geleistet, deren Ergebnisse der Psychoanalyse zugute kamen. Das von der Wundtschen Schule angegebene Assoziationsexperiment war von ihnen im Sinne der Psychoanalyse gedeutet worden und hatte ihnen unerwartete Verwertungen gestattet. Es war so möglich geworden, rasche experimentelle Bestätigungen von psychoanalytischen Tatbeständen zu erbringen und einzelne Verhältnisse dem Lernenden zu demonstrieren, von denen der Analytiker nur hätte erzählen können. Es war die erste Brücke geschlagen worden, die von der Experimentalpsychologie zur Psychoanalyse führte.
Das Assoziationsexperiment ermöglicht in der psychoanalytischen Behandlung eine vorläufige qualitative Analyse des Falles, leistet aber keinen wesentlichen Beitrag zur Technik und ist bei der Ausführung von Analysen eigentlich entbehrlich. Bedeutsamer noch war eine andere Leistung der Züricher Schule oder ihrer beiden Führer Bleuler und Jung. Der erstere wies nach, daß bei einer ganzen Anzahl von rein psychiatrischen Fällen die Erklärung durch solche Vorgänge in Betracht käme, wie sie mit Hilfe der Psychoanalyse für den Traum und die Neurosen erkannt worden waren („Freudsche Mechanismen“). Jung wendete das analytische Deutungsverfahren mit Erfolg auf die sonderbarsten und dunkelsten Phänomene der Dementia praecox an, deren Herkunft aus der Lebensgeschichte und den Lebensinteressen der Kranken dann klar zutage trat. Von da an war es den Psychiatern unmöglich gemacht, die Psychoanalyse noch länger zu ignorieren. Das große Werk von Bleuler über die Schizophrenie (1911), in welchem die psychoanalytische Betrachtungsweise gleichberechtigt neben die klinisch-systematische hingestellt wurde, brachte diesen Erfolg zur Vollendung.
Ich will es nicht unterlassen, auf einen Unterschied hinzuweisen, der schon damals in der Arbeitsrichtung der beiden Schulen deutlich war. Ich hatte bereits im Jahre 1897 die Analyse eines Falles von Schizophrenie veröffentlicht, der aber paranoides Gepräge trug, so daß seine Auflösung den Eindruck der Jungschen Analysen nicht vorwegnehmen konnte. Mir war aber nicht die Deutbarkeit der Symptome, sondern der psychische Mechanismus der Erkrankung das Wichtige gewesen, vor allem die Übereinstimmung dieses Mechanismus mit dem bereits erkannten der Hysterie. Auf die Differenzen zwischen den beiden fiel damals noch kein Licht. Ich zielte nämlich bereits zu jener Zeit auf eine Libidotheorie der Neurosen hin, welche alle neurotischen wie psychotischen Erscheinungen aus abnormen Schicksalen der Libido, also aus Ablenkungen derselben von ihrer normalen Verwendung, erklären sollte. Dieser Gesichtspunkt ging den Schweizer Forschern ab. Bleuler hält meines Wissens auch heute an einer organischen Verursachung der Formen von Dementia praecox fest, und Jung, dessen Buch über diese Erkrankung 1907 erschienen war, vertrat 1908 auf dem Salzburger Kongresse die toxische Theorie derselben, die sich, allerdings ohne sie auszuschließen, über die Libidotheorie hinaussetzt. An dem nämlichen Punkte ist er dann später (1912) gescheitert, indem er nun zuviel von dem Stoffe nahm, dessen er sich vorher nicht bedienen wollte.
Einen dritten Beitrag der Schweizer Schule, der vielleicht ganz auf die Rechnung Jungs zu setzen ist, kann ich nicht so hoch einschätzen, wie es von Fernerstehenden geschieht. Ich meine die Lehre von den Komplexen, die aus den „Diagnostischen Assoziationsstudien“ (1906 bis 1910) erwuchs. Sie hat weder selbst eine psychologische Theorie ergeben noch eine zwanglose Einfügung in den Zusammenhang der psychoanalytischen Lehren gestattet. Hingegen hat sich das Wort „Komplex“ als bequemer, oft unentbehrlicher Terminus zur deskriptiven Zusammenfassung psychologischer Tatbestände Bürgerrecht in der Psychoanalyse erworben. Kein anderer der von dem psychoanalytischen Bedürfnis neugeschaffenen Namen und Bezeichnungen hat eine ähnlich weitgehende Popularität erreicht und so viel mißbräuchliche Verwendung zum Schaden schärferer Begriffsbildungen gefunden. Man begann in der Umgangssprache der Psychoanalytiker von „Komplexrückkehr“ zu reden, wo man die „Rückkehr des Verdrängten“ meinte, oder man gewöhnte sich zu sagen: Ich habe einen Komplex gegen ihn, wo es korrekter nur lauten konnte: einen Widerstand.