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〈Ausdehnung der Psychoanalyse auf andere Gebiete der Wissenschaft〉

Gleichzeitig mit der geschilderten räumlichen Expansion der Psychoanalyse vollzog sich deren inhaltliche Ausdehnung durch Übergreifen auf andere Wissensgebiete von der Neurosenlehre und Psychiatrie her. Ich werde dieses Stück der Entwicklungsgeschichte unserer Disziplin nicht eingehend behandeln, weil eine vortreffliche Arbeit von Rank und Sachs (in den Loewenfeldschen „Grenzfragen“) vorliegt, welche gerade diese Leistungen der Analysenarbeit ausführlich darstellt. Es ist hier übrigens alles im ersten Beginn, wenig ausgearbeitet, meist nur Ansätze und mitunter auch nichts anderes als Vorsätze. Wer billig denkt, wird darin keinen Grund zum Vorwurf finden. Den ungeheuren Mengen der Aufgaben steht eine kleine Zahl von Arbeitern gegenüber, von denen die meisten ihre Hauptbeschäftigung anderswo haben und die Fachprobleme der fremden Wissenschaft mit dilettantischer Vorbereitung angreifen müssen. Diese von der Psychoanalyse herkommenden Arbeiter machen aus ihrem Dilettantentum kein Hehl, sie wollen nur Wegweiser und Platzhalter für die Fachmänner sein und ihnen die analytischen Techniken und Voraussetzungen empfohlen haben, wenn sie selbst an die Arbeit gehen werden. Wenn die erzielten Aufschlüsse doch schon jetzt nicht unbeträchtlich sind, so ist dies Resultat einerseits der Fruchtbarkeit der analytischen Methodik, andererseits dem Umstände zu danken, daß es auch jetzt schon einige Forscher gibt, die, ohne Ärzte zu sein, die Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften zu ihrer Lebensaufgabe gemacht haben.

Die meisten dieser Anwendungen gehen, wie begreiflich, auf eine Anregung aus meinen ersten analytischen Arbeiten zurück. Die analytische Untersuchung der Nervösen und der neurotischen Symptome Normaler nötigte zur Annahme psychologischer Verhältnisse, welche unmöglich nur für das Gebiet gelten konnten, auf dem sie kenntlich geworden waren. So schenkte uns die Analyse nicht nur die Aufklärung pathologischer Vorkommnisse, sondern zeigte auch deren Zusammenhang mit dem normalen Seelenleben auf und enthüllte ungeahnte Beziehungen zwischen der Psychiatrie und den verschiedensten anderen Wissenschaften, deren Inhalt eine Seelentätigkeit war. Von gewissen typischen Träumen aus ergab sich z. B. das Verständnis mancher Mythen und Märchen. Riklin und Abraham folgten diesem Winke und leiteten jene Forschungen über die Mythen ein, die dann in den allen fachmännischen Ansprüchen gerechten Arbeiten Ranks zur Mythologie ihre Vollendung fanden. Die Verfolgung der Traumsymbolik führte mitten in die Probleme der Mythologie, des Folklore (Jones, Storfer) und der religiösen Abstraktionen. Auf einem der psychoanalytischen Kongresse machte es allen Zuhörern einen tiefen Eindruck, als ein Schüler Jungs die Übereinstimmung der schizophrenen Phantasiebildungen mit den Kosmogonien primitiver Zeiten und Völker nachwies. Eine nicht mehr einwandfreie, doch sehr interessante Verarbeitung fand später das Material der Mythologien in den Arbeiten Jungs, welche zwischen der Neurotik, den religiösen und den mythologischen Phantasien vermitteln wollten.

Ein anderer Weg leitete von der Traumforschung zur Analyse der dichterischen Schöpfungen und endlich der Dichter und Künstler selbst. Auf seiner ersten Station ergab sich, daß von Dichtern erfundene Träume sich oft der Analyse gegenüber wie genuine verhalten („Gradiva“). Die Auffassung der unbewußten seelischen Tätigkeit gestattete eine erste Vorstellung vom Wesen der dichterischen Schöpfungsarbeit; die Würdigung der Triebregungen, zu der man in der Neurotik genötigt war, ließ die Quellen des künstlerischen Schaffens erkennen und stellte die Probleme auf, wie der Künstler auf diese Anregungen reagiere und mit welchen Mitteln er seine Reaktionen verkleide.1 Die meisten Analytiker mit allgemeinen Interessen haben in ihren Arbeiten Beiträge zur Behandlung dieser Probleme geliefert, der reizvollsten, die sich unter den Anwendungen der Psychoanalyse ergeben. Natürlich blieb auch hier der Widerspruch von Seite der nicht mit der Analyse Vertrauten nicht aus und äußerte sich in den nämlichen Mißverständnissen und leidenschaftlichen Ablehnungen wie auf dem Mutterboden der Psychoanalyse. Es stand ja von vornherein zu erwarten, daß überall, wohin die Psychoanalyse dringe, sie den nämlichen Kampf mit den Ansässigen zu bestehen haben werde. Nur, daß die Invasionsversuche noch nicht auf allen Gebieten die Aufmerksamkeit geweckt haben, die ihnen in der Zukunft bevorsteht. Unter den strenge literarwissenschaftlichen Anwendungen der Analyse steht das gründliche Werk von Rank über das Inzestmotiv obenan, dessen Inhalt der größten Unliebsamkeit sicher ist. Sprachwissenschaftliche und historische Arbeiten auf Basis der Psychoanalyse sind erst wenige vorhanden. Die erste Antastung der religions-psychologischen Probleme habe ich 1907 selbst gewagt, indem ich das religiöse Zeremoniell in Vergleich mit dem neurotischen zog. Der Pfarrer Dr. Pfister in Zürich hat in seiner Arbeit über die Frömmigkeit des Grafen von Zinzendorf (sowie in anderen Beiträgen) die Zurückführung religiöser Schwärmerei auf perverse Erotik durchgeführt; in den letzten Arbeiten der Züricher Schule kommt eher eine Durchdringung der Analyse mit religiösen Vorstellungen als das beabsichtigte Gegenteil zustande.

In den vier Aufsätzen über „Totem und Tabu“ habe ich den Versuch gemacht, Probleme der Völkerpsychologie mittels der Analyse zu behandeln, welche unmittelbar zu den Ursprüngen unserer wichtigsten Kulturinstitutionen führen, der staatlichen Ordnungen, der Sittlichkeit, der Religion, aber auch des Inzestverbotes und des Gewissens. Inwieweit die Zusammenhänge, die sich dabei ergeben haben, der Kritik standhalten werden, läßt sich heute wohl nicht angeben.

Von der Anwendung analytischen Denkens auf ästhetische Themata hat mein Buch über den Witz ein erstes Beispiel gegeben. Alles Weitere harrt noch der Bearbeiter, die gerade auf diesem Gebiete reiche Ernte erwarten dürfen. Es fehlt hier überall an den Arbeitskräften aus den entsprechenden Fachwissenschaften, zu deren Anlockung Hanns Sachs 1912 die von ihm und Rank redigierte Zeitschrift „Imago“ gegründet hat. Mit der psychoanalytischen Beleuchtung von philosophischen Systemen und Persönlichkeiten haben Hitschmann und v. Winterstein daselbst einen Anfang gemacht, dem Fortführung und Vertiefung zu wünschen bleibt.

Die revolutionär wirkenden Ermittlungen der Psychoanalyse über das Seelenleben des Kindes, die Rolle der sexuellen Regungen in demselben (v. Hug-Hellmuth) und die Schicksale solcher Anteile der Sexualität, welche für das Fortpflanzungsgeschäft unbrauchbar werden, mußten frühzeitig die Aufmerksamkeit auf die Pädagogik lenken und den Versuch anregen, auf diesem Gebiete analytische Gesichtspunkte in den Vordergrund zu rücken. Es ist das Verdienst des Pfarrers Pfister, diese Anwendung der Analyse mit ehrlichem Enthusiasmus angegriffen und sie Seelsorgern und Erziehern nahegelegt zu haben.2 Es ist ihm gelungen, eine ganze Reihe von Pädagogen in der Schweiz zu Teilnehmern an seinem Interesse zu gewinnen. Andere seiner Berufsgenossen sollen angeblich seine Überzeugungen teilen, haben es aber vorgezogen, sich vorsichtigerweise im Hintergrunde zu verhalten. Ein Bruchteil der Wiener Analytiker scheint auf dem Rückweg von der Psychoanalyse bei einer Art von ärztlicher Pädagogik gelandet zu sein.3


  1. Rank, „Der Künstler“; Dichteranalysen von Sadger, Reik u. a., meine kleine Schrift über eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci, Abrahams Analyse von Segantini.
  2. „Die psychoanalytische Methode“, 1913. Erster Band des Pädagogiums von Meumann und Messmer.
  3. Adler und Furtmüller, „Heilen und Bilden“.