§ 20. Die Eigenart der intentionalen Analyse
Es zeigt sich, daß Bewußtseins-Analyse als intentionale etwas total anderes ist als Analyse im gewöhnlichen und natürlichen Sinne. Das Bewußtseinsleben, so sagten wir schon einmal, ist kein bloßes Ganzes von Bewußtseins-Daten, und demnach bloß analysierbar — in einem weitesten Sinne teilbar — in seine selbständigen oder unselbständigen Elemente, wobei dann die Einheitsformen (die Gestaltqualitäten) den unselbständigen zuzurechnen seien. Intentionale Analyse führt zwar, und insoweit kann das Wort noch dienen, in gewissen thematischen Blickrichtungen auch auf Teilungen, aber ihre überall eigentümliche Leistung ist Enthüllung der in den Bewußtseinsaktualitäten implizierten Potentialitäten, wodurch sich in noematischer Hinsicht Auslegung, Verdeutlichung und evt. Klärung des bewußtseinsmäßig Vermeinten, des gegenständlichen Sinnes vollzieht. Intentionale Analyse ist geleitet von der Grunderkenntnis, daß jedes cogito als Bewußtsein zwar im weitesten Sinne Meinung seines Gemeinten ist, aber daß dieses Vermeinte in jedem Momente mehr ist (mit einem Mehr Vermeintes), als was im jeweiligen Moment als explizit Gemeintes vorliegt. In unserem Beispiel war jede Wahrnehmungsphase bloße Seite des Gegenstandes als wahrnehmungsmäßig vermeintem. Dieses in jedem Bewußtsein liegende Übersich-hinaus-Meinen muß als Wesensmoment desselben betrachtet werden. Daß es aber Mehrmeinung von demselben heißt und heißen muß, das zeigt erst die Evidenz möglicher Verdeutlichung, und schließlich anschaulicher Enthüllung in Form wirklichen und möglichen Fort-wahrnehmens oder möglichen Wiedererinnerns als von mir aus zu betätigendem.
Der Phänomenologe betätigt sich aber nicht in einer bloß naiven Hingabe an den intentionalen Gegenstand rein als solchen, er vollzieht nicht ein bloßes Betrachten desselben geradehin, ein Auslegen seiner gemeinten Merkmale, seiner gemeinten Teile und Eigenschaften. Denn dann bliebe die das Anschaulich-oder-unanschaulich-Bewußthaben und das auslegende Betrachten selbst ausmachende Intentionalität anonym. Mit anderen Worten, es blieben verborgen die noetischen Mannigfaltigkeiten des Bewußtseins und deren synthetische Einheit, vermöge deren wir, und als ihre wesensmäßige Einheitsleistung, überhaupt einen intentionalen Gegenstand, und jeweils diesen bestimmten, kontinuierlich gemeint haben, ihn gleichsam vor uns haben als so und so gemeinten; und etwa die verborgenen konstitutiven Leistungen, durch die wir (wenn Betrachtung sich alsbald als Auslegung fortsetzt) so etwas wie Merkmal, Eigenschaft, Teil als Explikate des Gemeinten geradehin vorfinden bzw. implizite meinen und dann anschaulich herausstellen können. Indem der Phänomenologe alles Gegenständliche und das darin Vorfindliche ausschließlich als Bewußtseinskorrelat erforscht, betrachtet und beschreibt er es nicht nur geradehin und auch nicht bloß überhaupt zurückbezogen auf das entsprechende Ich, auf das ego cogito, dessen cogitatum es ist, vielmehr dringt er enthüllend mit seinem reflektierenden Blick in das anonyme cogitierende Leben ein, er enthüllt die bestimmten synthetischen Verläufe der mannigfaltigen Bewußtseinsweisen und die noch weiter zurückliegenden Modi des ichlichen Verhaltens, die das Für-das-Ich-schlechthin-vermeint-Sein, das anschauliche oder unanschauliche, des Gegenständlichen verständlich machen; oder es verständlich madien, wie Bewußtsein in sich selbst, und vermöge seiner jeweiligen intentionalen Struktur, es notwendig macht, daß in ihm dergleichen seiendes und soseiendes Objekt bewußt werden, als solcher Sinn auftreten kann. So erforscht er z. B. im Falle raumdinglicher Wahrnehmung (zunächst unter Abstraktion von allen Prädikaten der Bedeutung sich rein an die res externa haltend) die wechselnden Sehdinge und sonstigen Sinnendinge, wie sie in sich den Charakter der Erscheinungen von dieser selben res extensa haben. Er erforscht für eine jede ihre wechselnden Perspektiven, ferner hinsichtlich ihrer zeitlichen Gegebenheitsweisen die Abwandlungen ihres Nochbewußtseins im retentionalen Herabsinken, in ichlicher Hinsicht die Modi der Aufmerksamkeit usw. Dabei ist zu beachten, daß die phänomenologische Auslegung des Wahrgenommenen als solchen nicht an die im Fortgang der Wahrnehmung sich vollziehende wahrnehmungsmäßige Explikation desselben nach seinen Merkmalen gebunden ist, sondern sie macht das im Sinn des cogitatum Beschlossene und bloß unanschaulich Mitgemeinte (wie die Rückseite) klar durch Vergegenwärtigung der potentiellen Wahrnehmungen, die das Unsichtliche sichtlich machen würden. Das gilt allgemein für jede intentionale Analyse. Als solche greift sie über die vereinzelten und zu analysierenden Erlebnisse hinaus: indem sie deren korrelative Horizonte auslegt, stellt sie die sehr mannigfaltigen Erlebnisse in das thematische Feld derjenigen, die für den gegenständlichen Sinn des betreffenden cogitatum konstitutiv fungieren: also nicht nur die aktuellen, sondern auch die potentiellen, als welche in der sinnleistenden Intentionalität der aktuellen Erlebnisse impliziert, vorgezeichnet sind und die, herausgestellt, den evidenten Charakter haben der den impliziten Sinn auslegenden. Nur auf diese Weise kann der Phänomenologe sich verständlich machen, wie in der Immanenz des Bewußtseinslebens, und in wie beschaffenen Bewußtseinsweisen dieses unaufhörlichen Bewußtseinsflusses, so etwas wie stehende und bleibende gegenständliche Einheiten bewußt werden können, und im besonderen, wie diese wunderbare Leistung der Konstitution von identischen Gegenständen für jede Gegenstandskategorie zustandekommt, d. h. wie das konstituierende Bewußtseinsleben für eine jede aussieht und aussehen muß nach den korrelativen noetischen und noematischen Abwandlungen von demselben Gegenstand. Die Horizontstruktur aller Intentionalität schreibt also der phänomenologischen Analyse und Deskription eine total neuartige Methodik vor — eine Methodik, die überall in Aktion tritt, wo Bewußtsein und Gegenstand, wo Meinung und Sinn, reale und ideale Wirklichkeit, Möglichkeit, Notwendigkeit, Schein, Wahrheit, aber auch Erfahrung, Urteil, Evidenz usw. als Titel für transzendentale Probleme auftreten und als echte Probleme des subjektiven „Ursprungs“ in Arbeit genommen werden sollen.1
Zunächst scheint freilich die Möglichkeit einer reinen Bewußtseinsphänomenologie recht fraglich, nämlich mit Rücksicht auf die Tatsache, daß das Reich der Bewußtseinsphänomene so recht das Reich Heraklitischen Flusses ist. Es wäre in der Tat hoffnungslos, hier in einer Methodik der Begriffs- und Urteilsbildung verfahren zu wollen, wie sie für die objektiven Wissenschaften die maßgebende ist. Ein Bewußtseinserlebnis als identischen Gegenstand auf Grund der Erfahrung so bestimmen zu wollen wie ein Naturobjekt — also schließlich unter der idealen Präsumtion einer möglichen Explikation in identische und durch feste Begriffe faßbare Elemente — wäre freilich ein Wahn. Bewußtseinserlebnisse haben nicht nur vermöge unserer unvollkommenen Erkenntniskraft für derartige Gegenstände, sondern a priori keine letzten Elemente und Relationen, die sich der Idee fester begrifflicher Bestimmbarkeiten fügten, für die also die Aufgabe approximativer Bestimmung unter festen Begriffen vernünftig zu stellen wäre. Darum besteht aber doch die Idee einer intentionalen Analyse zu Recht. Denn im Fluß intentionaler Synthesis, die in allem Bewußtsein Einheit schafft und Einheit gegenständlichen Sinnes noetisch und noematisch konstituiert, herrscht eine wesensmäßige, in strenge Begriffe faßbare Typik.
- Mutatis mutandis gilt offenbar dasselbe für eine reine Innenpsychologie oder eine rein intentionale Psychologie auf dem Boden der natürlichen Positivität, die wir andeutungsweise als Parallele der konstitutiven und zugleich transzendentalen Phänomenologie herausgestellt haben. Die einzig radikale Reform der Psychologie liegt in der reinen Ausbildung einer intentionalen Psychologie. Schon Brentano hat sie gefordert, aber leider noch nicht den Grundsinn einer intentionalen Analyse, also der Methode erkannt, die eine solche Psychologie allererst möglich macht, da sie dann erst ihre echte, wahrhaft unendliche Problematik erschließt.↩