Eine Prostituierte ist ermordet worden
Wie steht’s Herr Nachbar, mit der Sinnenlust?
Hand auf die Stelle, wo kein Herz ist, sprecht
dies erste, letzte Mal die Wahrheit! Nicht wahr,
ihr lügt ja nur und peitscht für eure Lüge
den Leib, weil er euch noch die Wahrheit sagt.
Es ist ja alles Lüge, was ihr treibt;
wahr seid ihr nur im Bett. Nicht wahr, dort seid ihr’s?
Weil aber eure Wahrheit euern Weibern
zu wenig ist, so lügt ihr, haßt die Wahrheit
und schickt sie auf die Straße, euch zu freun,
daß ihr vor ihr dann doch die gute Stube
voraushabt, wo die angetraute Lüge
der Ehrbarkeit für euch verwelken darf.
Die drinnen rächen jene, die schon draußen,
und retten so die Ehre des Geschlechts.
Denn gerne sterben sie für die Moral.
So tut Natur doch, was die Sitte will.
Die Freien sind verachtet; die in Ketten
stehn hoch in Ansehn. Doch bedenkt, auch ihnen,
den einmal nur fürs Leben Prostituierten,
den ein für allemal euch Prostituierten,
den euch allein und stets nur einmal Prostituierten
genügt die Ehre nicht. Die Ehrbaren,
sie möchten auf die Straße, fort, zu jenen,
die nur der Ehre bar sind, nicht des Lebens.
Ihr, spürend es, nicht wissend, macht aus Wut
die draußen schlechter und die drinnen ärmer.
Ihr seid zu feig, die draußen und die drinnen
gleich auf der Stelle zu ermorden. Geht,
was wollt ihr denn, mir wollt ihr eure Ehre
vormachen? Eure Stimme kenne ich!
Kehlköpfe hab’ ich nachts auf meinem Schreibtisch,
die eure Stimme haben, drossle sie,
weil sie des Lebens Atem nie gewollt,
weil sie durch ihr Gekrächz den einzigen Wohllaut,
den Gott geschaffen hat, erdrosselt haben.
Seit euch im Hals der Adamsapfel steckt,
schiebt ihr es auf das Weib. So lügt denn weiter!
Kehlköpfe krächzt, Kahlköpfe quiekt, gröhlt, flucht,
Kohlköpfe! Weiter! Lacht die Schöpfung aus!
Erkennt, daß nur die Weiber nackend sind,
schämt euch für sie und nicht für euch. Nur zu!
Glaubt weiter, daß die tote Prostituierte
unwert des Schmerzes sei, und ein Kondukt
von Prostituierten sei noch weniger wert,
von allen den euch angebornen Ehren
nur die zu nehmen und sie zu erweisen,
die ihr nach Zeit und Rang die letzte nennt,
und die die erste ist, die Menschlichkeit,
seit der Geburt entstellt zur Bürgerfratze,
seitdem sie lebt, der Menschlichkeit erweist!
Wie ward es möglich nur, daß Jud und Christ
sich immer so in den Vokabeln irren,
nicht dort die Schmach zu finden, wo sie stehn,
und immer dort nur, wo die letzte Spur
von Menschentum sie selbst begraben haben.
Wie steht’s, Herr Nachbar, mit der Sinnenlust?
Was denn? Das wahrhaft einzige Bedürfnis,
das zu befriedigen nicht wie euer Essen,
wie euere Verdauung, euer Schlaf
nur der Gewohnheit schmeckt — dankt jenen nicht,
die sich ihm opfern, schmäht sie noch dafür?
Wie, eine Welt, die alles für das Geld tut,
und nur für Geld, und auch was sie nicht kann,
und auch das Schlechte, sie verachtet die,
die ihr ein Gutes tun und es ihr schenken?
Und schmäht den Tausch von Geld und jener Gabe,
durch die das Weib erst sittlich wird zum Weib?
Ich weiß nicht, wie das zugeht. Doch das weiß ich:
Die ärmste Dienerin der Lust, die Geld
dem Zeitungsmann für die Annonce gibt
und die, doch deren Geld nicht, er verachtet,
und wär’ sie mißgestaltet, und im Dunkel
bleibt ihr Gesicht, ihr zugekehrt dein Rücken —
nur dafür, daß sie ihn betasten kann,
steht näher sie dem Geist und deinem Glück
als alle Leistung sämtlicher Journale,
Kollegien und jedes Dings im Staat,
das Wohltat dir und Fortschritt soll besorgen
und dessen Dasein schon, nicht dessen Leistung,
dich aufhält und betrügt, verarmt und schwächt.
Kitzeln der Haut dient besser Euch als Lügen!
Wehrt sich der Geist denn gegen die Natur?
Erliegt er ihr? Er weiß, er lebt, er bleibt
stets im Zusammenhang. Der Ungeist wehrt sich
zugleich im Kampf mit Geist und mit Natur,
die bärtige Bildung, die mir überm Leben
schwarz wie ein Haarsack hängt, schwarz wie die Sonne
beim Weltgericht. Nehmt euch in Acht vor euch!