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Kant

Wie schon in anderem Zusammenhange gezeigt, ist Kants Erkenntnistheorie für uns darum gealtert, weil er von der Entwicklung der einzelnen Sinnesorgane und sonach auch von der Entwicklung des menschlichen Verstandes trotz seiner Theorie des Himmels noch keine Vorahnung hatte, noch keine Vorstellung haben konnte. Die Bedeutung dieser Tatsache scheint mir auf der Hand zu liegen. Der Skeptizismus von Kants Vorgänger, der skeptische Idealismus Humes, daß nämlich die Welterkenntnis in unserem Kopfe das einzig Wirkliche sei, könnte auch unter der Herrschaft der Entwicklungstheorie weiter gelehrt werden; denn ob die Sinne und der Verstand sich entwickeln oder nicht, von der Wirklichkeitswelt erzählen sie uns fürs erste nichts. Sobald aber die Sinne und ihr Verstand sich von dem blinden Tappen der Amöbe bis zur Gehirntätigkeit eines Kant langsam entwickelt haben, kann es doch im Verstände kein unveränderliches Schema F geben, können doch die Kategorien des Verstandes nicht die feste Form aller Weltanschauung bieten. Von einer Warte aus gesehen, die nicht wie Napoleons Pyramiden vierzig Jahrhunderte, sondern vierzig Hunderttausende von Jahren überblickt, erscheint das Verhältnis von Welterkenntnis zur Wirklichkeitswelt etwa so, wie uns die Geschichte der Philosophie als kleines Bild der großen Entwicklung erscheint. Es ändern sich nämlich nicht nur die Philosophien von Jahrhundert zu Jahrhundert, sondern mit ihnen auch die Geschichte der Philosophie, weil der Standpunkt immer wieder ein anderer wird. So ändert sich das Bild unseres Sonnensystems für den irdischen Beobachter unaufhörlich, weil der Standpunkt des Beobachters mit der Bewegung der Erde sich ändert. In der Astronomie hat man diese doppelte und dreifache und so weiterfache Bewegung in mathematische Formeln bringen können, seitdem man die Bewegung der Erde berechnet hat. Eine solche fast mathematische Formel für die Entwicklungsgeschichte der menschlichen Sinne und ihres Verstandes wäre die Vollendung der Kantischen Philosophie. Eine solche Denkform der fortschreitenden Welterkenntnis müßte sich aus der Geschichte der Sprachen aufbauen lassen, wenn wir eine Idealgeschichte der menschlichen Begriffe besäßen. Neben einer Entwicklungsgeschichte des menschlichen Gehirns und der einzelnen Sinnesorgane wäre eine solche Wissenschaft also etwa das, was Spencer einmal (Psychologie I, 144) "die Psychologie, von ihrer subjektiven Seite betrachtet, eine durchaus einzig dastehende Wissenschaft, unabhängig von allen anderen irgend denkbaren Wissenschaften und einer jeden grundsätzlich entgegengesetzt" genannt hat. Es wäre das nicht nur eine einzig dastehende, sondern überhaupt die einzige Wissenschaft, es wäre die Entwicklungsgeschichte des menschlichen Verstandes, und da diese nur die kritische Geschichte des in der Sprache allein aufbewahrten Gedächtnisses der Menschheit wäre, so wäre diese einzige Wissenschaft die Kritik der Sprache. Dieser Idealwissenschaft sich auch nur anzunähern, wäre schon ein stolzer Traum. Nur daß wir uns zur rechten Zeit besinnen, daß nach unserer Lehre die einer solchen Idealwissenschaft zu Grunde zu legende Entwicklungsgeschichte der Sinnesorgane ebenso Zufallsgeschichte wäre wie unser bißchen sogenannte Weltgeschichte, daß unsere Sinne Zufallssinne sind, daß also auch die Geschichte der Sinne und ihres Verstandes oder die Entwicklungsgeschichte der menschlichen Vernunft oder die Kritik der Sprache am letzten Ende zu keiner Welterkenntnis führen wird.

Will man den Fortschritt auf dem Gebiete dieser speziellen Frage an einem gewöhnlichen Beispiele überblicken, so frage man sich: was etwa die menschlichen Sinne und ihr Verstand von einem Apfel auszusagen gelernt haben und wie derselbe Verstand diese Aussagen kritisieren gelernt hat. Daß die Bekömmlichkeit des Apfels, sobald man ihn als Nahrung in sich aufgenommen hat, eine subjektive Menschen Vorstellung sei, ein Zweckbegriff, der nicht identisch sei mit dem Zweck des Apfelbaumes, Äpfel hervorzubringen, das hätte am Ende schon Aristoteles gewußt, wenn er auch den süßen Geschmack des Apfels noch als objektive Eigenschaft des Dings betrachtet hätte. Es brauchte zwei Jahrtausende, bevor Locke klar und deutlich erkannte, daß auch der Begriff süß ein subjektiv menschlicher Begriff sei, dem Apfel nicht gehöre und überhaupt nicht vorhanden wäre, gäbe es nicht tierische Geschmacksnerven, auf welche der Apfel die und die chemische Wirkung ausübt. Daß die Geschmackswirkungen übrigens so wenig objektiv seien, daß sie sogar von der Temperatur der menschlichen Sinnesorgane abhängen, ist in den letzten Jahren wieder beobachtet worden, nachdem die alten griechischen Skeptiker es schon etwas sophistisch gelehrt hatten. Für Locke gab es aber noch besonders ausgezeichnete Qualitäten, welche der Apfel objektiv besaß: seinen Härtegrad, seine Kugelgestalt. Diese Anschauungsformen der Physik und Mathematik verlegte nun Kant ebenfalls in die Subjektivität des menschlichen Gehirns, ohne aber diese Subjektivität als geworden begreifen zu können. Erst Spencers außerordentlich feine Untersuchungen über die Entwicklung der Raumvorstellungen lassen uns hoffen, daß auch dieser letzte Punkt, an welchem die Subjektivität der Welterkenntnis noch in der Luft schwebt, für die Entwicklungsgeschichte des Verstandes sprachlich erobert werden wird.

Wenn ich in diesen schwierigen Dingen einigermaßen klar gewesen bin, so wird man verstanden haben, wie der scheinbar ungelöste Streit zwischen Realisten und Idealisten sich aufhebt, wie die Erkenntnistheorie also doch wohl ein Gegenstand des Nachdenkens und zwar der alleinige Gegenstand des philosophischen Nachdenkens sein kann, und wie wir am Anfang des 20. Jahrhunderts wieder einmal in der Illusion leben können, eine letzte Sprosse erreicht zu haben. Die Analyse von Raum und Zeit scheint so nahe, als wäre sie bereits mit der Hand zu erreichen.

Nun kommt freilich auch für unser Nachdenken wieder ein allerletzter Punkt: die Kausalität. Unsere ganze Welterkenntnis ist auf dem Begriff von Ursache und Wirkung aufgebaut, und da sind wir freilich über Kants scholastische und unvorstellbare Redewendung, daß auch die Kausalität eine Form des menschlichen Verstandes sei, noch nicht hinausgekommen. Damit hängt die schikanöse Frage zusammen, ob es denn eine Wirklichkeitswelt überhaupt gebe, ob wir die Welt nicht einfach träumen. Denn es läßt sich nicht leugnen, daß Kant einen groben Schnitzer gemacht hat (der ihm denn auch sofort von dem besten Gegner entgegengehalten wurde), da er die objektive Wirklichkeitswelt, die er Ding-an-sich nannte, als eine notwendige Voraussetzung unserer subjektiven Welterkenntnis hinstellte. Dieses Ding-an-sich sollte die Ursache der Erscheinung sein, die das Weltbild in unserem Gehirn ist. Ist aber die Kausalität, das ist der Begriff von Ursache und Wirkung, nur subjektiv, nur dem Weltbilde in unserem Gehirn, nur der Welt als Erscheinung angehörig, so war es falsch, den Begriff der Ursache auf dieses Weltbild selbst anzuwenden, dieses Weltbild die Wirkung von irgend etwas sein zu lassen.