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Grenzen der Etymologie

Eine Geschichte der menschlichen Sprache wäre, streng genommen, eine Geschichte der menschlichen Welterkenntnis, eine Entwicklung der menschlichen Weltanschauung, dazu die einzige vollständige und ernst zu nehmende Geschichte der Philosophie. Wir haben schon gelernt, dass eine solche Geschichte der Philosophie, selbst in beschränktem Sinne dieser Disziplin, aus einem sehr einfachen Grunde unmöglich ist: weil die Sprache des Geschichtsschreibers nicht mehr die Sprache der von ihm behandelten Philosophen ist, und zwar so, dass die Sprache des Geschichtsschreibers sich von jeder Individual- und Zeitsprache jedes behandelten Philosophen anders unterscheidet. Es ist, als ob ein Uhrmacher von heute alle Turm-, Stand -und Taschenuhren seit der Erfindung der Uhr mit einem und demselben Schlüssel aufziehen wollte oder gar mit dem Remontoirwerk, das immer nur zu der eigenen Uhr gehört. Es ist, als ob der Fischer, der sein Netz in die Donau taucht, hoffen wollte, die Fische zu fangen, die im untern Laufe schwimmen. Es ist, als ob die zitternde Hand eines laufenden Menschen den Faden in die Nadel einfädeln wollte, die die zitternde Hand eines an ihm vorüberlaufenden anderen Menschen hält.

Ist so eine tiefer gehende Geschichte der Sprache oder des menschlichen Denkens schon für die letzten paar Jahrtausende eine Unmöglichkeit, so wird das Streben, den Ursprung der Sprache zu ergründen, vollends phantastisch. Man muß sich nur die Länge des von der Sprache seit ihrem Ursprung zurückgelegten Weges — wie gesagt — lang genug vorstellen, um die Unmöglichkeit jedes wissenschaftlichen Versuches zu erkennen.

Was wir bei allen solchen Versuchen tun, das ist ein Bemühen, zwei Punkte miteinander zu verbinden, die unendlich weit voneinander abstehen und die beide überdies imaginäre Punkte sind. Der eine Punkt ist jedesmal eine unbeweisbare Hypothese über den Ursprung der Sprache; der andere Punkt ist die verschwimmende Grenze, bis zu welcher wir die lebende Sprache etymologisch noch mit Anstand zurückverfolgen können. Dieser letzte Grenzpunkt liegt nach den Anschauungen der gegenwärtigen Sprachwissenschaft höchstens viertausend Jahre hinter der Gegenwart zurück. Die Sicherheit der geschichtlichen Entwicklung verläßt uns eigentlich schon im 15. Jahrhundert, in der Zeit vor dem Buchdruck. Je weiter wir in der Sprachgeschichte zurückgehen, desto geringer wird die Sicherheit, desto dichter drängen sich die Einzelhypothesen. Die Zurückführung des Althochdeutschen auf eine indoeuropäische Ursprache, die Aufstellung von indoeuropäischen Wurzeln, die immer noch in der Nähe der Sanskritwurzeln gesucht werden, ist ein kleiner Berg von Hypothesen und an diesem Berge endet für uns die kurze Strecke der nach rückwärts schauenden Sprachgeschichte. Am äußersten Endpunkt in dieser Richtung liegt dann irgendeine durchaus hypothetische Theorie über den Ursprung der Sprache. Zwischen dieser äußersten Hypothese und dem uns so viel nähern Hypothesenberge der Etymologie klafft der Abgrund des absoluten Nicht-Wissens.

Es ist darum ein ganz aussichtsloses, ja törichtes Unternehmen, eine Theorie über den Ursprung der Sprache als gewiß, ja auch nur als wahrscheinlich beweisen zu wollen. Worauf es mir an dieser Stelle ankommt, das ist der Nachweis, dass wir uns bei der Frage nach dem Sprachursprung nicht mehr an die Worte unserer entwickelten Sprache, nicht mehr an irgendeine ältere Form derselben, nicht mehr an irgendwelche noch so primitive, aus unseren Sprachlauten komponierte Wurzeln halten dürfen, dass wir vielmehr einsehen müssen: nicht nur die Sprachen, sondern auch die Sprachlaute haben eine endlose Entwicklung durchgemacht; wir wissen nichts mehr über die Sprachlaute einer uralten Zeit und über deren Artikulation. Wir müssen uns bei diesen Vorstellungen befreien von der europäischen und sprachwissenschaftlichen Beschränktheit, nur unsere, das heißt die historischen menschlichen Sprachlaute für artikuliert anzusehen. Wir sind es leider gewöhnt, den Seufzer und den Laut des Abscheus, welche z. B. den artikulierten Interjektionen ach und pfui vorausgegangen sind und sie in der erregten Sprache heute noch ersetzen, unartikuliert zu nennen. Doch davon bald mehr.

Für diese Entwicklung der Sprachlaute liegen vielleicht Belege aus historischer Zeit vor. So jung dieser Zweig der Sprachwissenschaft ist und so vorsichtig auch (wegen der Unzuverlässigkeit der Schrift) die Ergebnisse aufzunehmen sind, so scheint doch einzelnes gesichert. Es scheint z. B., dass die Laute l und r sich erst spät im Indoeuropäischen differenziert haben, dass die Vokale ü und ö und der Nasallaut jüngeren Ursprungs sind und dass selbst ganze Gruppen der uns so vertrauten Konsonanten erst in historischer Zeit entstanden sind, dass z. B. die Kehllaute älter sind als die diesen entsprechenden Gaumenlaute. Dabei mag die Frage unentschieden bleiben, ob die Sprache in historischer Zeit an Lauten reicher oder ärmer geworden sei, unentschieden, ob die Laute wirklich die Neigung besitzen (man nennt es ihr Gesetz) sich abzuschwächen, sich niemals zu verstärken. Es mag freilich der Begriff des Reichtums, der Begriff der Abschwächung viel subjektiver sein, als man glaubt.