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Nachahmung in der Kunst

Sprachliche Verständigung zwischen zwei Menschen setzt bei beiden das gleiche Situationsbild der Seele voraus oder doch die Vorbedingungen, das gleiche Situationsbild z. B. in der Kunst zu erzeugen.

Erst die historische Bildung der Gegenwart macht die Gleichheit des Situationsbildes für Autor und Leser einigermaßen möglich. Trotzdem kokettiert ein Maler wie Gebhardt mit bewußtem Anachronismus, während ein Maler wie Uhde dem Beschauer ebenso bewußt, aber viel feiner ein Situationsbild der Gegenwart zu suggerieren sucht. Es ist nämlich all unser historisches Wissen so sehr Stückwerk, dass wir schließlich doch an dem Situationsbilde der Gegenwart hängen bleiben. Mommsens römische Geschichte ist ein historisches Werk ersten Ranges und muß dennoch seine beste historische Stimmung durch Anachronismen erzeugen; ich habe wohl etwas Ähnliches in meiner Erzählung "Xanthippe" versucht.

Diese Bemerkungen führen nur scheinbar von dem Gegenstande ab. Was den Maler und Schriftsteller der Gegenwart (respektive seinen Beschauer und Leser) von zeitlich oder räumlich entlegenen Stoffen trennt, das ist die Unmöglichkeit, durch Nachahmung in Farben oder Worten ein Situationsbild zu erzeugen, das er vorher nicht bis ins kleinste wahrgenommen hat. Genau dieselbe Trennung besteht zwischen dem sprechenden Menschen und dem einfachsten Naturgegenstande, wenn er ihm nur durch Klangnachahmung beikommen könnte. Dem Maler und Schriftsteller ist es auch nur darum zu tun, sich mit dem Beschauer oder Leser zu verständigen, ihm seine Phantasie vom behandelten Stoffe mitzuteilen. So ist es auch dem sprechenden Menschen nur darum zu tun, sich mit dem mitredenden Menschen zu verständigen. Mit der Natur kann er sich nur necken. Will ein Mensch beim anderen die Vorstellung von einem Hahn wachrufen, so muß zunächst und zuletzt beim anderen die Vorstellung vom Hahn schon vorhanden sein; nachher ist es eine Zufallssache, ob diese Vorstellung durch Andeutung eines Schalles, einer Farbe, eines Körperteils oder einer Bewegung wachgerufen wird. Die Erinnerung an das gemeinsame Situationsbild wird erzeugt durch die Nachahmung desjenigen Lauts, welcher zufällig zuerst die Aufmerksamkeit auf den Hahn lenkte, mag dieser erste Laut nun das Krähen oder den stolzen Gang des Hahnes bezeichnet haben. In unzähligen Fällen wird das Situationsbild zwischen zwei gleichgestimmten Menschen in Erinnerung gebracht: nicht durch einen artikulierten Laut, sondern durch die weinerliche oder heitere Betonung, die der artikulierten Sprache gar nicht angehört und die sich doch so außerordentlich gut für die Nachahmung zwischen den Menschen eignet.

Und auch hier wieder begegnet uns der Unterschied zwischen Spiel oder Neckerei, das heißt natürlicher Nachahmung, und Sprache oder konventioneller Nachahmung. Wenn ein Kind weint, so wird sein etwas boshafter Genosse durch naturalistische Nachahmung dieses Weinens es zu verhöhnen scheinen und ganz sicher den Schmerz des weinenden Kindes dadurch steigern. Tritt aber die Mutter hinzu und legt in ihre Stimme den konventionell weinerlichen Ton, den wir "mitleidig" zu nennen pflegen, so wird das weinende Kind dies als eine Antwort auf seine Schmerzäußerung empfinden und sich beruhigen. Die naturalistische bewußte Nachahmung wird niemand Sprache nennen; sie führt zum Gegenteil einer Verständigung. Die konventionelle Nachahmung zwischen den Menschen ist Sprache.

Die Psychologie der Nachahmung ist noch nicht erforscht. Da alle Wahrnehmung irgendwie psychische Tätigkeit ist, wäre es Aufgabe der Physiologie, die Analogie aufzufinden, welche irgendwo zwischen der Tätigkeit bei Gesichtswahrnehmungen und der Tätigkeit bei Gehörwahrnehmungen besteht. Diese wahrscheinliche Ähnlichkeit ist uns verborgen. Der Unterschied springt in die Augen. Nichts drängt uns, die mikroskopischen Atombewegungen nachzuahmen, welche wir als Farben empfinden. Wohl aber existiert ein unwiderstehlicher Drang, die gröberen Bewegungen nachzuahmen, welche wir als Töne empfinden. Das Vorhandensein von Bewegungsgefühlen beim Hören und beim artikulierten Denken, wie man ein gewisses scharfes inneres Sprechen nennen könnte, ist bekannt. Erzeugt die Sprachbewegung des einen Menschen eine noch so leise identische Sprachbewegung beim anderen Menschen, so ist damit die ferne Möglichkeit gegeben, die soziale Macht der hörbaren Sprache aus natürlichen Bedingungen zu erklären.