Individualsprachen
Aus dieser Lage der Sprachwissenschaft wird klar, daß ihre einzelnen Sprachen nicht so sicher definierbare Einheiten sind, wie man wohl glauben möchte. In Wirklichkeit ist auch der Begriff der Einzelsprache nur ein Abstraktum für die Fülle von Ähnlichkeiten, von allerdings sehr großen Ähnlichkeiten, welche die Individualsprachen einer Menschengruppe bieten, eines sogenannten Volkes. Natura sane nationes non creat sed individua. (Spinoza, Tract. theol.-pol. XVII.) Das gilt für Recht, Gesetz und Sitte wie für die Sprache. Wir müssen hier gleich festhalten, was sich später übersichtlicher ergeben wird, daß die Individualsprache eines Menschen niemals der irgend eines anderen Menschen vollkommen gleich ist, und daß ein und derselbe Mensch in verschiedenen Lebensaltern nicht die gleiche Sprache redet, auch wenn man von den Besonderheiten seiner Kindersprache absieht. Die Ungleichheit der Individualsprachen ist bei einiger Aufmerksamkeit gar nicht zu übersehen. Jeder charaktervolle Schriftsteller ist an seiner charakteristischen Individualsprache zu erkennen. Auf hundert Schritte. Wie das Bild eines charaktervollen Malers. Wer seinen eigenen Stil nicht hat, ist kein geborener Schriftsteller. Nur Gott hat (in der Bibel) keinen eigenen Stil. Spinoza hat uns das lachend gesagt (Tract. theol.-pol. II.): "Deum nullum habere stylum peculiarem dicendi, sed tantum pro eruditione et capacitate Prophetae eatenus esse elegantem, compendiosum, severum, rüdem, prolixum et obscurum." Wie ein Journalist also, gefällig gegen sein Publikum. Beim großen Schriftsteller ist nur die Erscheinung der Individualsprache besonders augenfällig. Aber auch die Ungleichheit einer Individualsprache in verschiedenen Lebensperioden ist größer, als man wohl glauben möchte. Man kann allgemein annehmen, daß der einzelne Mensch im ganzen und großen die Sprachentwicklung der durchlebten Zeit mitmacht, wenn auch viele Gewohnheiten seiner Jugend ebenso haften bleiben werden, wie in der Fremde die Gewohnheiten seiner heimatlichen Mundart. Stelle man sich einen deutschen Mann vor, der im selben Jahre mit Walther von der Vogelweide geboren worden wäre und nun noch, etwas mehr als 700 Jahre alt, in voller Frische des Geistes und Körpers leben würde. Manche nüchtern wissenschaftliche Hypothese unserer Sprachforscher setzt mehr Phantasie voraus. Wie wir nun heute die Gedichte Walthers erst mit Hilfe eines mittelhochdeutschen Lexikons verstehen, wie Walther selbst unsere Romane und Zeitungsartikel erst nach viel anstrengenderen Studien (weil er viel mehr Tatsächliches hinzuzulernen hätte) verstehen könnte, so behaupte ich: mein Siebenhundertjähriger würde im ganzen und großen die Sprache unserer Tage reden, würde bei der Lektüre von Lessing z. B. freundlich angemutet werden von den Gewohnheiten des 18. Jahrhunderts, seinen Jugendgenossen Walther aber würde er ebensowenig ohne wissenschaftliche Hilfe lesen können wie wir. Begegnete er sich mit Walther, sie würden einander nicht mehr verstehen.