Wortgeschichte
Ganz abgesehen aber von dieser verzweifelten Erkenntnis: Wort daß nämlich niemand seine Sprache völlig kennt, daß also nirgends "die Sprache" existiert, ganz abgesehen davon fehlt uns noch mancherlei zur wirklichen Kenntnis auch nur unserer Muttersprache. In der Wissenschaft ist es einleuchtend, daß nur die Geschichte eines Begriffs volle Klarheit über den Begriff verleiht. Selbst so allgemein gebrauchte technische Ausdrücke wie "Oxygen" werden durch ihre Geschichte deutlicher; die ganze Fülle der Entdeckungen, welche die phlogistische Lehre umstießen und die Gewichtsvermehrung bei der Verbrennung zum Ausgange hatten, liegt in der Geschichte des Wortes Oxygen. Nun ist aber alle Sprache Kenntniserinnerung oder Wissen, jedes Wort hat seine Geschichte, und zu einer intimen Kenntnis einer Sprache würde also Kenntnis ihrer gesamten Geschichte gehören. Die ist aber den allermeisten Menschen völlig unbekannt. Und was etwa die Philologen davon wissen, das ist oberflächlich, etwa so viel, wie ein Regenwurm vom Erdinnern weiß. Oder meinetwegen: soviel ein Bergarbeiter davon weiß.
Man könnte mir einwenden, daß ja eine lebendige Sprache, so wie sie sich ohne jede Sprachvergleichung im heutigen Gebrauche darstellt, ein Ganzes sei und ihrer Geschichte nicht bedürfe; wie eben ihr Gebrauch zwischen den ungelehrten Volksgenossen beweise. Damit würde aber behauptet, daß der feinere und nüanciertere Gebrauch unter gebildeten oder gar gelehrten Leuten nicht mehr zu dieser Sprache gehöre. Wird doch oft genug die Sprache durch historische Kenntnis vorübergehend neu befruchtet, wie wir insbesondere im Deutschen an dem Einfluß von Grimm oder (für beschränktere Kreise) von Richard Wagner beobachten können; wobei dann freilich das gemeine Wort der alten Sprache nur äußerst selten mit der alten Bedeutung in die neue Gemeinsprache hineinwächst. Fast in jedem Archaismus steckt ein veränderter Sinn. "Halle" (seit Ramler mit Anlehnung an das englische "hall" wieder eingeführt) ist in "Turnhalle", "Markthalle" etwas anderes als der alte Vorbau; "Weib", "Magd" (seit Wieland etwa wieder in edlem Sinne üblich) hat einen sentimental-poetischen Nebenton.
Ist nun die Sprache eines Volkes etwas "in der Luft", ist es unmöglich, irgend eine Sprache jemals wie etwa ein Gebäude in Raum und Zeit übersichtlich hinzustellen, ist es für den einzelnen Volksgenossen nicht möglich, auch nur seine eigene, ihm scheinbar so vertraute Mundart, die Muttersprache, einigermaßen vollständig zu kennen, so mag man daraus einen Schluß ziehen auf die Kenntnis, die wir etwa von fremden Sprachen besitzen. Die Vokabulare, welche gelehrte und un-gelehrte Reisende von wilden, d. h, fremdsprachigen Völkern mitbringen, wimmeln von den allergröbsten Mißverständnissen. Neuere Sprachforscher haben eine besondere Technik erfinden müssen, nach welcher so ein Reisender dem "Wilden" ein Wort abzufragen hat; und die Kreuzfragen des Inquisitionsprozesses zu stellen, war nicht schwieriger, als in fremder Sprache etwa die Vokabel für "Hand" abzufragen. Ob der vernommene Ausdruck Hand, rechte Hand, Finger, fünf Finger, fünf, ich schwöre, ich biete dir Frieden, ich will dich schlagen oder sonst etwas anderes bedeute, das kann nur durch die sorgsamste Fragestellung ausgemacht werden. Es liegt in der Natur der Sache, daß die Bedeutung der Bildungssilben oder ähnlicher Formen, daß die Funktion der syntaktischen Regeln noch viel schwieriger zu erraten ist als Vokabeln für konkrete Dinge, daß Abstrakta sehr oft gar nicht zu erraten sind, weil die Vorstellungen des einen Volkes nicht die des anderen sind. Bevor die christlichen Missionäre bei den Kaffern erschienen, hatten die Kaffern nicht unsere Gottesidee, wie wir kein Wort für "Gummi" hatten, bevor wir den Stoff kannten. Schon eine so nah verwandte und auf verwandten Vorstellungen beruhende Sprache wie das Französische ist für einen Deutschen nicht völlig erlernbar (d. h. nicht so weit, wie der Deutsche seine eigene Sprache kennt), trotzdem seit Jahrhunderten unzählige Menschen beide Sprachen reden, und so ein Mißverständnis bei Aufstellung der Vokabulare fast ausgeschlossen ist Um wieviel weniger genau wird unsere Kenntnis fremderer oder gar "wilder" Sprachen sein. Und dennoch beruht auf dieser für die eigene Muttersprache mangelhaften, für die entfernteren Sprachen armseligen und für die ganz entlegenen Sprachen lächerlichen Kenntnis alles, was die Sprachwissenschaft zu lehren sucht. Freilich wäre Sprachkenntnis, wenn sie möglich wäre, auch Welterkenntnis.
Selbstverständlich steht unsere Kenntnis der Grammatik einer fremden Sprache noch tief unter unserer Kenntnis ihres Wortvorrats. Ganz so schlimm ist es freilich nicht mehr wie noch vor fünfzig Jahren, als sich so eine arme indianische oder polynesische Sprache durchaus in die Kategorien der lateinischen Grammatik fügen mußte; es war, als ob man z. B. die Lilie zur Musterblume ernannt hätte und eine jede Pflanze, jeden Strauch und jeden Baum nach den Teilen der Lilie merken und benennen wollte. Als ob Rose, Farn und Palme sich mit einer Zwiebel hätte ausweisen müssen und mit einer dreikantigen Kapsel.
Noch ärger ist die Sünde gegen den heiligen Geist der Sprache, wenn sich der Pfaffe in die Sache mischt. Wenn (um beim Beispiel von der Lilie zu bleiben) die Lilie auf Bildern ohne die männlichen Geschlechtsteile, ohne Staubgefäße dargestellt wird, weil christliche Künstler und Herren sie zum Sinnbild der Unschuld erklärt haben. Die Wortbedeutung wird sich am Ende doch abfragen lassen (wenn nicht gar der wilde Stamm, wie es vorkommen soll, den Irrtum des geehrten Europäers höflich oder trottelhaft dadurch anerkennt, daß er den falschen Gebrauch annimmt). Die Grammatik mag durch die unpassenden lateinischen Ausdrücke schwieriger zu erlernen sein; sie wird aber den Weg zum Sprachgebrauch nicht für immer verrammeln. Wenn aber Missionäre töricht genug sind (wie es geschehen ist), das erste Kapitel des Evangeliums Johannis zur Grundlage einer Übersetzung zu nehmen oder gar (wie es ebenfalls geschehen ist) zum Urtext einer Polyglotte, so ist das wirklich ein frivoles Spiel. Denn wo wir alle den griechischen Text oft so wenig verstehen wie das Hexeneinmaleins, wo der Verfasser selbst nicht Wirklichkeiten, sondern nur Modebegriffe seines armseligen Neu-Platonismus mit dem Logos und den anderen Worten verband, da kann nur ein Kaffer entsprechende hottentottische Sätze bilden. Da aber das Christentum — wie es von solchen Missionären gelehrt wird — nur eine Reihe von Worten ist, da sie nicht anders als mit Worten Vorstellungen in die Gehirne ihrer Wilden hineinbringen können, so mag dieses Beispiel von Missionärpsychologie auch ungefähr erraten lassen, weß Geistes Kind das von ihnen verbreitete Christentum sein mag.