Energie
I.
Unsere Zeit gleitet langsam auf die Bahn der Naturphilosophie zurück. Wir haben die Angst vor der verpönten Naturphilosophie verlernt. Sie kann auch nicht mehr so gefährlich werden, wie sie der Wissenschaft in Deutschland vor hundert Jahren wurde. Damals versuchten es geistreiche Männer, das ganz unscholastische Ziel einer Naturerkenntnis auf scholastischem Wege zu erreichen; als ob Bacon nie gelebt hätte, als ob Mathematik und Physik, Chemie und Physiologie nicht der exakten Forschung einen überraschenden Aufschwung bereits zu danken gehabt hätten, gingen die deutschen Naturphilosophen darauf aus, durch logische Schlüsse ins Innere der Natur zu dringen, positive Kenntnisse aus der Tiefe des Gemüts zu schöpfen, aus der Tiefe des Gemüts die Anatomie des Kamels, aus der Tiefe des Gemüts die Zahl der Planeten. Wie tausend Jahre vorher sollte das Denken wieder die Erfahrung und das Experiment (die schlaue Erfahrung) ersetzen. Die Lage der Wissenschaften ist heute eine ganz andere. Unbekümmert um die alte Naturphilosophie, mit steigender Verachtung gegen alle Philosophie, hatte die exakte Wissenschaft in allen Kulturländern zugleich daran gearbeitet, naturgeschichtliche Tatsachen zu sammeln, vorurteilslos, fast gedankenlos, möchte man sagen, oder doch ideenlos, unermüdlich, oft genug geistlos oder alexandrinisch. Die Kärrner bildeten natürlich die Mehrzahl unter den Forschern. Das Ergebnis war ein so unübersehbarer Haufe von Einzeltatsachen, daß in genialen und auch in ordnungsliebenden Köpfen der Wunsch sich regen mußte, sich einmal darauf zu besinnen, ob die neuen Ergebnisse der exakten Forschung geeignet wären, uns die Natur anders und besser begreifen zu lehren als bisher. Ohnehin war die Philosophie überhaupt dadurch wieder zu Ehren gekommen, daß die bedeutendsten Physiologen und Physiker eingestehen mußten: die Psychologie Lockes und die Erkenntnistheorie Kants stimmen sehr gut zu den neuesten Untersuchungen über die Natur der menschlichen Sinne. Man scheute das Wort Philosophie nicht mehr und wagte es wieder, die Natur philosophisch zu betrachten. Hatte man vor hundert Jahren den romantischen Einfall gehabt, ein aus der Tiefe des Gemüts geschöpftes System den Tatsachen aufzuzwingen, so will man jetzt eigentlich nur die massenhaften Tatsachen systematisch ordnen. Im Grunde ist es nicht der deutsche Begriff Philosophie, sondern der englische Begriff philosophy, der da auf das Naturerkennen angewandt wird. Der lebhafteste und beste Vertreter der wieder zu Ehren gekommenen Naturphilosophie, Ostwald, lehrt in jedem seiner Bücher: die Natur wäre besser als bisher dadurch zu begreifen, daß man in den verschiedenen Energien die einzigen Ursachen des Weltgeschehens erblickte. Die neue Naturphilosophie ist Energetik.
Ich stehe nicht an es auszusprechen, daß ich die heutige Gewohnheit, überall da von Energie zu reden, wo man noch vor zwei Generationen mit Kraft auskam, für eine Sprachmode halte. Es war allerdings unbequem, die potentiellen Kräfte unter dem so aktiv klingenden Kraftbegriffe unterzubringen; das Wort Energie bot aber zunächst die gleiche Schwierigkeit; und am Ende sind die beiden Hauptsätze der Energetik, der durch seine Gewißheit fast banal gewordene erste Satz und der immer noch problematische zweite Satz der mechanischen Wärmetheorie – am Ende, sage ich, sind die Hauptgedanken der Energetik ausgesprochen worden, bevor der Begriff Energie üblich war. Übrigens kommt es auf die Worte nicht an. Die Naturphilosophen hätten nur die Pflicht, die Begriffe Kraft und Energie so zu definieren oder zu beschreiben, daß eine saubere Scheidung möglich würde. (Vgl. Art. Kraft.)
Zu uns ist das alte Wort Energie auf seiner langen Wanderung über England gekommen, aus dem Lande also, wo das Dogma vom klassischen Altertum noch in ungetrübtem Ansehen steht, wo Ästheten und Forscher noch nicht zu wissen scheinen, daß das Ende der schönen und preisenswerten Renaissance hereingebrochen ist, daß wir uns von der Herrschaft der Griechen so gewiß befreien müssen, wie es vor fünfhundert Jahren nötig war, uns ihrer Führung anzuvertrauen. Drollig ist es, daß bei dieser Vorliebe der Engländer für griechisches Denken, oft nur für griechische Wörter, politische Sympathien aus der Zeit des Philhellenismus eine entscheidende Rolle spielten, also ein höchst unwissenschaftliches Gemisch von dichterischem Idealismus und geschäftlicher Heuchelei.
Der Physiker Young führte das Wort energy zuerst vor etwa hundert Jahren für den Kraftbegriff ein, und Thomson gebrauchte es dann zuerst in der neuen Bedeutung: Energie ist die Fähigkeit, Arbeit zu leisten. Man sieht, die alten Vermögen sind unter einem neuen Namen wieder auf dem Plan. Aber die Vorstellungen, die man an die Arbeitsleistungsfähigkeiten knüpfte, waren doch viel klarer und genauer als das, was man sich einst bei dem Begriffe Vermögen vorstellte; und auch die Bezeichnung Energie war nicht schlecht gewählt. Das Wort ἐνεργεια bedeutete im Griechischen soviel wie πραξις, eine Tätigkeit, eine Wirksamkeit; es eignete sich also sehr gut dafür (wie wir gleich sehen werden), die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung auszudrücken. Freilich wurde ἐνεργεια von Aristoteles gern in einem Gegensatze zu ἑξις gebraucht, und ἑξις sollte, gegenüber der aktiven Energie, einen passiven Zustand oder eine Beschaffenheit ausdrücken; ich habe schon kurz darauf hingewiesen, daß darum potentielle Energie eben so schlecht zu kopulieren war wie potentielle Kraft. Aber bei einem Fremdworte hört man nicht so genau.
II.
Die Naturphilosophie, welche sich selbst Energetik nennt, ist insofern wirklich eine Abart deutscher Philosophie, als sie darauf ausgeht, den Substanzbegriff aus der Welt zu schaffen, durch den Energiebegriff zu ersetzen, und so, wenn das Wort gestattet ist, etwas wie einen empirischen Idealismus zu lehren. Auf eine solche Konsequenzmacherei wäre englische philosophy kaum verfallen. Die gegebene Aufgabe war, die so durchaus verschieden wirkenden Kräfte (Bewegung, Wärme, Gravitation, chemische Affinität, Elektrizität, Magnetismus) unter dem Oberbegiff Energie einheitlich zu definieren und, nachdem die Verwandlungsmöglichkeit der verschiedenen Energien ineinander erkannt worden war, mehr Einheit als bisher in das Weltgeschehen hineinzudenken. Diesen Dienst hat die Energetik binnen ungefähr 50 Jahren der Naturwissenschaft geleistet. Man achte einmal auf eine kleine sprachliche Absonderlichkeit, um mit einem Blicke übersehen zu können, welche Verwirrung in unsern Vorstellungen von den verschieden wirkenden Kräften bis dahin geherrscht hatte; es ist am bequemsten dabei auf die romanischen Ausdrücke zu achten: mouvement, gravitation, chaleur, affinité, magnétisme. Im Lateinischen waren diese Ausdrücke mit Hilfe der so ungleichen Endsilben -mentum, -atio, -or, -tas, -ismus gebildet worden. Eine ganze Welt von mythologischen Begriffen verbirgt sich hinter den Zusammensetzungen mit diesen Endsilben; eine intime Wortgeschichte aller dieser Kraftbegriffe würde lehren, daß jedesmal dominierende Nebenvorstellungen die Wahl der Endsilbe herbeiführten. Der Fall liegt nicht ganz so schlimm, wie bei den vier Elementen Feuer, Wasser, Luft und Erde, die bis ins 18. Jahrhundert hinein einer einheitlichen Erkenntnis der chemischen Verbindungen im Wege standen; aber Sachkenner werden mir zugeben, daß die inkohärenten Namen der Kräfte doch auch dazu beitrugen, die Einsicht in die mögliche Einheit alles Naturgeschehens zu hemmen. Die Bezeichnung Energie war neu, war noch nicht kompromittiert, eignete sich also sehr gut dazu, als Oberbegriff für all diese schlecht benannten Kräfte zu dienen; war nur der Energiebegriff gut definiert, so brauchte man die Namen der einzelnen Energien nicht in einheitlichem Sinne abzuändern (was ein gewagtes und undankbares Geschäft gewesen wäre) und konnte stillschweigend die Definition der Energie auf ihre einzelnen Erscheinungen anwenden, unbekümmert um die alten Vorstellungen, die sich irgendwie unbewußt noch an die verschiedenen Endsilben knüpften.
Welches aber ist die Definition oder Erklärung des neuen Energiebegriffs? Ich will es nur gleich sagen, daß ich den Wert des neuen Begriffs, im Gegensatze zu den Synonymen Vermögen und Kraft, in der Möglichkeit finde, Energie an Stelle der alten Kausalität zu setzen und so ein schwerfälliges Wort der Scholastik, das durch einen hundertjährigen Streit unersetzliche Verluste erlitten hat, durch einen neuen, noch bildsamen, eine Fülle naturwissenschaftlicher Tatsachen assoziierenden Begriff zu ersetzen.
Ich habe schon darauf hingewiesen, daß der Gegensatz von Hume und Kant in bezug auf den Kausalitätsbegriff nicht unüberbrückbar sei. (Vgl. Art. causalitas S. 110 und Art. Bedingung S. 94.) Hume und Kant hatten beide den Ursachbegriff aus der Ontologie hinausgeschafft und in die Psychologie verwiesen; wir wenigstens dürfen das so ausdrücken. Hume hatte die Ursache eine Gewohnheit des Denkens genannt; viel schärfer, und in diesem Punkte ein Überwinder Humes, faßte Kant die beiden Korrelatbegriffe Ursache und Wirkung unter Kausalität zusammen, nannte sie selbst eine Kategorie des Denkens, sah in ihr eine Bedingung aller Erfahrung: die Relation zwischen Ursache und Wirkung. Dem Kantischen Kausalitätsbegriffe nun, nicht dem Ursachbegriffe allein, möchte ich den neuen Energiebegriff gleichgesetzt wissen.
Wir haben seit zwei Menschenaltern gelernt, daß sich z. B. Bewegung in Wärme, Wärme in Elektrizität verwandelt, streng gesetzmäßig, wenn wir nämlich berechtigt sind, die Erhaltung der nach bestimmten Einheiten gemessenen Quantitäten ein Gesetz zu nennen. Die untereinander unvergleichbaren Erscheinungen der Bewegung, der Wärme, der Elektrizität nannte man früher Ursachen oder Kräfte, ohne sich der anthropomorphischen Herkunft dieser Vorstellungen klar bewußt zu werden; Bewegung, Wärme, Elektrizität waren Kräfte, die irgend etwas anderes, fremdes verursachen konnten, wie der Mensch durch seine Körperkraft einen Stein werfen, seinem Mitmenschen einen Schmerz zufügen kann. Innerhalb der Dynamik war es längst bekannt, daß die Kräfte erhalten bleiben und nur ihre Richtungen wechseln. Durch den Satz von der Erhaltung der Energie kam etwas ganz Neues hinzu. Man erfuhr jetzt, daß die sonst unvergleichbaren Energieformen sich ineinander verwandeln können, bei Erhaltung der gemessenen Quantitäten. Diese Verwandlung oder Metamorphose der Energieformen scheint mir nun die vorläufig letzte Fassung des Rätsels zu sein, das als Kausalität sowohl Hume als Kant beschäftigte. Hume verzweifelte daran, den Ursachbegriff im Denken überhaupt vorzufinden; Kant gab die Schwierigkeit zu, da die Vernunft auf keine Weise einsehen könne, wie die Beziehung des Daseins eines Dinges auf das Dasein von irgend etwas anderem möglich sei, was durch jenes unbedingt gesetzt werde (Proleg. § 27 S. 97); und Kant, dem sein erster Kritiker Änesidemus-Schulze nicht mit Unrecht vorwarf, sein System könnte den Namen des Formalismus verdienen, half sich damit, daß er die Kausalität eine Form des Denkens nannte, die aller Erfahrung vorausging. Er leugnete nicht eine Beziehung zwischen Ursache und Wirkung; er nannte nur diese Beziehung eine Relation, von deren Realität wir nichts aussagen können. All das trifft auf die Verwandlungen oder Metamorphosen der Energieformen zu. Bewegung verwandelt sich in Wärme, Wärme verwandelt sich in Bewegung; es hängt allein von der Anordnung des Versuchs ab, welche von den beiden Erscheinungen Ursache und welche Wirkung heißen solle. Auch eine Kreisverwandlung läßt sich leicht konstruieren, bei der dann die Wirkung wieder zur Ursache wird. In der Natur freilich gibt es keine Kreisverwandlungen, weil die Zeit, nach welcher allein wir Ursache und Wirkung in unserer Sprache unterscheiden können, nicht umkehrbar ist, nur einmal da ist. Ursache aber und Wirkung sind Energie; und sind auch nur ein und dieselbe Energie unter verschiedenen Verkleidungen. Denn das allein kann doch der Grundgedanke der neuen Naturphilosophie sein, die als Energetik die Erhaltung der Energie lehrt: daß es über allen Energieformen nur eine Energie gibt. Die bleibt erhalten, während ihre Erscheinung als Bewegung, Wärme, Elektrizität usw. wechselt. Nun ist es ganz gewiß ein ungenauer, ein bildlicher Ausdruck, wenn man sagt, Energie sei zu gleicher Zeit Ursache und Wirkung. Die Ursache verschwindet, die Wirkung erscheint. Die Höhenlage des aufgestauten Wassers verschwindet; aber jetzt dreht sich das Rad; dann verschwindet die Drehung des Rades oder der Turbine, und im metallischen Drahte zeigen sich elektrische Erscheinungen; endlich verschwindet die Elektrizität und das Licht ist da. Die Ursache ist zugunsten der Wirkung verbraucht worden. Wenn wir trotzdem an der Formel, die Energie bleibe erhalten, keinen Anstoß nehmen, wenn wir also die Energie der Ursache und die Energie der Wirkung gleich setzen, so verstehen wir unter Energie nicht Ursache oder Wirkung, auch nicht Ursache und Wirkung, sondern die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung, eben die Relation, die Kant unter Kausalität verstanden hat. Darin allein scheint mir der entschiedene Wert des Energiebegriffs zu liegen. Bis auf Hume und Kant hatte die Scholastik nachgewirkt, die in ihrem Wortrealismus der causa fast einen dinglichen Charakter beigelegt hatte; Hume und Kant verwiesen, wie gesagt, den Begriff in die Psychologie, doch so, daß Hume ihn für einen Scheinbegriff hielt, Kant aber die Relation zwischen Ursache und Wirkung in ihrer Bedeutung für unser Denken erkannte, und nur über ihr Wesen nichts auszusagen vermochte. Die neuere Physik hat nun über das Wesen dieser Relation doch etwas sehr Wichtiges ermittelt, daß es nämlich in der Metamorphose einer ihrer Quantität nach vergleichbaren Kraft bestehe, besser: in der Metamorphose von Kräften; die alten Worte für diese Kräfte (Kräfte, Vermögen, Ursachen) bezogen sich aber anthropomorphisch immer auf die der Zeit nach vorangehenden Lagen oder Veränderungen oder Bewegungen; es war also ein Bedürfnis der wissenschaftlichen Sprache, für die Umwandlung selbst, für die Metamorphose, die aus der Ursache eine Wirkung machte, einen neuen Ausdruck zu finden. Und diesem Bedürfnis entsprach recht gut das unverbrauchte Wort Energie. Es scheint mir vorzüglich der Kantischen Erkenntnistheorie zu entsprechen, wenn wir unter Energie einzig und allein die Kategorie der Kausalität verstehen, die Relation zwischen Ursache und Wirkung. Nur zwei Punkte habe ich bei diesem Vorschlage noch deutlicher zu machen: ich muß den Begriff der Ursache noch einmal prüfen, und ich muß die Frage nach der Realität der Energie zu beantworten suchen.
Ich habe aus der Summe der Bedingungen, von welchen eine notwendige Wirkung abhängt, diejenige Bedingung die Ursache genannt, der wir eine auslösende Kraft beilegen. Ich habe da schon den Begriff der Auslösung etwas erweitert, und sogar die Lebenskraft im Keime eines Samens eine auslösende Kraft genannt. (Vgl. Art. Bedingung S. 97.) Aber die neuere Physik, insbesondere die mechanische Wärmetheorie, scheint mir den Begriff der Auslösung noch viel mehr erweitert zu haben. Der alte scholastische Satz causa aequat effectum hat seine Giltigkeit verloren. Wir wissen seit Carnot und Clausius, daß bei der Umwandlung von Wärme in Arbeitsenergie ein beträchtlicher Teil der Wärme fruchtlos ausgegeben wird, nicht in diejenige Wirkung verwandelt wird, die wir als Wirkung gewollt haben. Läßt sich dieses Gesetz verallgemeinern, so bleibt der theoretische Satz von der Erhaltung der Energie zwar bestehen, aber die Ursache ist der Wirkung (der uns interessierenden Wirkung) nicht mehr gleich, die Ursache wird in zwei Kräfte zerlegt, von denen die eine eine Wirkung auslöst, die andere nutzlos verschwindet. Man stoße sich nicht daran, daß ich da den alten Ursachbegriff, mit bewußter Übertreibung seines anthropomorphischen Charakters, an das menschliche Interesse geknüpft habe; es scheint mir aber wirklich dem Sprachgeiste zu entsprechen, daß nur ein interessiertes Auge Ursache und Wirkung beobachten kann. Was die interesselose, uneigennützige Forschung am Naturvorgange sieht, dafür passen die alten Worte nicht mehr recht. Das neue Wort ist voraussetzungsloser. Und so nähert sich der Energiebegriff, unbekümmert um Menschenzwecke, den wirklichen Beziehungen zwischen causa und effectus viel genauer, als der anthropomorphische Ursachbegriff es zu tun vermochte. Also führt auch diese Erwägung dazu, die Einführung des Energiebegriffs für einen Fortschritt der Physik zu halten.
Was nun die Realität des Energiebegriffes betrifft, so hat Kant (a. a. O.) zwar gegen Hume erklärt, daß er die Notwendigkeit der Kausalität durchaus nicht für bloßen Schein halte, daß aber die Vernunft diese Beziehung gar nicht fassen könne, daß er also (das ist wohl der Sinn) über die Realität des Kausalbegriffes nichts aussagen könne. Wenn nun (nach Ostwald) der Energie Realität zugeschrieben werden muß, so kann Energie entweder nicht identisch sein mit dem Kantischen Kausalitätsbegriffe, mit der Relation zwischen Ursache und Wirkung, oder Ostwald hat die letzten Fragen viel gründlicher beantwortet als Kant. Was ja möglich wäre; Wundt hat es ja seinem Mitarbeiter an der »Kultur der Gegenwart« (Systematische Philosophie S. 127) schwarz auf weiß zugesichert, daß Ostwald ein Metaphysiker sei. Ostwald hat nun (a. a. O. S. 162) zugestanden, daß der Allgemeinbegriff der Energie abstrakt sei; »die einzelnen Energieen dagegen sind durchaus real.« Er folgert das daraus, daß die verschiedenen Energieen Gegenstände des Handels seien. Man kaufe Elektrizitätsenergie und verwende sie nach Bedarf zur Beleuchtung, zur Arbeit oder zur Elektrolyse. An einer Wasserkraft werde das fallende Wasser bezahlt; das verbrauchte Wasser lasse man als wertlos abfließen. Ganz richtig. Damit scheint mir allerdings bewiesen, daß nicht das reale Wasser bezahlt werde, sondern nur die Höhenenergie des von Naturkräften emporgehobenen Wassers. Bewiesen ist, daß solche Relationen (die höhere Lage, die höhere Temperatur, die höhere Spannung) einen höheren wirtschaftlichen Wert besitzen; die Realität einer Erscheinung wird nicht dadurch bewiesen, daß es Leute gibt, die Geld für diese Erscheinung ausgeben. Es gibt Leute, die für Ablaß, für Besprechung von Krankheiten, die für den Kommerzienratstitel oder für Geistererscheinungen Geld ausgeben; das wäre mir eine schöne Metaphysik, die daraus schließen wollte, Ablaß, Besprechungen, Kommerzienratstitel und Geistererscheinungen hätten Realität. »Aber die Pächter von Wasserkräften machen doch gute Geschäfte?« Jawohl; und die Leute, die sich über die Realität des Raumes den Kopf zerbrechen, machen keine guten Geschäfte.
Die gewiß unbewußte Absicht, die Ostwald zu einer solchen Logik führte, war wohl die Tendenz, seinen dominierenden Gedanken wieder einmal zum Ausgangspunkt eines Systems zu machen, eine neue Philosophie aufzustellen, eben die Energetik. Die letzte Gestalt des Materialismus war die mechanistische Weltanschauung gewesen, die den alten Gegensatz von Geist und Körper durch die Begriffe Kraft und Stoff zu überwinden hoffte. Das war wieder ein Dualismus gewesen und hatte abgewirtschaftet. Das neue Schlagwort hieß: Monismus. Bedurfte die Energie eines Trägers, an dem sie haftete, einer Substanz, so lief die neue Energetik wieder auf die Lehre von Kraft und Stoff hinaus; man besaß dann nur zwei neue Worte und einige bessere Beobachtungen; war die Energie nur die Relation zwischen Ursache und Wirkung, so blieben alle Rätsel des Substanzbegriffes ungelöst weiter bestehen und es war zu fürchten, daß die Erklärung des Geisteslebens durch Substanz und Energie ebenso scheitern würde, wie die Erklärung durch Kraft und Stoff elend gescheitert war. Der Monismus mußte helfen. War die Energie nicht nur in allen ihren Formen eine Beziehung (zwischen Substanzen oder Veränderungen, wie man will), war die Energie das eigentlich Reale (Ostwald: Die Energie S. 5), dann verlangte es die Einheit des Systems, daß man den Energiebegriff über die Physik hinaus auf die Realitäten der Biologie und der Psychologie anwandte und die langgesuchte monistische Welterklärung war endlich fertig. Die Erweiterung des Energiebegriffes über die Mechanik hinaus auf alle Erscheinungen der Physik hatte sich vor Ostwald vollzogen, als die mechanische Wärmetheorie einen Oberbegriff für die verschiedenen Arbeitsleistungen gebraucht hatte, die sich gesetzmäßig ineinander verwandelten; die fernere Erweiterung des Begriffes auf die Erscheinungen des Lebens und des Geistes sind Ostwalds persönliches Werk. Wir haben noch zu fragen, was durch diese neue Erweiterung des Energiebegriffes etwa erreicht worden ist.
III.
Ich habe schon flüchtig erwähnt, daß die Bezeichnung Energie zuerst auf eine Erscheinung der Mechanik angewandt wurde; man hatte für das, was außer dem Namen lebendige Kraft vorher viele andere Namen aus der Gemeinsprache, übrigens auch verschiedene Definitionen und verschiedene mathematische Formeln, gehabt hatte, nach einem wissenschaftlichen Ausdruck gesucht, und die Engländer fanden, wie gesagt, für diese mechanische Gewalt oder den Impetus das Fremdwort Energie. Die Konstanz der lebendigen Kraft war seit Descartes ein Glaubensartikel der Physik. Als nun Robert Mayer diese Lehre ausdehnte, die Konstanz der nicht bloß mechanischen Kräfte lehrte, insbesondere das mechanische Wärmeäquivalent fand, da war es ökonomisch und darum wissenschaftlich richtig, den Energiebegriff auf die Chemie und auf die Imponderabilien auszudehnen und von einer Erhaltung der Energie zu sprechen. Das Gebiet der Physik wurde dabei nicht verlassen. Die Naturwissenschaft wußte nur von physikalischen Energieen; erst die neue Naturphilosophie versuchte es, getreu ihrem Streben, das Unsichere durch Verallgemeinerung des Gesicherten zu erraten, den Energiebegriff über die Physik hinaus auszudehnen. In einem zweifachen Sinne. Die neue Energetik wollte die Energie an die Stelle des Substanzbegriffes setzen, wobei freilich immer nur ältere Worte durch neuere Worte ersetzt wurden, ohne daß das wissenschaftliche Bild von der Welt irgendwie verändert worden wäre. Aber die Energetik wollte auch das Leben und den Geist für Energieformen ausgeben, und dabei ging es ohne Gewaltsamkeiten nicht ab. Ich bemerke, daß Ostwald in seinen ganz eigenen Büchern diesen Bedeutungswandel des Energiebegriffes sehr energisch betont, daß er aber in dem kleinen Abriß der Naturphilosophie, der in den Sammelband Systematische Philosophie (»Kultur der Gegenwart«, Teil I Abt. VI.) aufgenommen worden ist, auf seine Kollegen Rücksicht nimmt, und namentlich an einer energetischen Erklärung des Geisteslebens verschämt vorübergeht, »da die hier auftretenden Fragen in den anderen Abteilungen dieses Werkes behandelt werden.«
Ostwald hat gut gesehen, daß die Lebenserscheinungen rein mechanistisch nicht zu erklären sind. Zwischen einer Flamme und dem Leben eines Organismus gibt es viele Ähnlichkeiten, die ja oft genug von Poeten und Rhetoren in Worten behandelt worden sind; aber das Leben ist doch noch etwas anderes, als daß es der Flamme ähnlich ist. Die Erhaltung der Flamme und die Fortpflanzung der Flamme ist rein mechanisch zu erklären; Erhaltung und Fortpflanzung eines Organismus nicht. Nimmt man die Energieform der Chemie zu Hilfe, so wird vielleicht einmal der gesamte Stoffwechsel der Organismen materialistisch erklärt werden, und man wird das dann (weil doch die Energie an Stelle der Materie getreten ist) eine energetische Erklärung nennen dürfen. Nur das Rätsel des Gedächtnisses wird gewiß auch dann nicht aufhören, Schwierigkeiten zu machen.
Es ist keine Willkür der menschlichen Sprache, zwischen Lebewesen und unorganischen Körpern zu unterscheiden, wenn auch – wie ich öfter zu behaupten gewagt habe – die Kristalle eine Brücke zwischen beiden Gruppen bilden dürften. (Otto Lehmanns anregende Ausführungen über flüssige Kristalle machen die merkwürdigen Bildungen nicht zu lebendigen Wesen; aber sie schlagen doch auch eine Brücke von den anorganischen zu den organischen Formen.) Die Energiesysteme, die wir lebendig nennen, weisen deutlich andere Eigenschaften auf als die Energiesysteme, die wir unorganische Stoffe nennen. Für die menschliche Betrachtung unterscheidet sich das Leben von der unorganischen Welt durch die Zweckmäßigkeit, zu welcher die Teile eines Organismus geordnet sind. Der Zweckbegriff aber hat meines Erachtens unter keinen Umständen einen Platz unter den Energieformen. Der Zweck, die Endabsicht einer Intelligenz, setzt die Existenz von Energieen und einige Kenntnis der Energiegesetze sohon voraus; die Intelligenz benutzt die ihr bekannten Energieen als Mittel für ihre Zwecke. Die Zweckmäßigkeit ist keine neue Energie; die causa finalis ist keine causa. Man könnte das auch so ausdrücken: da nach der Anschauung der gegenwärtigen Biologie sämtliche Energieen des Stoffwechsels im organischen Körper verbraucht werden, bleibt keine Energie übrig, die für eine Umwandlung in eine besondere Lebensenergie oder eine besondere Lebenskraft nötig wäre. Die Reizerscheinungen, die doch nur an Organismen zu beobachten sind, lassen sich demnach so analysieren, daß die Reizbewegungen jetzt oder dermaleinst aus Energieen zu erklären sind, daß die Reizempfindungen aber schon psychische Begleiterscheinungen sind, für deren Zweckmäßigkeit wir keine Erklärung, keine Relation von Ursache und Wirkung, keine Energie kennen.
Nun ist freilich durch Darwins Hypothese der große und kühne Versuch gemacht worden, den Zweckbegriff aus der Geschichte der organischen Natur hinauszuschaffen; und der Kampf um den Darwinismus wird und kann sich nicht beruhigen, bevor über den Zweckbegriff nicht volle Klarheit geschaffen ist. Einstweilen ist es uns durch Hering geläufig geworden, die Zweckmäßigkeit der Organismen durch etwas wie ein unbewußtes Gedächtnis des organischen Stoffes zu erklären. Ich lasse die Frage, ob unbewußtes Gedächtnis nicht eine contradictio in adjecto sei, hier beiseite; offenbar ist es eine bildliche Erweiterung des Begriffes, wieder ein Anthropomorphismus, wenn wir einem Organismus ohne Gehirn und ohne Bewußtsein etwas wie das menschliche Gedächtnis zusprechen. Aber wir kommen ohne dieses Bild nicht mehr aus. Biologie und Psychologie werden so durch den dominierenden Begriff Gedächtnis zu einer einzigen Gruppe vereinigt, und anstatt einzeln zu fragen, ob das Leben eine besondere Energieform sei, ob der Geist eine besondere Energieform sei, haben wir nur noch die einzige Frage zu beantworten: ist das Gedächtnis eine Energieform? Oder besser: kommen wir in der Erkenntnis weiter, wenn wir das Gedächtnis eine Energieform nennen?
Da muß zunächst gesagt werden, daß gegen die Ausdehnung einer Wortvorstellung an sich nicht viel einzuwenden sein wird, gegen die Ausdehnung des Energiebegriffes auf den Geist oder auf das Gedächtnis weniger, als gegen seine Ausdehnung auf das Leben. Im Stoffwechsel scheinen alle chemischen und physikalischen Energieen des Organismus restlos verbraucht zu werden; die Reizempfindungen konnte man noch als innere Begleiterscheinungen auffassen. Muskelarbeit konnte noch als eine, bisher ungelöste, Aufgabe der mechanistischen Physiologie betrachtet werden. Nicht ganz so die Geistesarbeit, die immer auf Gedächtnisarbeit zurückgeht. Wir fühlen diese durchaus innere Gedächtnisarbeit als eine Anstrengung; und wir glauben zu wissen, daß es ohne Stoffverbrauch nicht abgeht, wir dürfen also sagen, daß da bei der Gedächtnisarbeit wieder einmal Energieen verwandelt worden sind. In Arbeit sogar. Das mag der richtige Ausgangspunkt von Ostwald gewesen sein.
Was gewinnen wir aber, wenn wir die Geistestätigkeit eine Energie nennen? Als wir diese Tätigkeit eben Arbeit nannten, haben wir ja schon ahnungslos einen bildlichen Ausdruck gebraucht. Dem ungebildeten Arbeiter oder gar dem Naturmenschen fällt es gar nicht ein, das Nachdenken eine Arbeit zu nennen. Arbeit im Sinne der Nationalökonomie oder gar im noch strengern Sinne der Energetik, der aus der Nationalökonomie stammt. Und wir spielen mit Worten, wenn wir zuerst die ihrer Quantität nach meßbaren Kraftwirkungen unter dem Oberbegriff Arbeitsenergie zusammenfassen und dann die Geistesarbeit, um des Wortes Arbeit willen, eine Energieform nennen. Das ist der springende Punkt. Der Energiebegriff hat nur insofern einen Sinn oder einen wissenschaftlichen Nutzen, als er es uns ermöglicht, die Umwandlungen der verschiedenen Relationen zwischen Ursache und Wirkung mit einem einheitlichen Maße zu messen. Ein gemeinsames Maß zwischen mechanischen Energieen und der Geistesarbeit gibt es nicht und kann es nach dem Wesen der menschlichen Sprache nicht geben, weil alle mechanischen Maße zuletzt auf Raumgrößen zurückgehen, und weil das geistige Leben keine Relation zum Raume hat. Die Ausdehnung des Energiebegriffs auf das geistige Leben oder auf das Gedächtnis hat also keinen Sinn und keinen wissenschaftlichen Nutzen. Sie ist ein Phantasiegebilde, das man nur ästhetisch bewerten sollte.
Ich möchte noch ein wenig tiefer bohren, um eine ganz winzige Strecke. Ist meine Definition richtig, ist die Energie nur die Kausalität, wie Kant sie verstanden hat, ist die Energie nur die Relation zwischen Ursache und Wirkung, so bezieht sich der Energiebegriff nur auf Erscheinungen, ist nur eine Menschenvorstellung, sagt gar nichts aus über die wirkliche Natur. Weil wir es bei unseren Werkzeugen und Maschinen, bei unseren chemischen Fabriken und bei elektrischen Zentralen, beim Kalendermachen und bei Wetterprognosen einzig und allein mit Erscheinungen zu tun haben, darum kommen wir auf allen diesen Gebieten mit dem Energiebegriff und der Lehre von der Erhaltung der Energie recht gut aus. Nach dem Ding-an-sich der Naturerscheinungen fragen die Naturforscher und die Techniker nicht. Nur heimlich meinen sie, durch den Energiebegriff ins Innere der Natur gedrungen zu sein. Wenn wir aber diesen Begriff auf das geistige Leben anwenden, das uns unmittelbar so viel besser bekannt vorkommt als die Naturerscheinungen, so begehen wir den groben Doppelfehler, daß wir die Menschenvorstellung der Relation für eine Erklärung der wirklichen Natur halten, und daß wir darum wieder einmal das Ding-an-sich entdeckt zu haben glauben, wenn wir es eine Energieform nennen.
IV.
Mit dem warnenden Gefühle, einen gefährlichen Boden zu betreten, möchte ich nun noch einen Begriff zuhilfe rufen, der eine Brücke schlagen könnte von Energie zu Gedächtnis. Ich weiß, daß die Brücke brechen wird. Mag man mir wieder Hyperkritik vorwerfen; als ob es ein Fehler des Mikroskopes wäre, wenn es bisher verborgene Risse und Sprünge aufzeigt.
Der Hilfsbegriff ist die Einübung (vgl. Kr. d. Sp. I² 486). Wenn das Gedächtnis das Lösungswort für das Rätsel unseres ganzen psychischen Lebens ist, insbesondere für das unseres Denkens oder Sprechens, so wäre wirklich eine mechanistische Erklärung des Gedächtnisses zugleich eine energetische Erklärung unseres Geisteslebens. Ist nun unser gesamtes Geistesleben die Summe unserer Wort-Assoziationen und erklären sich diese Assoziationen aus Einübung oder Wiederholung der Sprachworte, so scheint auf den ersten Blick die Möglichkeit gegeben, aus den hinterlassenen Spuren in den Nervenbahnen die leichtere Befahrbarkeit der alten Gleise zu erklären und so irgendeine Energieverwandlung anzunehmen, bei der aus dem Stoffwechsel Gedächtnis entstünde wie Ausdehnung aus der Wärme. Wir haben aber (S. 158) den schlichten Satz, daß Wärme eine Energie sei, schon als eine Tautologie oder einen circulus vitiosus erkennen gelernt; und ich fürchte, die Inanspruchnahme der Einübung führt zu einer gleichen Zirkelerklärung. Die Einübung der Worte ermöglicht beim Kinde erst die Assoziationen, die den Gebrauch der Sprache ausmachen; und wieder beim Schüler und beim Erwachsenen erleichtern und ermöglichen erst die Assoziationen das Lernen und die Einübung des Gelernten. Ist das kein Zirkel der Sprache, so ist es der schlimmere Zirkel der psychologischen Wirklichkeit.
Da erwacht die lachend quälende Sorge, ob nicht allein die Anwendung des Energiebegriffs auf das Geistesleben einen verbotenen Zirkel beschreiben möchte, sondern jede Erklärung des Energiebegriffs überhaupt. Und welch eine tollgewordene Kurve könnte den Begriff einer Energie der Lebenskraft oder gar den einer psychischen Energie darstellen, wenn schon jede Definition der physikalischen Energie ein circulus vitiosus wäre! Soll ich den Scherz wagen: eine Cykloïde?
Wir halten uns für diese letzten Fragen der Energetik besser an die mechanistische Energetik, wie sie Helmholtz gelehrt hat und wie sie auch bei der Elektronen-Hypothese eigentlich wieder gelehrt wird; die qualitative Energetik, die nicht materialistisch ist (R. Mayer ist denn doch von Begriffen ausgegangen, wenn dem genialen Manne auch die Anregung aus einem aperçu kam, und Joule, der Engländer, spricht gar von Kräften, die Gott der Materie verliehen hat und die darum nicht zerstört werden können) und die am schönsten von Mach vorgetragen wird, ist weniger falsch, weniger konsequent, aber auch weniger begriffseinheitlich; auch hat uns Mach belehrt (Prinz. d. Wärmelehre² S. 317), daß jene mechanistischen Vorstellungen sich zur bildlichen Darstellung physikalischer Vorgänge gut eignen.
Mach hat auch schon sehr fein darauf hingewiesen (a. a. O. 318 f.), daß es nur ein historischer Zufall war (er denkt an das Interesse Sidi Carnots für die neue Bedeutung der Dampfmaschine), wenn die Aufstellung des Energieprinzips an die mechanische Wärmetheorie geknüpft wurde und nicht etwa an die Theorie der später praktisch gewordenen Elektrizität. Bei der Wärme konnten die Philosophen der Energie Menge und Arbeit gleichsetzen, bei der Elektrizität nicht; der Arbeitsbegriff, auf dem doch der Energiebegriff ruht, wäre also ganz anders vorgestellt worden, wenn Energetik zufällig erst nach der Ausbreitung der Dynamomaschine ausgebildet worden wäre.
Die Grundbegriffe Arbeit und Energie sind also durchaus relative Begriffe, alle ihre Meßbarkeit ist relativ und darum allein schon sind sie nicht physikalisch definierbar; das Bild, mit welchem z. B. Stärke und Spannung der Elektrizität durch die Lagenenergie (Menge und Höhe) eines gestauten Wassers dargestellt wird (ähnlich der sprachliche Ausdruck für andere Energien), nimmt in irgendeiner Weise immer ein oberes und unteres an und diese Bezeichnungen verraten die Relativität der Vorstellungen. Dabei hätte es keinen Sinn, bei der Gravitation oben und unten etwa auf den Mittelpunkt der Erde zu beziehen, bei der Wärme etwa auf den absoluten Nullpunkt. Damit wüßte der Ingenieur nichts anzufangen; und der Naturphilosoph erst recht nichts. (Naturwissensch. Wochenschrift 1909, Nr. 43; »Die Energie« von B. Weiß.)
Man wende nicht ein, daß da nur das Maß der Energie sich als relativ herausgestellt habe, nicht das Wesen der Energie. Mach hat (a. a. O. S. 324), wenn ich die merkwürdige Stelle ganz recht verstehe, den Substanzbegriff als abhängig von dem historisch, also zufällig gewählten Maße dargetan; weil wir das Wasser, dessen Höhenenergie Arbeit leistet, nebenbei auch mit der Wage messen, darum ist es uns ein Stoff; Sauerstoff war so lange kein Stoff, als er nicht gewogen werden konnte. Die Stofflichkeit der Wärme, der Elektrizität hängt davon ab, woran wir diese Energien messen.
Wenn nun nicht nur die Höhe der Energien, sondern ihr Wesen selbst relativ ist, wenn wir sogar zu dem Urphänomen der Energetik, dem mechanischen Wärme-Äquivalent, nur durch die historisch zufällige Annahme passend gezählter (Mach a. a. O. 319) Einheiten gekommen sind, bleiben dann noch die beiden Sätze der mechanischen Wärmetheorie, diese beiden Dogmen der gegenwärtigen Weltanschauung, ewige Wahrheiten? Ich höre zu wissen auf und fange zu fragen an. Die beiden Sätze sollen – wie das Axiom von der Unmöglichkeit eines Perpetuum mobile – nur für geschlossene Systeme gelten. Wo aber in aller Welt gibt es ein geschlossenes System? Müssen wir nicht bei den einfachsten Erscheinungen der Mechanik, beim Fallen der Körper wie beim Spielen mit Billardkugeln von bekannten und von unbekannten Nebenerscheinungen absehen, um das, was etwa gerade die Aufmerksamkeit des Rechners erregt, ein geschlossenes System zu nennen? Wäre unser Sonnensystem ein geschlossenes System, auch wenn alle Planeten und ihre Trabanten noch besser beobachtet worden wären als bisher? Wo in aller Welt gibt es ein geschlossenes System außer dem ganzen Weltall selbst? Und was soll die Wortfolge, das Weltall sei ein geschlossenes System, eigentlich heißen? Ist es nicht ein Zirkel ungeheuerlichster Art, wenn wir erst aus einem unentrinnbaren Einheits- und Ruhebedürfnis heraus irdische Gesetze auf die fernsten Erscheinungen anwenden, z. B. die Spektralanalyse zur Beobachtung von Nebelflecken dienlich erklären, und dann die gemachten Beobachtungen trotz des geringen Grades ihrer Wahrscheinlichkeit zu Aussprüchen über die Entstehung unendlich ferner Welten verbinden? Haben wir uns da nicht von dem Axiome »die Energie des Weltalls ist konstant« zu dem gleichen Poetenrausche hinreißen lassen, wie Giordano Bruno sich vor dreihundert Jahren von der ungleich sichereren Lehre des Kopernikus berauschen ließ? Enthält die Menschenvorstellung Weltall nicht bereits die Eigenschaft der Einheit in sich und damit den Charakter eines geschlossenen Systems? Haben wir also ein Recht, die Energetik ein Erfahrungswissen zu nennen, wenn ihre beiden Sätze nur in einem geschlossenen Systeme gültig sind, wir irgend ein geschlossenes System nicht kennen, die beiden Sätze also aus der Erfahrung gar nicht gewonnen sein können?
Ich fürchte, der Energiebegriff ist wieder nur einer jener Grenzbegriffe, zu denen die arme Menschheit gelangt ist in ihrer Sehnsucht nach einem Ruhepunkte. Es klingt so ganz verschieden: Gott und Energie. Oder: Kausalität. Worte der Sehnsucht, Schlafmittel, zu denen wir a priori gelangt sind. Die wirksam sind, die uns Ruhe schenken, weil und solange wir zu ihnen Vertrauen haben. Wir haben jedesmal zu dem letzten Worte der Sehnsucht ein so blindes Vertrauen, daß wir seinen Inhalt für apriorisch halten. Und wir wollen nicht hören, daß die Sprache bei diesem neuesten Worte der Sehnsucht ihr altes Spiel mit uns treibt. Nichts hören von dem alten Widerspruche in dem neuen Worte. Nichts hören davon, daß der zweite Satz der mechanischen Wärmetheorie den ersten eigentlich aufhebt: daß also der erste Hauptsatz der Energetik zugleich ein Axiom und zugleich – als ein richtiger Grenzbegriff – niemals genau anwendbar ist.