Entwicklung
Wer sein Ohr für die wissenschaftlichen Schlagworte geschärft hat wie für die Worte der Gemeinsprache, der hört den Kampf zwischen Zweck und Zufall auch aus dem allerklärenden Begriffe des Darwinismus heraus: aus dem Worte Entwicklung, das noch im D. W. ohne jede Bemerkung nur gebucht ist, und das dann seit noch nicht fünfzig Jahren eine unübersehbare Literatur zur Entwicklung oder Entfaltung gebracht hat. Entwicklung ist eine Übersetzung von evolutio, aber keine ganz buchstäbliche Übersetzung. Zunächst spielt das andere Wort explicatio hinein, Entfaltung. Ein Bild von der Knospe. Die Knospe faltet sich in der vollen Blüte auseinander; sie entfaltet, was in ihr zusammengefaltet war. Man dachte sich nach diesem Bilde den späteren Baum, das spätere Tier im Keime zusammengefaltet. Evolutio verläßt dieses anschauliche Bild; die Organismen wickeln sich auf, wie ein Knäuel aufgewickelt wird, wie (nach Nikolaus Cusanus) die Linie aus dem Punkte entsteht; Linea est puncti evolutio – Quomodo intelligis lineam puncti evolutionem? – Evolutionem id est explicationem. Goethe liebte es sehr, das Wort entwickeln in diesem Sinne zu gebrauchen, selbst vom Lösen der Scharaden. Ja, er sagt noch gegenständlicher: »Einen alten verworrenen Zustand zu entwickeln und die Fäden auf einen Knäuel zu winden.« Er wickelt das Entwickelte also wieder zu. Man sagte früher (Jakob Böhme) Auswickelung, ganz genau nach evolutio; da mag sich aber wirklich allzu kraß die Vorstellung eingeschlichen haben, daß eine richtige Vorsehung das hineingewickelt hätte, was die Zeit nachher auswickelte. Wirklich wie ein Kind im Wunderknäuel findet, was der gütige Fabrikant hineingeheimnißt hat. Die Vorsilbe ent, die schon ursprünglich ein Entgegenstehen (Antlitz, Antwort) ausdrückte, war bereit, die Gegenbewegung auszudrücken wie im: Entdecken, Enthüllen, Entrollen des Gedeckten, Verhüllten, Zusammengerollten; man entfaltete das Gefaltete; man entwickelte das Gewickelte. Die Vorsilbe aus hätte vielleicht an den unklaren Gegensatz von Zufall und Ursache (ur = heraus aus) erinnert, wäre nicht mystisch genug gewesen. Die Vorsilbe ent stellte sich für den womöglich noch unklareren Gegensatz von Zufall und Zweck ein; man achte darauf, daß zunächst unsichtbar war, im Dunkel, unbekannt, was nachher entdeckt, enthüllt, entbunden, entrollt, entwirrt, entfaltet, entwickelt wird. Alle Wissenschaft kann und alle Sprache will das Dunkel nicht erhellen, aus dem die Zweckmäßigkeiten hervorgegangen sind, die der Gottgläubige und der materialistische Philosoph mit ganz ähnlichen Worten an den Organismen bewundern. Ich fürchte, an dem Dilemma, sich einseitig zwischen Zufall und Zweck zu entscheiden, wird auch die Kritik der Sprache versagen. Weil der Lachende entsagen muß, nicht mit Worten überzeugen kann. Daß Raum, Zeit und Kausalität nur menschliche, also nur sprachliche Anschauungsformen und Denkformen sind, daß also die Wirklichkeitswelt gar kein Verhältnis zu diesen Anschauungsformen hat, das konnte ein Kant denken, also aussprechen, wenn auch sogar er mit diesem Gedanken dem Ding-an-sich gegenüber versagte. Das ist jetzt in einigen Menschenköpfen. Daß aber Zufallsbegriff und Zweckbegriff, beide zugleich, ebensolche menschliche Anschauungsformen sind, und daß man mit blitzschneller Vertauschung des Standpunktes, mit gleichem Recht und Unrecht, bald in das Dunkel des Zufalls, bald in das Dunkel des Zwecks hinab- oder hinaufsteigen muß, um jedesmal erschreckt den entgegengesetzten Standpunkt für den des Lichts zu halten, mit gleichem Recht und gleichem Unrecht, das ist nicht zu sagen, weil die Menschensprache versagt.
Wir ordnen die uns bekannte Welt nach menschlichen Ordnungszeichen, die den Relationen der natürlichen Wirklichkeit fremd sind, ihnen aber auch nicht widersprechen dürfen; unsere gewordenen Sinnesorgane ordnen die adjektivische Welt nach den Sinneseindrücken; unsere gewordenen klassifikatorischen Wissenschaften ordnen die substantivische Welt nach Arten und Gattungen; und unsere gewordene Naturwissenschaft ordnet die verbale oder kausale Welt womöglich nach den Energieen oder den Relationen von Ursachen und Wirkungen. Daß die Wissenschaften geworden sind oder sich entwickelt haben, das war von jeher nicht zu übersehen. Daß aber auch die Einteilungsgründe der Weltordnung geworden sind, sich entwickelt haben, das ist die neue Anschauung, um die der Entwicklungsgedanke die menschliche Sprache bereichert hat. Auf die Arten und dann auf die Gattungen hat der Darwinismus den Gedanken zunächst angewandt; es lag nahe, den Gedanken auch auf die Teile der Organismen anzuwenden, auf die Sinnesorgane und ihre Funktionen; ganz zuletzt wagte es eine neue Naturphilosophie, sogar nach der Entwicklung der Energieen zu fragen. Niemand wird leugnen wollen, daß die Hypothese Darwins so unsere Weltanschauung um eine Fülle schöner Phantasien bereichert hat; aber durch das Gefühl der Achtung für Darwin wird die Frage nach der Wahrheit des Darwinismus nicht beantwortet. Während auf der einen Seite Hunderte von Forschern auf Darwin schwören und unzählige Beobachtungen zusammentragen, die seine Lehre von der Entstehung der Arten besser und besser beweisen sollen, die aber in Wirklichkeit die viel allgemeinere Annahme irgend einer Verwandtschaft (Verwandtschaft ist ein bildlicher Begriff) zwischen den Organismen beweisen, während also der Darwinismus scheinbar seinen Siegeslauf vollendet, – prüfen auf der anderen Seite philosophischere Forscher die Grundbegriffe des Darwinismus und gelangen zum Zweifel an der Wirklichkeit der Kräfte, die von solchen Begriffen bezeichnet werden; neuerdings hat auch ein Mann der landwirtschaftlichen Praxis (Graf Arnim-Schlagenthin: »Der Kampf ums Dasein und züchterische Erfahrung«) dem Darwinismus, von dessen Siege man ja auch einen unerhörten Aufschwung der Vieh- und Pflanzenzüchtung erwartet hatte, den Satz gegenübergestellt: »Die Majorität der Nachkommen wird immer eine Tendenz zur Mittelmäßigkeit haben.«
Auch wenn ich die nötigen Kenntnisse besäße, so wäre hier nicht der Ort, zu den einzelnen Punkten im Streite um den Darwinismus Stellung zu nehmen. Nur über einige der Begriffe, die von den Darwinisten mitgedacht werden, möchte ich kurz wiederholen, was ich schon einmal (Kr. d. Spr. III 601 ff.) ausgeführt habe. Die Grundbegriffe des Darwinismus werden übrigens in den Artikeln: Geschichte, Natur, Organismus, Vererbung, Zweck behandelt; und auch sonst habe ich keine Gelegenheit ungenützt gelassen, mich mit der Hypothese Darwins auseinanderzusetzen. (Vgl. Index.)
Der menschliche und eigentlich moralische, axiologische Begriff des Fortschritts hat sich in die Vorstellung von einer Evolution der Organismen eingeschlichen. Scheinbar aus Naturursachen, heimlich aus Endursachen wird eine Entwicklung zum Höheren hinauf, ein Fortschreiten gelehrt. »Das ist ja eben die Inkonsequenz aller materialistischen Theorieen, daß sie den Gegensatz von Natur und Geist zwar leugnen, aber keine Sophistik verschmähen, um der Natur den Adel des Geistes zu verleihen ... Es ist eine frevelhaft menschliche Auffassung, die seit Spinoza nicht hätte zu Worte kommen sollen, daß die Evolution der Organismen zum Menschen, die Naturgeschichte also, eine Fortbewegung nach aufwärts, nach oben, nach dem Himmel zu sei. Das ist ebenso frevelhaft menschlich, wie die alte Lehre es war, unsere Menschenerde sei der Mittelpunkt des Weltalls und die Sonne drehe sich um uns.« Nehmen wir aber dem Worte Evolution den moralischen Zweckbegriff des Fortschritts, so verliert es alle Bildkraft und jeden Sinn.
Nun hat Spencer, der mit seinem Lebenswerke den systematischen Bau des deutschen und des internationalen Darwinismus weit stärker beeinflußt hat als Darwin selbst, den Entwicklungsgedanken unter einem noch allgemeineren Bilde ausgesprochen: unter dem der Integration. »Entwicklung ist Integration des Stoffes und damit verbundene Zerstreuung der Bewegung, während welcher der Stoff aus einer unbestimmten, unzusammenhängenden Gleichartigkeit in bestimmte, zusammenhängende Ungleichartigkeit übergeht, und während welcher die zurückgehaltene Bewegung eine entsprechende Umformung erhält.« Diese ein wenig scholastische Definition hatte den unleugbaren Vorteil, daß sie sofort gestattete, die Vorstellungen des Darwinismus über die Entwicklung der Organismen hinaus auf die unorganische Welt auszudehnen; und weiter gestattete, die sozialen Erscheinungen unter den gleichen Gesichtspunkt zu bringen. Man hätte eigentlich schon vor Darwin von einem Kampf ums Dasein am Himmel sprechen können, wie es nachher du Prel getan hat; man hätte schon vor Darwin die Geschichte der Sprache und die ökonomische Völkergeschichte darwinistisch erklären können. Mit Hilfe des Wortes Integration. Aber Spencers Definition ist eine Selbsttäuschung, wie sie sogar auf der Höhe des Denkens dann eintritt, wenn ein Logiker ein verbrauchtes Fremdwort durch ein unverbrauchtes Fremdwort erklären will. Der Menschenbegriff des Fortschritts, der Wertbegriff, der uns den umschreibenden Begriff Evolution verdächtig gemacht hat, steckt bereits in dem allgemeineren Begriffe Integration. Schon im Lateinischen geht die integritas auf die Unverletztheit eines Ganzen, welches ein Ganzes heißt, weil es unverletzt ist; körperlich und moralisch liegt dem Begriffe eines Ganzen da ein Werturteil zugrunde; offensichtlich bei der moralischen Integrität, heimlich auch bei der körperlichen. Besäßen wir die Allwissenheit, die von der theologischen Sprache ihrem Gotte nachgesagt wird; könnten wir alle Beziehungen aller Dinge zueinander übersehen oder auch nur fassen, so würden wir wahrscheinlich den Begriff eines Ganzen, den Begriff von Einheiten aufgeben müssen, uns damit begnügen müssen, reichere und ärmere, wichtigere und unwichtigere, nähere und fernere (ich finde das Wort nicht, weil ich nichts weiß) Beziehungen als das zu erkennen, was wir jetzt Einheiten nennen. Wenn wir im Besitze einer solchen Allwissenheit überhaupt noch eine Neigung haben könnten, etwas zu sagen, Worte zu gebrauchen, so würden wir doch wohl von Einheiten, von einem Streben zum Ganzen, von einer Integration kaum mehr sprechen, wüßten also, als allwissende Götter, von der Evolution nicht einmal so viel, als Spencer von ihr wußte. Denn daß hinter jeder Einheit, hinter jedem Ganzen eine kleine Gottheit stecke, das würde sich in der Sprache der Allweisheit doch gar zu kraus ausnehmen. (Vgl. Art. Einheit.)
Nüchtern ausgedrückt: die Gesetzmäßigkeiten in der Natur können wir aussprechen, in menschlicher Sprache formulieren, weil alle Gesetzmäßigkeit auf die Menschenvorstellung von quantitativen oder qualitativen Einheiten zurückgeht, und weil die Naturgesetze menschliche Vorstellungen sind; die Notwendigkeit in der Natur können wir nicht in Worte fassen, weil die Notwendigkeit wirklich ist und wir für das Wirkliche keine Bezeichnung haben. Das ist der Unterschied zwischen Gesetz und Notwendigkeit, auf deren begriffliche Trennung ich immer wieder dringen muß. Also ist es buchstäblich zu nehmen: Allwissenheit wäre sprachlos. Gott ist stumm. Fatum est ineffabile. (Vgl. Art. Fatalismus.)
Haben sich uns so zwei ganz geläufige Begriffe, die dem Entwicklungsgedanken zugrunde liegen, als Scheinbegriffe erwiesen, Fortschritt nämlich und Einheit, so möchte ich jetzt auch noch ein Bedenken äußern gegen den Begriff, den man allgemein, und schon vor Darwin, mit dem Worte Entwicklung verbunden hat. Namentlich Goethe, als Schüler der französischen Naturforscher, empfand etwas wie Haß gegen den Glauben an Katastrophen in der Natur, und liebte das beruhigende Bild von einer stetigen Entwicklung, von einem stillen Fortschreiten auf einem emporführenden Wege. Doch erst durch Darwins Theorien von der Anpassung und Vererbung, durch die der Geologie entlehnten unendlichen Zeiträume für eine solche stetige Entwicklung, ist diese Anschauungsweise zur Herrschaft gelangt. Die freiesten Menschen empfanden es wie ein geistiges Glück, als die Botschaft zu ihnen kam: auch die Zweckmäßigkeit der Organismen ist nicht die plötzliche Schöpfung eines Erfinders, sondern Folge einer unendlich langsamen Entwicklung. Die Bewunderung für den Bau der menschlichen Sinnesorgane wurde ersetzt durch ein noch reizvolleres Staunen z. B. über die Entwicklung des Auges vom Licht empfindenden Pigmentfleck bis zu seiner jetzigen Vollkommenheit. Eine unendliche Zahl nützlicher Anpassungen summierten sich am Ende zu dem Scheine einer gewollten Zweckmäßigkeit. Nicht sprunghaft, nicht plötzlich, stetig sollten die Organismen entstanden sein. Ihre Zweckmäßigkeit wurde nicht geleugnet, aber natürlich erklärt. Wie aber, wenn auf dem Wege der Entwicklung unzählige Formen lagen, die nicht nützlich, nicht zweckmäßig waren, Veränderungen, deren Summierung keine Zweckmäßigkeit herstellen konnte? Wie, wenn z. B. die Organismen zwischen Reptil und Vogel gar nicht lebensfähig gewesen wären? Der Archäopteryx allein genügt nicht; wir müßten Hunderte von Zwischengliedern haben, um diese Entwicklung zu begreifen. Und ernsthafte Gegner Darwins haben viele Unnützlichkeiten nachgewiesen, die selbst bei lebensfähigen Organismen vorhanden sind. So kam es, daß die Mutationstheorie von De Vries als eine Korrektur des Darwinismus freudig begrüßt wurde. Die Wahrheit des alten Satzes: Natura non facit saltus wurde also nach Darwin wieder angezweifelt. Nahm man aber dem Entwicklungsgedanken oder der Evolutionstheorie die Nebenvorstellung der Stetigkeit, so nahm man ihr auch den eigentlichen Sinn: sie konnte das Wunder der Zweckmäßigkeit nicht mehr erklären, wenigstens nicht besser als die ehemalige Physiko-Theologie, und wirklich benützen theologische Schriftsteller bereits diese Schwäche des Darwinismus, um die alte Schöpfungslegende der Bibel aus diesem Anlaß wieder bestens zu empfehlen.