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Schule

I.

Mit einem seiner vielen berückenden und verrückenden Wortspiele hat Nietzsche im Zarathustra (Von alten und neuen Tafeln 12) unbewußt das Geheimnis verraten, weshalb die prächtige Pädagogik der Jahrhunderte seit Comenius und insbesondere die preisenswerte Pädagogik der letzten Jahrzehnte wesentlich unfruchtbar geblieben ist. »Eurer Kinder Land sollt ihr lieben: diese Liebe sei euer neuer Adel, – das unentdeckte, im fernsten Meere! Nach ihm heiße ich euere Segel suchen und suchen! An euern Kindern sollt ihr gutmachen, daß ihr euerer Väter Kinder seid: alles Vergangene sollt ihr so erlösen!« Euerer Kinder Land, das heißt doch wohl: die künftige Gestaltung der Gesellschaft sollt ihr lieben. Nirgends steht geschrieben, auch nicht in den zehn Geboten, nirgends als im Evangelium: liebet eure Kinder. Alle Reformatoren der Pädagogik glaubten die Kinder lieb zu haben; aber alle waren sie ruchlose Weltverbesserer, ruchlose Optimisten, welche die Kinder irgend einer Zucht unterwarfen, die Schule zum Zuchthaus machten um der Zukunft willen, um einer Utopie willen, um der Kinder Land nach ihrer eigenen Phantasie zu gestalten. Ob vaterlandslos oder kosmopolitisch wie Pestalozzi, ob vaterländisch wie Fichte, ob kirchlich wie die Jesuiten und die Pietisten, ob antikirchlich wie die Prediger der freien Gemeinden, alle diese Kinderfreunde wurden zu Kindermördern, so edle Menschen sie waren, weil sie Weltverbesserer waren, weil ihnen der Kinder zukünftiges Land wertvoller dünkte als des Kindes gegenwärtiges Glück. Auch der Staat hatte keine böse Absicht dabei, da er die Schule, auf die er so stolz ist, so einrichtete, daß sie dem alten Moloch ähnlicher geworden ist als einem Kindergarten. Ob die Kinder für einen unbekannten Gott verbrannt werden, oder ob sie für eine unbekannte Zukunft sieben bis siebzehn Jahre gemartert werden, es ist die gleiche Verirrung.

Eine solche Erbitterung gegen unsere Schule, wie sie ist, mag in den letzten Jahrzehnten oft genug zum Ausdrucke gekommen sein; der Eintritt der Frauen in die historisch gewordenen Bildungsanstalten, das instinktiv stärkere Mitleid der Frau mit den Leiden eines Kindes, der unhistorische Gang der Frauenbildung mag solche Ausbrüche besonders veranlaßt und gefördert haben. Ich meine aber, daß das ganze Elend, der ganze Jammer unseres Schülermartyriums nicht begriffen ist, solange man noch über so kleine Fragen streitet wie: kirchliche oder staatliche Aufsicht, Gymnasium oder Realschule. Der Staat peinigt die Kinder in der Volksschule nicht minder als die Kirche, französische und englische Grammatik kann ebenso blödsinnig vorgetragen werden wie lateinische und griechische Grammatik. Auch mit der besseren Besoldung der Lehrer ist es nicht getan. Die Lehrer an den Volks-, Mittel- und Hochschulen sind Menschen und keine Engel; es gibt unter ihnen alle Zwischenstufen vom Adelsmenschen bis zum Schuft. Aber im Durchschnitt sind sie tüchtige, opferfreudige Leute. Nur die obersten Behörden tragen die Schuld an dem Elend der Schule, nicht die Lehrer. Die stehen unter der Fuchtel, die von ihnen verlangt, daß sie aus jedem Schüler die Durchschnittsleistung herauspressen. So können Durchschnittslehrer zu Kinderschindern werden, wie unter einer ähnlichen Fuchtel mittelgute Unteroffiziere zu Soldatenschindern. Der Staat will wirklich Kinder und Soldaten nicht zum Selbstmorde treiben; er tut es nur.

Das Prinzip, das unsern Schulen zugrunde liegt, das Prinzip der Berechtigung durch Prüfungen, soll sich in China gut bewährt haben; man könnte es, wenn es nur durchführbar wäre, einen geistigen Wettbewerb nennen, ein aristokratisches Prinzip. Das Martyrium der Kinder bestünde im Prinzip nur darin, daß sie schon in jungen Jahren, in den guten Jahren der Unschuld, den Wettbewerb der Erwachsenen auf sich nehmen sollen. Die Besten sollen herrschen! Aristokraten! Sagen wir statt des mißbrauchten Wortes bescheidener ἀριστο βουλοι: die Besten sollen raten. Die sich im Wettbewerb der Schule als die Besten erwiesen haben, sollen dem Volke in allen Nöten des Leibes und der Seele, im Kampfe ums Recht und im Kampfe ums Wissen beistehen, die Besten der Schule.

Es ist ein öffentliches Geheimnis, daß der Drill unserer Schule auf Charakter und Neigung des Schülers, auf seine besonderen Begabungen keine Rücksicht nimmt und keine Rücksicht nehmen kann, daß der Primus in der Klasse später nur selten über seine Mitmenschen hervorragt. Es ist ein öffentliches Geheimnis, daß Eltern und Schüler (diese oft sehr früh) den Bildungsstoff der Schule als veraltet oder gar als Lüge erkennen, daß gute Schulzeugnisse darum von den wirklich besten Schülern entweder verschmäht oder auf Kosten des Charakters erkauft werden. Es ist aber noch kein öffentliches Geheimnis, daß es bei diesem Wettbewerb, bei dieser Auslese der Besten nicht einmal ehrlich zugeht. Daß die Korruption zum Himmel schreit, mit der das Taglöhnerkind in der Volksschule um den vorgeschriebenen Wissensstoff betrogen wird, mit der in den Mittelschulen und in den Spezialpressen die Söhne der Plutokratie und der Bureaukratie durchs Examen gedrückt werden, wenn irgend menschenmöglich, auch wenn sie dumm und faul sind, die schlimmste Korruption, mit deren Hilfe die Söhne aus den regierenden Klassen sich darauf verlassen dürfen, bei der Auswahl, bei Besetzung der höchsten Stellen fast immer den Proletarierkindern vorgezogen zu werden. Kein Mißstand unserer öffentlichen Einrichtungen, keiner verlangt so dringend nach einer Rebellion wie diese Korruption der Schule. Wenn die Arbeitermassen ihre Kinder so liebten wie ihrer Kinder Land, die Rebellion um diese Gleichheit, um die ehrliche Anerkennung der geistigen Ungleichheit also, hätte längst zu einer Rebellion führen müssen, die berechtigter wäre als eine Revolution um das fragwürdige gleiche Wahlrecht oder um die republikanische Staatsform. Wenn es ehrlich zuginge bei dem gleichen Wettbewerb ungleicher Talente um die höchsten Stellen im Staate, dann hätte die soziale Frage mit einem Schlage ihre Erbitterung verloren. Wenn die Söhne der Plutokratie und der Bureaukratie, sobald sie als dumm, faul oder schlecht erkannt sind, zurück müßten in den Dreck, meinetwegen ohne Verzicht auf Geld und Titel, wenn eine Nation von 63 Millionen Menschen aus jeder Gesellschaftsschicht, also auch aus den Proletariern die Talente herausheben und für die leitenden Stellen erziehen wollte, dann besäßen wir ohne jede Umwälzung eine demokratische Aristokratie, ein Reich der ἀριστο βουλοι, und jedes Dorfkind dürfte von sich sagen, daß es Doktorhut, Ministerportefeuille und andere schöne Dinge in seinem Schultornister trage. Man hat unserer reglementierten Schule vorgeworfen, daß sie unsozial sei, daß sie bestenfalls den Verstand ausbilde, aber keine Bürger erziehe; in viel höherem Maße ist unsere Schule unsozial, antisozial, weil sie gegen das Gewissen der besseren Lehrer die Erblichkeit des Talents oder doch die Erblichkeit der leitenden Stellen in der Praxis durchführt. Eine Lüge, eine das nationale Vermögen (an Talent) vergeudende, für die proletarische Jugend seelenmörderische Lüge ist das Berechtigungswesen unserer Schule und die angebliche Auslese durch Prüfungen.

Nur eins ist noch schlimmer: die schablonenhafte Behandlung der Ausnahmsmenschen, die überall in der Volksschule und trotz aller Korruption auch auf den höheren Schulen vorkommen. Deutschland ist stolz auf seine Schulorganisation wie auf seine Militärorganisation. Aber die Schulorganisation mit ihren ungeheuren Ziffern ist nur auf den Durchschnitt berechnet, nur der Durchschnitt läßt sich reglementieren. Das Reglement wird zum Martyrium für alle Kinder unter und über dem Durchschnitt. Vom genialen, vom hochbegabten Kinde wird dies Martyrium doppelt schwer empfunden. Man redet immer von Überbürdung, für das geniale Kind ist der vorgeschriebene Wissensstoff noch viel zu gering; es verlangt, wie der kleine Lessing, nach dem Worte eines seiner Lehrer, nach doppeltem Futter. Sechs bis acht Jahre muß es auf der Volksschule wiederkäuen, was es in einem Jahre verdauen könnte; acht bis neun Jahre auf dem Gymnasium repetieren, was es in drei Jahren gut lernen könnte.1 Nur damit das arme Kind den dummen oder faulen Söhnen der herrschenden Klassen nicht vorauseile. Wer dieses Martyrium durchgemacht hat, der möchte das vierte Gebot umkehren und befehlen: »Du sollst deine Söhne und deine Töchter ehren, wenn du sie schon in die Welt gesetzt hast. Dann werden Vater und Mutter auch nicht zu kurz kommen.«

Ich habe eben an die berühmte deutsche Militärorganisation erinnert, nach deren Muster die Volksschule mehr und mehr reglementiert worden ist. Dabei hat man, trotzdem der Psychologe Herbart der Philosoph dieser Schuleinrichtungen gewesen ist, an den psychologischen Unterschied zwischen den Forderungen des Militärs und der Schule vergessen. Bei der Heeresorganisation handelt es sich für den Ernstfall darum, daß Hunderte, Tausende, Millionen von Soldaten einem einzigen Willen wie automatisch gehorchen lernen, der als ein überlegener Wille vorausgesetzt wird; Disziplin soll erreicht werden, nicht so sehr blinder als automatischer Gehorsam; ob diese Disziplin im Spiele der Friedenszeiten mitunter zu sinnlosem Drill ausartet, ist dafür unerheblich. Fachleute mögen entscheiden, durch welche bessere Form des Drills der alte Parademarsch ersetzt werden könne. Fachleute mögen darüber entscheiden, wie weit die moderne Kriegführung neben dem unumgänglich notwendigen automatischen Gehorsam noch eine Erziehung des Soldaten zu persönlicher Initiative gestatte. Die reglementierte Schule hat aber für eine Erziehung des Kindes freilich keine Zeit; wäre der Lehrer ein Erzieher, so wäre sein Ziel geradezu das Gegenteil des militärischen Ziels. Das bißchen Disziplin, das auch in der Schule nötig ist, hat nur auf die Ordnung in der Klasse zu gehen; übrigens müßte die Schule von der ersten bis zur letzten Stunde der Schuljahre jede automatische Tätigkeit bekämpfen und den Schüler zu bewußtem, eigenem, prüfendem Denken gewöhnen. Einübung des Nichtautomatischen ist die Aufgabe der Schule. Auch deshalb könnte die Einheitsschule, um deren Zustandekommen die ersten Pädagogen kämpfen, sich mit einem viel geringeren Wissensstoffe begnügen, als die Polyhistorie der elenden allgemeinen Bildung heute verlangt, könnte an dem geringem Wissensstoffe das eigene Denken des Schülers vorzüglich üben und könnte den Schüler sehr früh entlassen, zum Kampfe ums Dasein oder zu eigener Weiterbildung. Es ist für den Ernstfall des Krieges sehr gut, wenn der deutsche Soldat von Königsberg bis Metz auf das gleiche Kommandowort den gleichen Gewehrgriff ausführt; es ist aber ein Jammer, daß jedes deutsche Kind auf die vorgeschriebene Frage die vorgeschriebene gleiche Antwort geben muß. Und damit komme ich auf den Punkt, der mir bei meinem Mitleid mit dem Schüler besonders am Herzen liegt.

Alle großen Pädagogen (Comenius, Rousseau, Pestalozzi, Fichte) haben irgendwie verlangt, man solle Sachen und Worte nicht trennen, man solle den Kindern nicht bloß Worte beibringen. Die ganze Bewegung, die Realschulen an Stelle der Gymnasien setzen will (Ludwig Gurlitt ist in den letzten Jahren mit schöner Leidenschaftlichkeit besonders hervorgetreten), die Realien anstatt toter Sprachen verlangt, hängt damit zusammen. Aber ich verlasse mit dieser Richtung der Gedanken den Streit um die gegenwärtige Schule und um die zeitweiligen Schulmoden, um nun an der Forderung aller guten Pädagogen das Wesen der Schule, das Wesen des Unterrichts ein wenig zu prüfen.

Der Mensch ist das Tier, dessen Seelenkräfte durch Unterricht, durch Unterweisung d. h. durch sprachliche Berichte anderer entwickelt werden können. Die klügsten andern Tiere können nur abgerichtet werden. Die Menschenkinder allein sind der Unterweisung durch Worte zugänglich, können ihre Vernunft über die der Eltern hinaus entwickeln, in sehr ungleicher Weise übrigens, je nach Rasse und individueller Anlage. Ohne Sprache kein Unterricht: nicht die uralte Unterweisung der Kinder durch ihre Eltern, nicht der Schulunterricht. Alle Größe und alle Not der Sprache, alle Vorzüge und alles Elend der Schule kommen aus dieser einen Quelle: daß der Unterricht in Worten der Sprache erteilt werden muß, und daß die Sprache selbst bei jedem Kinde der erste Gegenstand des Unterrichts ist. Man denke daran, daß die Kunsttriebe oder Instinkte der Tiere, wie immer man ihr Verhältnis zu der menschlichen Intelligenz betrachten mag, ohne Unterricht, ohne sprachliches Mittelglied ausgeübt werden; der Vogel hat das Brüten nicht gelernt; er fühlt nur beim Anblick der Eier: »Es muß ein Vergnügen sein, darauf zu sitzen.« Oder meinetwegen: »Ich muß jetzt die schwere und langweilige Arbeit des Sitzens auf mich nehmen; ich weiß nicht, warum.« Das Tier kennt nur Sachen und kann darum schon nicht unterrichtet werden. Wir sind geneigt, das unmittelbare Verhältnis der Tiere zu den Sachen, in noch höherem Maße das Verhältnis der Pflanzen zu den Sachen, als einen Gegensatz zum menschlichen Geiste aufzufassen, und diesen Gegensatz zum Geiste Natur zu nennen.

Es ist keine arge Übertreibung, wenn ich nun behaupte, daß die Schule – nicht zufällig, sondern von ihrem Wesen gedrängt – die Tendenz hat, die Menschenkinder nur Worte zu lehren und gar keine Sachen. Daher eben wurde es Pflicht jeder ernsthaften Schulreform, den Weg der Unnatur zu verlassen, Sachen und Worte wieder zu vereinigen und so ein bißchen zur Natur zurückzukehren.

Diese Auffassung der Schule oder des Unterrichts der Menschenkinder wird vielleicht etwas deutlicher werden, wenn wir nun versuchen, so vorurteilslos wie möglich das Sprechenlernen zu verfolgen von den ersten Anfängen bis zu den Jahren, in denen der erwachsene Mensch die Schule verläßt, um etwa als Doktor der Philosophie oder als Seminarlehrer wieder jüngere Leute zu unterrichten; wenn wir dabei nicht aus dem Auge verlieren, daß Sprechen und Denken – Nuancen vorbehalten – dasselbe ist, daß Verbesserung des Verstandes die lebenslängliche Arbeit des Sprechenlernens ist. Im Alter von ein bis drei Jahren lernt das Menschenkind zuerst sprechen, von den Erwachsenen seiner Umgebung; erst wenn es so weit sprechen gelernt hat, kann es dem Kindergarten, kann es der Schule übergeben werden. Nun beachte man, was die Kinderpsychologie gezeigt hat, daß das Kind die meisten Wörter zuerst nachsprechen und nachher erst verstehen lernt. Erst schwatzen, dann denken. Die Mutter oder die Amme macht es also in den Anfängen ebenso wie die Entwicklung der Menschheit es mit den Jünglingen gemacht hat: zwei Jahrtausende brauchte es, bevor sich die Rhetorenschule der Griechen und Römer zu der Realschule der Gegenwart hinaufbildete. Erst schwatzen, dann denken. Wenn aber das Kind, etwa nach Vollendung des dritten Jahres, geläufig sprechen gelernt hat, seine Muttersprache versteht, wie man das nennt, so besitzt es nur einen Vorrat von einigen hundert Wörtern, und deren Bedeutung hat es teils gläubig im Sinne der Erwachsenen gebrauchen gelernt, teils hat es sie in seiner kindlichen Phantasie umgeformt. So kommt es in die Volksschule, übt das Lesen, das Schreiben und das Rechnen ein, lernt dazu doppelt wortabergläubisch eine unverhältnismäßig große Menge Religion, und hat während dieser ersten Schulzeit seine Kindersprache umzulernen. Der Form nach hat es sich der Schriftsprache anzupassen, dem Stoffe nach erfährt es, was ein Begriff sei; daß z. B. Hund, Vater, Haus nicht Individualnamen sind, sondern daß auch andere Kinder etwas wie einen Hund, einen Vater, ein Haus haben. Das Kind lernt von einem bessern Lehrer noch sehr viele andere Wörter, mit deren Hilfe es sich in seiner kleinen Umwelt orientiert.

Mit solchen Kenntnissen ausgerüstet gelangt manches Kind auf die Mittelschule und wieder hat es umzulernen. Neu sprechen zu lernen. Die Umwelt erweitert sich, räumlich und zeitlich. An Stelle der Heimatskunde tritt Geographie und ein wenig Himmelskunde; neben die biblischen Geschichten tritt die ganze Weltgeschichte. Vor dem eigenen Volke hat es nicht nur Juden gegeben, sondern auch Griechen und Römer; neben dem eigenen Volke gibt es Franzosen und Engländer. Primitive Sprachvergleichung beginnt; die Wörter der Muttersprache sind nicht der einzig mögliche Ausdruck der Gedanken. Und die lächerliche Hauptaufgabe der Mittelschulen verlangt, daß das Kind alle die neuerworbenen Kenntnisse verwerten lerne, nicht für das Leben, nicht für eine Übung im Denken, sondern für eine Stilübung, für den deutschen Aufsatz, der natürlich in andern Ländern anders heißt. Wie man vom einjährigen Kinde erwartet hat, daß es zunächst schwatzen lerne, so soll auch der Jüngling heute wie einst schriftlich schwatzen lernen, in der Schriftsprache, mit Bildung; das Muster für diese Wortstickereien liefert der Lehrer. Wer einen solchen Aufsatz sauber und schnell abzuliefern imstande ist, wer außerdem seinen jungen Kopf mit überflüssigem Gedächtniskram bis zum Rande gefüllt hat, der heißt ein guter Schüler. Der Abschluß dieser Lehrzeit ist das Abiturientenexamen, bei welchem das Zeugnis der Reife erlangt wird durch Gedächtniskram, durch den Aufsatz und überhaupt durch gebildetes Schwatzen.

Das Denken – so hofft der begabtere Schüler – kommt erst auf der Hochschule. Wieder hat der junge Mann umzulernen. Jetzt erst erfährt er etwas von den Ursachen der Naturerscheinungen und der gewordenen Gegenwart. Die Wörter, die das Kind als Individualnamen gebraucht hat, die es auf der Volksschule als Begriffe zu fassen anfing, die auf der Mittelschule von den gröbsten logischen Fehlern gesäubert worden sind, müssen auf der Hochschule ganz klar und präzis definiert werden. Die Kindersprache hat sich auf der Volksschule dem Hochdeutsch-Schwatzen angenähert; auf der Mittelschule hat sich daraus die gebildete Sprache, auf der Hochschule die wissenschaftliche Sprache entwickelt. Das Sprechenlernen des Menschen ist abgeschlossen. Es wäre denn, daß man über der philosophischen Fakultät der Universitäten mit ihren unzusammenhängenden und oft widersprechenden Disziplinen noch eine oberste Schule errichten wollte, eine Schule der Erkenntnistheorie oder der Sprachkritik, wo die Grundbegriffe aller wissenschaftlichen Sprache wieder einer Revision unterzogen würden, wo die Einsicht errungen würde: daß keine Schule der Welt eine Sprache lehren kann, die der Sehnsucht des Menschen gemäß völlig in der Umwelt orientiert. Die jeweilige, die vorläufige Sprache ist immer das Werkzeug des Unterrichts oder der Schule; eine Idealsprache ist das Ziel des Unterrichts; oder vielmehr seine Sehnsucht, weil es eine vollkommene Sprache nicht gibt. Wie es ein reines, von der armen Sprache freies Denken nicht gibt.

Die logische Folgerung einer solchen Betrachtungsweise wäre sehr einfach. Wenn die Sprache das Gedächtnis der Menschheit ist, wenn der Mensch in den vielen Schuljahren immer nur besser und besser sprechen lernt, oder die im Gedächtnisse aufgehäuften Sachen besser und besser ordnen, wenn auf jeder Schulstufe die Ordnung oder die Sprache der vorigen Stufe umgelernt werden muß, so wäre es die wichtigste Aufgabe einer Schulreform, dieses zeitraubende und verwirrende Umlernen dadurch zu vermeiden, daß man dem jungen Menschen gleich die geläuterten Begriffe beibrächte. Die logische Folgerung ist aber undurchführbar, solange der Nürnberger Trichter für das Verständnis geläuterter Begriffe nicht erfunden ist. Man kann dem zweijährigen Kinde nicht klar machen, daß das Wort Hund oder Wauwau, womit es bisher den eigenen Hund benannt hat, eine ganze Art von Tieren bezeichne, daß aber der Artbegriff selbst, historisch oder morphologisch, ein fließender Begriff sei; man kann dem Realschüler, der die physikalischen Kräfte schon berechnen lernt, noch lange nicht klar machen, daß der Kraftbegriff eine Metapher aus dem menschlichen Selbstbewußtsein sei und der adjektivischen Wirklichkeitswelt gar nicht angehöre. Das Sprechenlernen kann wirklich nur an langsam gesammelten und gelernten Erfahrungen geübt werden.

Eins aber könnte eine Schulreform großen Stils aus unserer Betrachtungsweise in die Praxis übertragen, einen negativen Vorteil nur. Die aufreibende Arbeit des häufigen Umlernens könnte sehr vermindert werden, wenn man den jungen Leuten auf den ersten Stufen die vorläufigen und falschen Abstraktionen ganz und gar schenken wollte, wenn man sich so lange wie möglich mit Realien begnügen wollte. Der Gebrauch der Muttersprache, die ja ohne Schule gelernt wird, würde immer dafür sorgen, daß der junge Mensch allezeit bereit hätte, wessen das Herz des unreifen Menschen bedarf: Abstraktionen und Schlagworte, Ideale und Schimpfworte, was immer nur die Religion und der Zeitgeist verlangen. Die meisten Menschen kommen ja zeitlebens mit solchen Surrogaten geläuterter Begriffe aus und können den Ernst in meiner scheinbaren Verhöhnung der Wortwerte nicht verstehen, die ihre Weltanschauung ausmachen.

II.

Was vor bald 400 Jahren Bacon von Verulam von der Wissenschaft überhaupt verlangte und was seitdem von Naturforschern und Philosophen langsam genug begriffen worden ist, das muß endlich durch den Verzicht auf unbegriffene Abstraktionen auch in der Schule erreicht werden: Abkehr von der Scholastik. Ich weiß, daß nur ein Zufall der Wortgeschichte die Worte Schule und Scholastik so nahe zusammengebracht hat. Das griechische Stammwort σχολη hieß ja nicht mehr als otium, Muße, dann die den Wissenschaften gewidmete Muße, und endlich der Ort, wo Wissenschaften gepflegt wurden; erst im Mittelalter gewann schola die Bedeutung, die wir jetzt damit verbinden. Jedoch auch strenger als bei den Römern die Bedeutung eines Kreises von Anhängern, einer Philosophenschule. Schon bei den Griechen und Römern aber war σχολαστικος , scholasticus je nach der Situation ein Ehrenname oder ein Schimpfname: für den Gelehrten und für den Pedanten. Im Mittelalter nun, wo die Schule des Aristoteles über alle andern Schulen siegte, wo es bald keinen andern höhern Schulbetrieb gab als den auf Aristoteles begründeten, hieß diese Gelehrsamkeit ganz einfach die Scholastik, deren Scharfsinn heute fast unbekannt ist, deren unfruchtbare Begriffsspalterei, deren Wortaberglaube aber mit Recht der Verachtung anheimgefallen ist. Es ist also ein bloßer Zufall, daß es ein Wortspiel zu sein scheint, wenn ich unserer Schule ihre Scholastik zum Vorwurf mache. Der wäre erst der Befreier von der unwürdigen Tyrannei der Sprache, der – ein zweiter und größerer Bacon von Verulam – die Wortgespenster, die Wortleichen aus unserer Schule verbannte, der uns lehren könnte: die durch und durch scholastische Gemeinsprache mit ihren Abstraktionen und ihrer ganzen hypostasierten Welt der Substantive umzulernen, in der Schule die Sprache zu lernen, die uns in der Welt orientieren kann. Aber ein solcher neuer Bacon wird nicht kommen, weil die menschliche Sprache wohl ein wenig gesäubert werden kann, eine absolut reine Menschensprache aber nicht möglich ist. So wenig wie eine Idealschule, die zugleich als Massenschule für die Durchschnittskinder organisiert werden könnte, und zugleich den Bedürfnissen der begabten Kinder gerecht würde.

Der empörte Aufschrei für das Kind, der immerhin verdienstvoller ist als der vielgenannte Schrei nach dem Kinde, wird historisch gewöhnlich nur bis auf Rousseau zurückgeführt; der hatte freilich viel gelitten, auch als geniales Kind, und zuerst den Eltern und Lehrern zugerufen: »Ihr kennt die Kinder nicht!« Viel früher als Rousseau hat der weise Montaigne, der dank einem wunderlichen, aber dem Sohne – wenn man so sagen dürfte – ebenbürtigen Vater, einen sehr freien Schulunterricht genossen hatte, die Erlösung des Kindes (er denkt freilich nur an die Kinder der höheren Stände) aus der Zwangsanstalt der scholastischen Schule verlangt. Und wenn man heute die Ausführungen Montaignes (im 24. und 25. Kapitel des ersten Buches seiner Essais) liest, so empfindet man es sehr stark, wie wenig sich, abgesehen von der Ausdehnung des Fabrikbetriebs, in der scholastischen Methode der Schule seit diesen mehr als zehn Generationen geändert hat. Ich empfehle diese beiden Kapitel einem nachdenklichen Leser wohl am besten dadurch, daß ich einige Sätze in der alten Bodeschen Übersetzung (neu herausgegeben von Flake und Weigand) ausschreibe.

»Den Menschen zu pflanzen bedarf's keines so großen Fleißes, ist er aber geboren, so übernimmt man eine ganz andere Aufsicht (als der Gärtner), voller Sorge und Furcht, ihn zu nähren und zu erziehen.«

»Ich wollte, daß man sorgfältig wäre, einen Führer zu wählen, dessen Kopf viel mehr hell und klar wäre, als voll geschüttelt und gerüttelt.«

»Es ist ein Zeichen der Unverdaulichkeit, wenn man die Speisen wieder aus dem Magen gibt, wie man sie verschlungen hat.«

»Auswendigwissen ist kein Wissen; das heißt nur behalten, was man seinem Gedächtnis zum Aufbewahren gegeben hat.«

»(Die meisten Erziehungsanstalten) sind wahre Kerker der gefangenen Jugend … Viel anständiger wäre es, wenn die Klassen mit Blumen und Blättern bestreut wären als mit Fasern von blutigen Birken.«

»(Mit den Spartanern, welche die Jugend) an Taten und nicht an Worte gewöhnen wollten, vergleiche man nach 15 oder 16 Jahren einen von diesen Latinisten aus den Schulklassen, der ebenso viel Zeit daran gewendet hat, bloß sprechen zu lernen. Die Welt treibt nichts als Schwatzen (le monde n'est que babil) und ich habe noch keinen Menschen gesehen, der nicht eher mehr als weniger gesprochen hätte als nötig war.«

»Möchte mir doch nie ein ander Wort oder andere Redensarten entfahren, als die man in der Residenz auf dem Fischmarkte versteht … Zenon sagte, er habe zwei Gattungen von Schülern: die einen, die er φιλολογους, gierig Sachen zu lernen, nannte, wären seine Lieblinge; die andern, λογοφιλους (sie) dächten auf nichts, als auf die Sprache … Es ist allerdings ein fein und lieblich Ding um das Griechische und das Latein, nur kauft man es zu teuer … (Man sagte meinem Vater selig), daß die Länge der Zeit, welche wir darauf verwenden, die Sprachen der Griechen und Römer zu lernen, die ihnen nichts kostete, die einzige Ursache sei, warum wir uns nicht bis zur Größe der Seele und der Höhe der Wissenschaften erheben könnten, die man bei diesen alten Völkern wahrnehme.«

»Man muß hauptsächlich darauf arbeiten, Lust und Liebe zum Studieren zu erregen; sonst erzielt man weiter nichts als mit Büchern bepackte Esel (aultrement on ne faict que des asnes chargez de livres.)«

III.

Ich möchte nicht gern bewußt zu dem leidenschaftlichen Tone des Eingangs zurückkehren; es macht traurig, alles in sich selbst aufzuwühlen und eine Rebellion zu predigen, wenn man sich unfähig fühlt, auf die Worte Taten folgen zu lassen. Der Kreuzzug für die Kinder wird nicht zustande kommen; der Staat, welcher die Schule unter seine brutale Faust gebracht hat, würde mit jeder Schülerrebellion leichter fertig werden als mit einer sogenannten politischen Revolution; und die Eltern denken nicht daran, das Schicksal ihrer Kinder durch eine Revolution entscheiden zu wollen. Eltern, Lehrer und Schüler begnügen sich damit, innerhalb der bestehenden Schulordnung für sich kleine Vorteile zu erschleichen, zu erlisten oder zu erarbeiten.

Aber es fehlt nicht an Stimmen, welche einen bevorstehenden Kreuzzug für die Kinder zu verkünden scheinen. Man könnte an die literarische Bewegung in Frankreich denken, die der großen französischen Revolution vorausging. Man könnte an Voltaire und Rousseau denken, wenn unsere Dichter des Schuldramas und des Schulromans nur an Rousseau oder an Voltaire erinnerten. Zahlreich genug sind die Dramen und die Romane, in denen entweder eine Reform der Schule gefordert oder das bestehende Schulelend beklagt wird. Nirgends vielleicht reiner und melancholischer als in den Schriften, die meines Wissens im 19. Jahrhundert die ersten dieser Art waren: in den tragischen Kinderromanen von Dickens, die seitdem – von Jahrzehnt zu Jahrzehnt häufiger – nachgeahmt und wohl auch künstlerisch übertroffen worden sind. Aber die Tragödie des Schulkindes ist nur selten geschildert worden, am seltensten in den berühmt gewordenen Dramen und Romanen.

Die englischen und deutschen Verfasser haben es vielmehr für richtig gehalten, die Tragödie zu einer Komödie umzugestalten. Böse und komische Lehrer, früh erotische und drollige Schüler werden uns behaglich vorgeführt; und wo einmal ein Zornausbruch zu Worte kommt, da gilt er regelmäßig einem bösen Lehrer, dem dann ganz gewiß ein guter Lehrer gegenübersteht. Fast niemand scheint zu fühlen, daß die Sünde, die allstündlich an unsern Kindern begangen wird, zum Wesen der Schule gehört. Zum Wesen des Staates, dem die Schule nichts weiter ist als ein Mittel mehr für seine fragwürdigen Zwecke.

Gegen andere Sünden sind in alter und neuer Zeit Propheten aufgetreten. Die Sünde am Kinde scheint unangreifbar zu sein; sie wird verteidigt von der dümmsten, gemeinsten und darum stärksten Macht, die es unter den Menschen gibt: vom Schlendrian oder von dem Gesetze der Trägheit. Diese Macht wird es weiter dulden, daß die Schule an den Kindern Körper und Charakter verkrüppelt und den Kopf in die Schablone der Geistlosigkeit zwingt. Aber es wird sich noch einmal an den Staaten rächen, daß sie ihre Schulen zu Anstalten gemacht haben, in denen die Seele des Kindes systematisch gemordet wird.


  1. Schopenhauer hat die Gymnasialbildung, und nicht schlecht, in dritthalb Jahren erworben.