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Tod

Den heikelsten Fragen des gegenwärtigen Denkens standen nicht nur die philosophisch plumpen Römer, sondern auch die dialektisch feinen Griechen, beide wie Naturvölker gegenüber. Die Frage: »Wie ist der Tod in die Welt gekommen« konnte in griechischer Sprache noch nicht gestellt werden. Die einzig interessierende Tatsache war, daß die Menschen starben. Der Tod hatte und hat in allen mir bekannten Sprachen zwei Bedeutungen: das Ende und die personifizierte Ursache des Endes. Daß auch die entferntere Ursache des Lebensendes, die Krankheit, nur ein Anthropomorphismus sei, das ist selbst heute dem ärztlichen Handwerker nicht immer deutlich. Daß aber der Tod II als Ursache des Todes I eine bloße Personifikation sei, das dürfte natürlich den gebildeten Griechen klarer gewesen sein, als den ganz abergläubischen Polynesiern. »Wie die Alten den Tod gebildet,« wie antike Dichter und antike Bildhauer ihn je nach den Mitteln ihrer Kunst verschieden darstellten, wie sich unter der Herrschaft des Jenseitsglaubens und des Erdbegräbnisses das scheußliche Gerippe zu einem äußerst fruchtbaren Motiv entwickelte, das gehört in die Kunstgeschichte. Wir haben es nur mit dem Begriffe Tod zu tun.

Das Interesse entscheidet. An seinem eigenen Leben hat der ordinäre Mensch das stärkste Interesse. Da aber niemand seinen eigenen Tod erlebt, so konnte auch in Urzeiten der Begriff des Todes nicht aus diesem einzigen Falle abstrahiert werden. Was man erleben kann, das ist Todes angst. Das Wort darf uns nicht irreführen. Todesangst setzt den Begriff des Todes nicht voraus. Todesangst zeigen, wenn sie vom Raubfeinde gefaßt werden, alle Tiere, welche überhaupt Ausdrucksmittel haben oder deren Ausdrucksmittel wir zu verstehen glauben. Selbst beim Rind oder Hirsch, wenn er Todesangst verrät, ist kaum anzunehmen, daß er dabei etwas wie den menschlichen Todes begriff habe. Je tiefer wir – wie der Mensch das nennt – in der Tierreihe hinabsteigen, desto unwahrscheinlicher ist die Existenz eines Todes begriffs, während unverkennbare Todes angst vorhanden ist. Auch der junge Vogel, der noch nie einen Artgenossen sterben sah, auch der eben ausgekrochene Schmetterling verraten beim Angriff Todesangst. Todesangst ist begrifflos, wortlos ererbte Erinnerung, was man ja wohl Instinkt nennt. Instinktiver, zweckmäßiger Schrecken vor irgend etwas, was Menschen bei Menschen Tod nennen.

Der Mensch also bildete seinen Todesbegriff aus der Beobachtung am natürlichen oder gewaltsamen Tode seiner Mitmenschen. Seiner Mitmenschen nur. Nur der Mensch stirbt, das Tier krepiert. Ich setze voraus, daß in einer Urzeit der Unterschied nicht nur im Worte lag, sondern auch in der Vorstellung. Auch heute noch. Und die Pflanze gar stirbt nur in der Poetensprache. Die Pflanze verwelkt ja. Das ist doch etwas ganz anderes. Und ich kann mir noch eine ältere Urzeit ausdenken, in der nur die Stammesgenossen, die Familienglieder starben, die Fremden, die Feinde krepierten. Und auch diese Unterscheidung ist ja wohl nicht ganz verschwunden.

Immerhin, die Menschen faßten in allen ihren Sprachen den Todesbegriff. Sie dehnten ihn mit wachsender Besinnung von ihren Stammesgenossen auf alle Menschen, von ihren Artgenossen auf alle makroskopisch sichtbaren Tiere aus, und etwa zur Griechenzeit gehörte der Todesbegriff zum festen Besitz der Wissenschaft. Die Eigenschaft sterblich gehörte in ungefühltem Widerspruch zur Definition des lebenden Wesens.

Die geistigen Kämpfe zweier Jahrtausende waren nötig, um die Naturwissenschaft dahin zu bringen, Leben und Tod bei Tier und Menschen biologisch und psychologisch gleichmäßig zu behandeln. Dann kam das Mikroskop und brachte die Kenntnis unzähliger Tierarten, die sich vom Menschen noch mehr unterschieden als die altbekannten. Dann kam die Entwicklungslehre, welche gerade mit Hilfe der kleinsten Wesen, der Einzelligen, einen Stammbaum aller Tiere prinzipiell oder gar im Detail auszudenken wagte. Denn allen Tieren der ungeheuren Reihe war der Lebensbegriff, schien der Todesbegriff gemeinsam. Niemand hatte Anlaß, die Frage zu stellen: »Wie ist der Tod in die Welt gekommen?« Naturwissenschaftlich, wohlgemerkt. Die sinnlos moralische Frage, die Lebensfrage nach dem Werte des Todes, war ja oft genug gestellt worden, vom Heidentum und vom Christentum. Epikuros lehrt schon (Diog. L. X): der Tod gehe uns gar nichts an; weil der Tod nicht da sei, solange wir seien, wir aber nicht mehr da seien, wenn der Tod sei. Moralisch fragten die Christen direkt nach dem Zwecke des Todes, nach der Absicht eines Schöpfers. Nach Tertullianus ist der Tod in die Welt gekommen als Strafe für den Sündenfall Adams; der Kirchenvater folgte da, ohne viel hinzuzufügen, der Bibel. Für christliche und christelnde Poeten ein schönes Motiv. Man lese nur Byrons »Cain«. Aber eigentlich eine monströse Vorstellung. Das hat schon Lessing scharf ausgesprochen am Schlusse seiner Untersuchung »Wie die Alten usw.«: »Es hat Weltweise gegeben, welche das Leben für eine Strafe hielten; aber den Tod für eine Strafe zu halten, das konnte ohne Offenbarung schlechterdings in keines Menschen Gedanken kommen, der nur seine Vernunft brauchte.« Erst August Weismann stellte die Frage, wie der Tod in die Welt gekommen sei, deutlich zum erstenmale 1882. In dem Vortrage: »Über die Dauer des Lebens«. Ein Jahr darauf folgte die meisterhafte Untersuchung »Über Leben und Tod«.

Eine wie starke wissenschaftliche Härte zu einer solchen Fragestellung gehört, das ist dem unerbittlich logisch geschulten Gelehrten vielleicht gar nicht zum Bewußtsein gekommen. Die alte Wissenschaft kam nicht recht vom Flecke, solange sie so menschlich weich blieb, wie die Sprache überhaupt; die Lehre vom Menschen mußte unmenschlich werden wie die Kritik der Sprache, um sich von einigen alten Anthropomorphismen zu befreien. Man lese bei Weismann (Aufsätze über Vererbung, S. 188), wie zögernd dieser Forscher über die Möglichkeit eines Vorteils der Einrichtung spricht, nach der die Menschen noch einige Jahre nach ihrer Fortpflanzungszeit leben bleiben. »In dieser Richtung werden wir wohl hauptsächlich die Bedeutung der Altersperiode zu suchen haben, und beim Menschen ließe sich ja auch manches anführen vom Nutzen, den die längere Fürsorge der Eltern den Kindern bringt usw.« Man vergleiche damit den weichen Idealismus in der noch nicht 25 Jahre älteren herrlichen Rede Jacob Grimms »Über das Alter«.

Hart und logisch genug also stellt sich Weismann der Frage gegenüber, die er neu formulieren muß, um sie beantworten, eigentlich um sie stellen zu können. Denn die christliche Wissenschaft hatte ja den theologischen Standpunkt nicht verlassen dürfen. Sie hatte den Tod als eine vermeintlich allgemeine Erscheinung vorgefunden, also den Todesbegriff, und hatte unterwürfig nicht nach dem Wie gefragt, sondern nach dem Wozu. In welcher Absicht, in welcher Schöpferabsicht, wozu ist der Tod in die Welt gekommen? Zwei Vorstellungen dieser kleinen Frage sind für uns leer geworden: der Schöpfer für immer, der Zweckbegriff bis auf weiteres.

Weismann spricht mit dem Tode zum erstenmal die neue Sprache, wenn er diese beiden Begriffe ausschaltet. Bevor er die Frage beantwortet, wie der Tod in die Welt gekommen sei, fühlt er die Verpflichtung, den Beweis zu liefern, daß der Tod in die Welt gekommen ist, daß der Tod nicht immer, nicht von jeher eine notwendige Erscheinung des Lebens war. Man könnte seinen Gedankengang recht gut so darstellen, ein wenig sprachkritisch, daß er das Metaphorische im Bedeutungswandel des Wortes Tod deutlich erkannte. Der Todesbegriff hatte sich, wie oben gesagt, von der Beobachtung an nahestehenden Menschen auf die Beobachtung nahestehender Tiere übertragen. Während aber der Lebensbegriff in der Religion (der alten Philosophie) der Naturvölker und auch der Griechen auf alle vier Elemente übertragen wurde, auf Feuer, Wasser, Luft und Erde, die man sich als Feuer, Wasser, Wind und Gestirne (nur unter diesen gerade die Erde anfangs nicht) göttlich belebt vorstellte, während also am Worte Leben ein wilder Bedeutungswandel vor sich ging, haftete der Todesbegriff als sein Gegensatz an der bekanntesten Erscheinungsform des Lebens. Feuer, Wasser, Wind und Gestirne hießen lebendig, hießen Götter oder Halbgötter, starben als solche nicht; und sie starben nicht, weil von ihnen keine Leichen zu sehen und zu riechen waren. Als man den Todesbegriff auf Pflanzen anzuwenden sich gewöhnte, sprach man auch von Baumleichen, von Blumenleichen. Der Tod war es jetzt, was den lebendigen Organismus in eine Leiche verwandelte.

Ein Unterscheidungszeichen zwischen lebendigem Organismus und Leiche wurde der Tod darum nicht. Im Gegenteil. Weil die Natur nicht spricht, weil also die Natur die Menschenbegriffe Leben, Tod und Leiche nicht kennt, darum wurde sie so unbequem, der genaueren Beobachtung einen Zwischenzustand zwischen Leben und Leiche vorzulegen. Wären unsere Hausärzte gewissenhafter im Gebrauch ihrer Sprache, sie wüßten nicht, für welche genaue Zeit sie den eingetretenen Tod festzustellen hätten. Wenn sie habgierig wären, so könnten sie noch für einige Zeit länger ärztliches Honorar beanspruchen, als sie es tun. Sie sprechen vom eingetretenen Tode einstimmig, sobald das Herz oder die Lunge still steht. Und die Erscheinung des Scheintodes ist so selten, daß praktisch gegen den Totenschein des Hausarztes nichts einzuwenden sein wird, der im Grunde nur besagt: Die Lebenskraft ist so klein geworden, daß sie nach menschlicher Erfahrung nicht wieder größer werden wird. (Obgleich bei Ertrunkenen und anderen Erstickten der Tod wirklich oft erst eintreten mag als Folge der ärztlichen Erklärung: er ist tot, hier ist nichts mehr zu tun). Aber mit dem Stillstande des Herzens hat das Leben anderer Organe nicht aufgehört. Bekannt ist, daß Haare und Nägel weiterwachsen. Doch sogar Teile, die man leichter für lebendig erklären wird, ruhen auch dann noch nicht, wenn die Leiche schon begraben worden ist. Die Flimmerzellen der Luftwege bleiben noch einige Tage an der Leiche am Leben; noch länger als die Flimmerzellen erhalten die amöboiden Leukozyten ihre Lebensbewegungen. Die biologische Wissenschaft hat sich dabei beruhigt, für diesen Zwischenzustand (nach Virchows Vorgang) den ungewöhnlich unsinnigen Ausdruck Nekrobiose einzuführen. Doch in allen diesen Fällen wandelt sich schließlich der ganze lebendige Organismus in eine Leiche um; wir können Lebewesen und Leiche nicht scharf definieren, aber wir wissen doch ungefähr, was wir uns unter beiden vorstellen. Der Tod macht den Organismus zur Leiche.

Da war es nun ein geniales Aperçu Weismanns, auf die sogenannten Einzelligen hinzuweisen, deren Individualleben ohne Hinterlassung einer Leiche aufhört. Der einzellige Organismus wächst, bis seine Größe aus Gründen, die wir doch nicht genau kennen, über seine Verhältnisse geht. Dann vollzieht sich eine Revolution; es kreist etwas in ihm, er verteilt die wesentlichen und die angeblich unwesentlichen Bestandteile seiner Körperlichkeit in zwei Hälften. Und nach einem Zwischenstadium sind anstatt des einen Individuums, das also doch wohl ein Dividuum war, zwei »Individuen« vorhanden. Eine Leiche gibt es nicht. Auch Leichenteile sind meines Wissens nicht beobachtet worden.

Was aber ist eine Leiche? Doch wohl nicht, wie die Etymologie lehrt: die Körpergestalt, Körper nach Abzug der Seele?

Leiche oder Leichenteil ist nur, was vorher dem Organismus organisch angehört hat. Exkremente sind keine Leichenteile. Wie aber steht es mit den sogenannten Sekreten? Und wie mit dem Kohlenstoff, der dem Körper organisch zugehört hat, der in der Blutbahn mit dem Sauerstoffe oxydiert und als Kohlensäure ausgeatmet wird? Geben wir da nicht unaufhörlich gasförmige Leichenteile von uns? Man braucht bloß des Morgens die dichtbelegte Stube einer Kaserne oder eines Asyls für Obdachlose zu betreten, um die Leiche zu spüren.

Wenn wir nun mit der geltenden Entwicklungslehre die einzelligen Organismen als die Ahnen der irdischen Lebewesen betrachten, ja wenn wir mit aufrechter Skepsis die sogenannten Einzelligen nur an das eine Ende einer Organismenreihe setzen, ohne die Reihe durch Entwicklung erklären zu wollen, so müssen wir die entscheidende Bedeutung des Weismannschen Aperçus anerkennen. Er hat uns etwas gelehrt, was wir mit feierlicher Aufmerksamkeit auf jede Silbe etwa so ausdrücken dürfen: Findet Entwicklung von einzelligen zu mehrzelligen Organismen statt, so gab es in einer Urzeit ein Leben ohne einen natürlichen Tod, gab es keine natürlichen Leichen; aber auch ohne Entwicklungsglauben müssen wir sagen, daß wir in den Einzelligen Lebewesen kennen gelernt haben, auf deren Generationswechsel der zuerst von nahestehenden Menschen abstrahierte Todesbegriff ohne gezwungenen Bedeutungswandel keine Anwendung mehr findet.

Was einzig gegen das Weismannsche Aperçu sich einwenden ließe, das ist meines Wissens scharf noch nicht eingewandt worden: daß nämlich der Tod nebenbei auch ein psychologischer Begriff ist, und daß wir von der Psychologie beim Generationswechsel der Einzelligen nur recht mangelhafte Kenntnisse besitzen. Erklärt man den Tod für ein Aufhören der Individualität oder des Ich-Gefühls, so kann der klafterlange Mensch wirklich nichts darüber aussagen, geschweige denn erfahren: ob das einzellige Individuum etwas von seinem Ich-Gefühl in beide Tochterzellen oder gar nur in eine von ihnen hinüberrettet. Und wer mit mir das Ich-Gefühl für eine Täuschung hält, wer mit mir einzig und allein die Erinnerung für das Wesen der Individualität erkannt hat, der wird sein Nichtwissen auf die Frage einschränken: ob die Tochterindividuen (oder eine von ihnen) irgend eine Erinnerung besitzen, eine noch so dunkle, amöboide Erinnerung, an das Leben vor der Zweiteilung. In ganz ähnlicher Weise wäre freilich auch zu fragen gewesen, ob der Schmetterling irgend eine Erinnerung an sein Raupendasein habe? ob man vom Tode der Raupe sprechen dürfe, weil da doch von Leichenteilen die Rede sein könnte? Man sieht, der menschliche Todesbegriff, mit dem sich der menschliche Seelenbegriff vielfach gekreuzt hat, will nicht immer mit der begrifflosen Natur zusammenstimmen.

Trotz dieser leisen sprachkritischen Bedenken gegen die metaphorische Ausweitung des menschlichen Todesbegriffs bleibt die Bedeutung des Weismannschen Aperçus bestehen, dem ich jetzt die vorsichtigere Form geben möchte: Die Erscheinungen beim Generationswechsel der Einzelligen fallen nicht unter den von lebendigen Menschen an Menschenleichen erfaßten Todesbegriff. Aller Dank für Weismann, der mit Darwins Gewissenhaftigkeit deutsche Gedankentapferkeit verbindet, darf mich nicht verhindern, es auszusprechen, daß er nicht so glücklich war in der Erklärung der Tatsache, wie in ihrer Aufstellung. Daß der Tod den Lebewesen nicht wesentlich sei, daß er erst später in die Welt gekommen sei, das hat Weismann uns gelehrt. Wie der Tod in die Welt gekommen ist, das weiß er nicht, das erinnert in der streng darwinistischen Terminologie doch wieder an das christliche Wozu. Anpassung und Vererbung sollen jedes Geheimnis enthüllen. Beide Begriffe habe ich an ihrer Stelle zu kritisieren versucht. Hier nur einige Worte über die Begriffe oder Bilder – an hundert Stellen seiner Schriften läßt Weismann erkennen, daß er das Metaphorische auch der wissenschaftlichen Sprache durchschaut hat –, in denen er seine Anschauungen vorträgt. Weismann lehrt, daß die Keimsubstanz der Einzelligen bei den Metazoen sich in die unsterbliche Keimsubstanz und die sterbliche … ja was denn? … Körperlichkeit der vielzelligen Organismen auseinandergelegt habe. In eine Körperlichkeit mit Ausschluß des unsterblichen Kernplasmas. Und diese Körperlichkeit nennt Weismann gar das Soma. Es überrascht mich, daß er nicht sieht, wie er da den Körperbegriff einengt, wahrhaftig nicht anders als die alte dualistische Psychologie, welche im menschlichen Individuum den sterblichen Körper von der unsterblichen Seele unterschied, das Materielle vom Geistigen, eigentlich doch das Tote vom Lebendigen; ψυχη και σωμα heißt es bei Platon. Ich fürchte, Weismanns Kernplasma ist der ψυχη ein wenig verwandt.

Ich möchte nicht schikanös werden, aber auch die Art, wie da der Tod gewissermaßen geschaffen wird, scheint mir bedenklich. »Bei den einzelligen Organismen war der natürliche Tod nicht möglich, weil Fortpflanzungszelle und Individuum noch ein und dasselbe waren, bei den vielzelligen Tieren wurde er möglich, und wir sehen, daß er auch eingerichtet wurde« (Aufsätze über Vererbung, S. 128). »Auch.« Das Wörtchen steht in diesem Falle (Paul, D. Wörterbuch S. 35), um auszudrücken, daß der zweite Satz die natürliche Folge des ersten darstelle. Der Tod wurde eingerichtet, weil er möglich war. Ich bin sicher, daß Weismann nicht die Absicht hatte, das zu sagen. Auch seine Worte nicht so verstanden wissen wollte, als hätte er es vergessen, daß der Tod unter allen Umständen ein negativer Begriff ist und eine Negation doch nicht gut vererbt werden kann. Weismann sieht sonst mit außerordentlicher Schärfe die Gefahren des sprachlichen Ausdrucks. Er unterscheidet zwischen Unsterblichkeit und Ewigkeit (a. a. O. S. 643), er kennt die Negation im Begriffe der Ewigkeit, weiß, daß in der Naturwissenschaft von den Atomen durchaus nur in abstracto die Rede sein kann; weiß noch besonders, daß auch in den Einzelligen »offenbar nicht eine Substanz unsterblich ist, sondern nur eine gewisse Form der Bewegung.« (Also mag es doch auch bei den Einzelligen Leichenteile geben, wenn auch nur ein caput mortuum).

Aber der menschliche Todesbegriff läßt ihn nicht ganz los. Er will sich nicht damit begnügen – wie oben gezeigt –, bloß die metaphorische Ausdehnung des menschlichen Todesbegriffs auf die Teilung der Einzelligen abzulehnen, er will, nach der ewigen Selbsttäuschung des forschenden Menschengeistes, ein Gebäude aufführen aus Worten. Ohne Sprachkritik kann ja der Mensch nicht wissen, daß auch die Zellbildung der Begriffe ihre Schranke hat, daß auch Worte oder Begriffe nicht ewig leben, daß auch der Todesbegriff dem Tode verfallen ist. In sich selbst und in seiner Ausdehnbarkeit. Weismann selbst hat mit glänzender Dialektik an manchen Stellen (a. a. O. S. 198) Darwins kühne Vererbungslehre der Pangenesis dadurch zugleich methodisch zu verteidigen und sachlich zu verurteilen gesucht, daß er sie eine gewissermaßen provisorische, d. h. eine rein formale Lösung nennt, die ausgesprochenermaßen gar nicht den Anspruch macht, die wirklichen Vorgänge aufzudecken, vielmehr nur den, alle Erscheinungen der Vererbung von einem Gesichtspunkt zu übersehen. Weismann scheint mir der berufenste Fortsetzer Darwins zu sein. Nur glaube ich, ein berufener Fortsetzer Weismanns wird nicht nur die Lehre von der alleinigen Keimesvariation, die der Leugner der Vererbung erworbener Eigenschaften aufstellen mußte – der Fortsetzer Weismanns wird auch die genaue Darstellung, wie der Tod in die Welt gekommen sei, eine provisorische, d. h. rein formale Lösung nennen, nicht ausreichend, die wirklichen Vorgänge aufzudecken. Die Sprache ist des lebendigen Menschen; darum kann sie niemals begreifen, was sie den Tod nennt.

Der Tod ist eine unbegreifliche Negation des unbegreiflichen Lebens; mehr wissen wir nicht von dieser substantivischen, mythologischen Negation.

Die Einsicht in die Negativität des Todesbegriffs war allen Mystikern eigen, den indischen, den griechischen, den deutschen.

Sehr schön finde ich den Gedanken bei Agrippa von Nettesheim im 35. Kap. der magischen Werke: »Wie der Mensch nach dem Bilde Gottes erschaffen ist« (S. 199f. d. III. Buches der Ausg. v. Scheible). Der Mensch sei nicht einfach als Ebenbild Gottes geschaffen, sondern die Welt, der Mensch gleichsam als Bild des Bildes, weshalb er Mikrokosmus, d. i. die kleine Welt genannt wird. »Die Welt ist ein vernünftiges, unsterbliches Geschöpf; der Mensch ist gleichfalls ein vernünftiges, aber sterbliches d. h. auflösbares Geschöpf. Denn da – wie Hermes Trismegistos sagt – die Welt unsterblich ist, so kann unmöglich ein Teil derselben zugrunde gehen; das Wort Sterben ist daher gewissermaßen ein leerer Begriff: es gibt kein Sterben.« Agrippa führt nach Plotinos die Dreieinigkeit im Menschen durch (Gedächtnis, Verstand, Wille), redet über die drei Seelen und legt dem Worte denselben Wert inbezug auf die Unsterblichkeit bei. »Denn die Rede oder das Wort ist es, ohne welches nichts geschehen ist, noch geschehen kann; es ist der Ausdruck des Ausdrückenden und Ausgedrückten; … die Schöpfung des Erschaffenden, und das, was er erschafft, ist das Wort; das Machen des Machenden, und das, was gemacht ist, ist das Wort; das Wissen des Wissenden, und das, was er weiß, ist das Wort; und alles, was gesagt werden kann, ist nichts als das Wort und wird Gleichheit genannt, denn es verhält sich gegen alles gleich, da es allen Dingen gleichmäßig zuteilt, daß sie das sind, was sie sind, nicht mehr und nicht weniger. Es macht sich und alles erkennbar, wie das Licht sich und alles sichtbar macht; daher wird das Wort von Hermes der leuchtende Sohn des Verstandes genannt.« Aristoteles, Jesaias, Buddha werden bemüht. Natürlich läuft alles auf Magie des Wortes hinaus.

Wir wissen mit dieser Magie des vorskeptischen Agrippa nicht mehr viel anzufangen, wie wir auch etwas Fremdes heraushören bei den Todesphantasien der reinern Mystiker. Es ist uns aber nicht fremd, wir hören beinahe unsere Sprache, wenn Agrippa den Satz »es gibt kein Sterben« weiter erklärt: »Wir sagen, der Mensch sterbe, wenn sich Seele und Leib trennen, nicht als ob hiebei Etwas zu Grunde ginge oder in Nichts verwandelt würde.«

Mit einer Art von ehrfürchtiger Heiterkeit erfährt, wer den Todesbegriff selbst sprachkritisch analysiert hat, daß ein weiser Mann wie Goethe sich (wenigstens für seine Person) an die Vorstellung von einer Unsterblichkeit anklammerte, an eine Negation der Negation Tod (vgl. Art. Unsterblichkeit). Derselbe Goethe hat stärker als irgend ein anderer vor ihm gefühlt und erkannt, daß der Mensch nicht über der Natur stehe, daß der Mensch mit zur Natur gehöre. Und die Natur lacht nicht einmal über den Tod eines Menschen oder über das Welken eines Blattes; die Natur weiß nichts vom Tode. Der Mensch weiß, daß sein Individualleben aufhören wird. Weiß er es aber als ein Teil der Natur, so kann ihm dieser Gedanke nicht für seine eigene Person ein Kummer sein, sondern höchstens eine Sorge um sein unvollendetes Werk, eine Sorge für das Hinterbliebene. Der Sterbende hinterläßt sein Leben wie ein Organisator sein Werk. Für die Natur hinterläßt niemand eine Lücke. Wie ein Mensch, der einen strömenden Ozean durchschwimmen wollte, ist der, der sich an die Vorstellung der persönlichen Unsterblichkeit klammert. Bald, noch Angesichts des Ufers, versagen die Kräfte, der Schwimmer sinkt in die Tiefe, einige Haifische beerben ihn und die Natur schweigt. Die Natur kennt die Negation nicht. Darum ist so stark wie die Natur, wer den Tod nicht kennt, wer Ehrfurcht hat vor dem Leben und keine Furcht vor dem Tode. Qui potest mori, non potest cogi.