transzendental
I.
Immanent und transzendent sind zwei Termini, die ein Begriffspaar ausmachen; ähnlich verhalten sich Subjekt und Objekt, Ursache und Wirkung, Freiheit und Notwendigkeit und noch sehr viele andere so eng kopulierte Begriffspaare, die bei philosophischen Schriftstellern vorkommen. Ja, es wäre nicht unmöglich, daß vermöge der Amphibolie und Antinomie der letzten Geheimnisse gar alle philosophischen Begriffe die Besonderheit hätten, paarweise aufzutreten. Sehr günstig wäre dieser Umstand nicht für die Aussicht, der Welt auf den Grund zu kommen.
Denn diese Begriffspaare haben die traurige Eigenschaft, daß jeder von beiden als Gegensatz zum andern scheinbar besser erklärt werden kann, als für sich allein; und da es dem zweiten Begriffe ebenso geht wie dem ersten, so könnte es wohl kommen, daß wir bei beiden Begriffen nur den Schein einer Vorstellung haben. Rechts ist das Gegenteil von links, links ist das Gegenteil von rechts; was aber rechts oder links an und für sich sei, das kann schon darum nicht gesagt, nicht definiert werden, weil es einen Oberbegriff für rechts und links nicht gibt. Seite, Richtung ist dieser Oberbegriff wahrlich nicht. Ebensowenig gibt es einen Oberbegriff für Subjekt und Objekt, für Ursache und Wirkung, für Freiheit und Notwendigkeit, man wollte denn den umfang- und inhaltlosen Seinsbegriff zum Oberbegriff machen, die Welt auf den Elefanten, den Elefanten auf die Schildkröte stellen und so in infinitum. Es gibt auch keinen Oberbegriff für immanent und transzendent. Trotzdem läßt sich einiges klar und heiter über die Geschichte dieses Begriffspaares erzählen.
Beide Worte sind griechischen Originalen nachgebildet, die aber erst in lateinischen Lehnübersetzungen, und erst bei den Scholastikern zu Ansehen kamen. Immanenz und Transzendenz sind den Griechen noch keine Termini; nur gelegentlich sagt Aristoteles, das Immanente sei ein Begriff (ἐνυπαρχειν ἐν τῳ τι ἐστιν, ἐν τῳ λογῳ), sagt der Neuplatoniker Herennius, das Metaphysische übersteige die Erkenntnis, sei transzendent (μετα τα φυσικα λεγονται ἁπερ φυσεως ὑπερηρται και ὑπερ αἰτιαν και λογον εἰσιν). Diese griechischen Worte sind gelegentliche und zufällige Anwendungen der Muttersprache und haben im Griechischen zu keiner Terminologie geführt; es ist ja doch nur Zufall, daß nicht Diabetes (irgendwie von διαβαινειν, ausschreiten) die Erkenntnis metaphysischer Kategorien und Transzendenz die Harnruhr bezeichnete, Zufall, daß es umgekehrt kam.
Zu einem Begriffspaar, zu einem Terminuspaar stiegen immanens und transcendens erst im christlichen Mittelalter empor, wobei zu bemerken, daß für das lebhafte transcendere (überklettern, nach Kant: überfliegen) mit scholastischer Pedanterie das nüchterne transire gern gesetzt wurde. Aus transire bildete man transiens, was dann deutsche Pedanterie durch transeunt wiedergegeben hat. Meister Eckhart hat die Worte schöner übersetzt: Innebleibendes und ausfließendes Werk.
Auch Werk ist ein guter Griff des Meisters. Denn die beiden Termini wurden von den Scholastikern noch nicht eigentlich auf die menschliche Erkenntnis bezogen, sondern vielmehr auf die Energien oder Ursachen. Eine Energie oder actio (der Gedankengang der Scholastiker ist in unserer Sprache schwer wiederzugeben) ist immanens, wenn sie bei sich selber bleibt, wenn sie auf nichts übergeht. Eine Ursache ohne Wirkung, z. B. die Vorgänge in den cogitativen und appetitativen Seelenkräften. Eine Ursache, die als Wirkung auf etwas anderes hinübergeht, also eine wirkliche oder wirkende Ursache wird eben dadurch transcendens.
In dieser spitzfindigen Bedeutung wäre das Begriffspaar heute ausgestorben, wenn Spinoza es nicht benützt hätte, seinen Gottesbegriff sprachlich so auszudrücken: eine Ursache, die keine wirkliche Ursache ist. Gott oder die Natur, die natura naturans ist ihm so eine unvorstellbare actio immanens oder eine actio (wie später Baumgarten es genannt hat), quae non est influxus. Und wirklich erklärt auch Spinoza einen von den beiden Teilen des Begriffspaares durch Negation des andern: Deus est omnium rerum causa immanens, non vero transiens. Spinozas großer Versuch, den Gottesbegriff, der in ihm lebendig war, durch die wirkungslose Ursache zu retten, ist für uns doch veraltet, weil wir das Wort Gott um deswillen nicht mehr verstehen zu müssen glauben, weil das Wort in unserer Sprache ist; aber philosophische Schönredner glauben auch heute noch Eindruck zu machen, wenn sie dem alten Judengotte frei die Transzendenz absprechen, ihm aber die Immanenz freundlich zugestehen. Sie wissen wohl nicht, was Spinoza bei den Worten gedacht hat. Da es ihre Zuhörer aber auch nicht wissen, so glauben Redner und Hörer einander zu verstehen. Und es klingt nicht übel.
Die Schönrednerei wird nicht besser, wenn ein Professor der Philosophie, und wäre er ein ordentlicher (Paulsen, Einleitung³ S. 264) Theismus und Pantheismus, Transzendenz und Immanenz versöhnen zu können glaubt. Immanenz und Transzendenz seien nicht ausschließende Gegensätze, »um die [eigne] Ansicht noch mit diesen Begriffen zu bezeichnen.« Der Theismus müsse die Immanenz, der Pantheismus die Transzendenz gelten lassen, gewissermaßen und noch. (Vgl. Art. Spinozas Deus.)
Nur die abgründigen Mystiker tappten sich ahnungsvoll über den Sprachgebrauch der Scholastiker hinaus. Bei dem skeptischen Mystiker Nikolaus Cusanus schon findet sich mehr als einmal die Transzendenz im modernen Sinne: was über menschliche Begriffe hinausgeht. Diesem faustischen Lehrer der docta ignorantia will es schier das Herz verbrennen, daß wir so gar nichts wissen können. Was unsere Intelligenz transzendiert, die den Widerspruch verstandesgemäß nicht überwinden kann, das möchten wir dennoch wissen: ad hoc ductus sum, ut incomprehensibilia amplecterer in docta ignorantia per transcensum veritatum incorruptibilium humaniter scibilium (III, 12). Das Transzendente ist das Wissen von dem, wovon wir nichts wissen.
Zwischen dem Kusaner und Spinoza verschwindet das Begriffspaar allgemach aus dem Sprachgebrauche der philosophischen Schriftsteller. Leibniz nennt transzendent die mathematischen Operationen, die sich durch elementare Algorithmen, die sich ohne Infinitesimalrechnung nicht lösen lassen. Das gründliche philosophische Lexikon von Walch (1740) führt das Begriffspaar nicht besonders auf und erwähnt es nur, flüchtig und ungenau, als letzte unter den wichtigeren Einteilungen der causae.
Bevor ich den Bedeutungswandel darlege, den Kant an dem Begriffspaar vornahm, muß ich noch einmal auf die Synonyme transiens und transcendens zurückkommen, die bei den Scholastikern im Gebrauch waren, aber doch nicht ganz promiscue der Weiterbildung zu Gebote standen.
Transiens hatte zwar keine philosophische Vergangenheit, aber doch schon eine grammatikalische; und wir wissen, wie sehr sich seit jeher Grammatik und Logik durchkreuzten. Schon bei Priscianus, dem lateinischen Abschreiber einer berühmten Grammatik des Apollonios, findet sich das verbum transitivum und intransitivum als genaue Übersetzung griech. Kunstausdrücke (nach Lersch »Sprachphilosophie der Alten« II, 129): »Cum igitur flectas nomen in obliquos casus, verbum ei adiungi non potest intransitivum, id est ἀμεταβατον, hoc est in sua manens persona. Nam μεταβατικα dicuntur, id est transitiva, quae ab alia ad aliam transeunt personam, in quibus solent obliqui casus adiungi verbis.« Ich finde nun die Bedeutung des Praefixes trans schon verschieden in transire und in transcendere. Wir haben genau den gleichen Unterschied, wo wir das Praefix mit über übersetzen. Bald bedeutet es ein räumliches hinüber, bald irgend eine Art von Sieg, von darüber hinaus gelangen, wie in: übersteigen, überwinden, und gar in dem Schlagworte Übermensch. In dem nüchternen transire steckt mehr die Bedeutung des räumlichen hinüber, in dem fast leidenschaftlichen transcendere eher schon die geistige Bedeutung des darüber hinaus.
Zu diesem anfangs kaum fühlbaren Unterschied der Prädikatworte transiens und transcendens kam nun ein viel stärkerer Unterschied in der Anwendung auf das Subjekt. War das Subjekt von transiens oder transcendens eine sinnfällige oder vermeintliche Wirklichkeit, ein natürlicher Vorgang, der als Ursache aufgefaßt wurde, so war der scholastische Gegensatz zwischen transeunten und immanenten Ursachen gegeben, für den wir eigentlich nur noch bei dem späten Spinoza – wie gesagt – ein für uns vorstellbares Beispiel besitzen. War das Subjekt ein Begriff oder ein Prinzip, kurz: eine Vorstellung des psychologischen Denkens, dann konnte bei Transzendenz leicht ein darüber hinaus mitgedacht werden und wir haben die Transzendenz, die Kant wieder belebt hat. Ich will nun zeigen, um wieviel näher uns die nüchterne, sprachrichtige Vorstellung Spinozas liegt als die verstiegene, sprachwidrige Vorstellung Kants.
Spinoza holte sich das Wort von den Scholastikern, die Scholastiker hatten den grammatikalischen Terminus der Griechen in einen logischen Terminus ihres Barbarenlatein übersetzt. Und jetzt darf ich sagen, daß der grammatikalische Sinn von transire und der philosophisch-logische im Grunde ein und derselbe war. Man muß nur wieder zwei räumliche Nebenbedeutungen von trans oder über, hinüber unterscheiden. Das Praefix kann auch ausdrücken, was wir genauer mit vorüber bezeichnen; wir haben da neugebildete Worte wie Transit und transitorisch. Was so vorüber geht, das geht vorwärts hinüber. Freilich, was transitorisch ist, das vergeht auch, aber nur schlechte Menschen werden es im Wesen der Sprache begründet finden, daß ein Vorwärtsgehen, ein progressus, ein Fortschritt immer ein Vergehen ist. Bei diesen Begriffen der lebendigen Sprache ist eine genaue Analyse fast unmöglich. Bei den Wortleichen causa transiens und verbum transitivum ist sie aber möglich, und wir sehen in der philosophisch-logischen und in der grammatikalischen Darstellung den völlig gleichen Versuch, etwas Unsagbares sprachlich auszudrücken. Wir wissen ja nicht, wie es kommt, daß die Bewegung einer Billardkugel auf die getroffene Kugel übergeht (transit); wir nennen oder nannten aber die Beschreibung des Vorganges, die die Menschen immer für eine Erklärung halten, eine Transienz. Genau ebenso unerklärlich ist der Vorgang, den wir durch das transitive Verbum stoßen etwa ausdrücken. Wir haben gelernt, daß durch solche Verba überhaupt ein Zweck mitgedacht wird, von Hause aus natürlich ein menschlicher Zweck. Ein Mensch stößt, wenn er stoßen will. Eine Billardkugel, die stößt, ist schon anthropomorphisch gedacht. Der Gott, der nur von außen stieße, ist fast eine Übersetzung der causa non transiens von Spinoza. Schöner läßt sich die Vorstellung nicht formen, als mit den Worten des Spinozisten Goethe:
»Was wär' ein Gott, der nur von außen stieße,
Im Kreis das All am Finger laufen ließe!
Ihm ziemt's, die Welt im Innern zu bewegen,
Natur in Sich, Sich in Natur zu hegen,
So daß, was in Ihm lebt und webt und ist,
Nie Seine Kraft, nie Seinen Geist vermißt.«
Uns aber hilft nun die gleiche Vorstellung im Verbum transitivum und in der causa transiens, das Wort Spinozas goethisch unserer Weltanschauung anzupassen. Gott und Natur sind Eines nur; Gott ist überdies causa sui, der Natur gegenüber causa immanens, non vero transiens. Stünde da nicht überall das vermaledeite Wort causa, so könnten wir Gott mit dem intransitiven oder intranseunten Sein gleichsetzen und die Identität von Gott und Natur wäre einfach da. Ist aber Gott eine causa, auch der Natur, so muß ein anderes Verbum für ihn gesucht werden, das nicht transitiv oder transient oder transeunt ist und das doch den Begriff einer causa, einer immanenten, in sich faßt. Dieses geheimnisvolle Wort schwebt heute jedem sogleich auf der Zunge: das Werden. Das Werden ist immanent transitiv. Wenn wir das klingende Wort nur verstünden. Weil wir es aber zu verstehen glauben, besitzen wir im Spinozismus, wie wir ihn uns zurechtgelegt haben, die Transienz oder Transzendenz in dem guten scholastischen Sinne des Hinüber.
Im Sinne des darüberhinaus haben auch die Scholastiker das Adjektiv transcendens schon gebraucht: über die Erfahrung hinaus, metempirisch; sonst wäre die mystische Anwendung bei Cusanus kaum möglich gewesen, und es hängt wirklich nur von der Stimmung oder meinetwegen von der Weltanschauung des Philosophen ab, ob dieses Adjektiv transzendent einen verächtlichen oder einen verehrungsvollen Nebensinn mitenthält. Wie wir das fast gleichbedeutende Adjektiv höher bald respektvoll, bald ironisch gebrauchen und beide Stimmungen sogar in unserem Worte höherer Blödsinn zu vereinigen wissen.
II.
Mir will es scheinen, als ob nach Überwindung der Scholastik das Aufkommen der exakten Erfahrungsphilosophie die Transzendenz diskreditiert hätte, und daß darum das Wort veraltete, bis es mitsamt dem abgeleiteten transzendental von Kant wieder eingeführt wurde. Auch transcendentalis gehörte schon zu dem Wortschatz der Scholastiker; es bedeutete ungefähr die logische Beschäftigung mit den höchsten Transzendenzien: der Einheit, der Wahrheit usw. Ich glaube bestimmt, daß die Scholastiker, die ja in der Begriffsspaltung Virtuosen waren, bei der Bildung dieses Wortes sehr fein dachten, und nur einen formalen Schnitzer begingen. Ein Adjektiv vom Adjektiv ließ sich nicht bilden, nur vom Substantiv. Es hätte richtiger transzendenzialisch heißen müssen, wie pestilenzialisch von Pestilenz. Die Silbe mehr hätte das Wort freilich nicht anmutiger gemacht.1
Kant, dem wir uns so langsam nähern, entnahm die Bezeichnungen transzendent und transzendental aber nicht unmittelbar dem scholastischen Sprachgebrauche, sondern der Terminologie Baumgartens, dessen Metaphysik er so lange zur Grundlage seiner eigenen Vorlesungen gewählt hatte. Baumgarten gebraucht transzendental im Sinne der Anwendung höchster Kategorien, übersetzt aber einmal unum transcendentaliter mit wesentlich eins, ein andermal veritas transcendentalis mit notwendige metaphysische Wahrheit. Als nun Kant über Baumgarten hinausgewachsen war und für den Grundgedanken seines Lebenswerks, für den Versuch, aller künftigen Philosophie eine unzerstörbare erkenntnistheoretische Basis zu geben, ein prägnantes Wort wünschte, da glaubte er es zu finden in dem ihm geläufig gewordenen transzendental, das die wesentliche und notwendige Wahrheit bedeuten sollte, die Lehre vom a priori, mit der Kant die Erkenntnistheorie Lockes, die Ablehnung aller angeborenen Ideen, in einer Hinsicht ebenso vertiefte, wie er sie in anderer Hinsicht trübte.
Ich werde zu zeigen versuchen, daß wir in moderner Sprache überall da Erkenntnistheorie und erkenntnistheoretisch sagen dürfen (oder Erkenntniskritik und -kritisch), wo Kant Transzendentalphilosophie und transzendental sagt; nur daß Kant (natürlich) immer seine eigene Erkenntnistheorie vor Augen hatte, ein Dogmatiker seines eigenen Glaubens war und darum trotz unvergleichlicher Kraft und unerhörter Architekturarbeit nicht dazu kam, eine voraussetzungslose, objektive Erkenntnistheorie zu schaffen.
Daß Erkenntnistheorie transzendental heißen kann, insofern sie eigentlich über Menschenkraft hinausgeht, das ist nicht schwer einzusehen. Erkenntnistheorie wäre etwa: das Wissen vom gewissen Wissen. (Schon Schelling hat sie ähnlich definiert.) Das Wissen müßte über sich selbst steigen können, um zu einer Erkenntnistheorie (epistemology, wie die Engländer sagen, ohne sich etwas Besseres zu denken) zu gelangen. Die naiven Griechen stellten die Forderung einer Erkenntniskritik gar nicht auf, weil ihnen noch mehr als in der Naturwissenschaft in der Metaphysik der kritische Sinn für Verifizierung abging. Das christliche Mittelalter, das jede Erkenntnis von Gott hatte, konnte eine andere Erkenntnistheorie als die Theologie gar nicht brauchen. Erst die neueren Engländer seit Locke zermarterten das Gehirn an der furchtbaren Aufgabe, gewissermaßen das tätige Gehirn zu vivisezieren, über die Reflexion zu reflektieren, die Psychologie des Denkens zu ergründen. Der uralte Satz, es sei nichts im Verstande, was nicht vorher in den Sinnen gewesen sei, muß an der Möglichkeit einer Erkenntniskritik verzweifeln lassen; denn das Entstehen unseres Denkens kann unmöglich vorher in den Sinnen gewesen sein. Doch schon Leibniz hatte auf den alten Satz den Trumpf gesetzt: nisi intellectus ipse; und nun spielte Kant diesen Trumpf gegen die Engländer aus: die primären Eigenschaften, die synthetischen Urteile a priori, die Bedingungen Zeit und Raum sind im Verstande vor aller Erfahrung; auf diese wesentliche und notwendige Wahrheit lasse sich die einzig wahre Erkenntnistheorie aufbauen, die transzendental ist, weil sie vor aller Erfahrung da ist, nicht transzendent, nicht gegen die Erfahrung. Alle starken neueren Philosophen waren ja darin einig, daß sie innerhalb der Welt der Erscheinungen konsequente Materialisten waren (Descartes, Kant, Schopenhauer), daß sie nur über die Erscheinungswelt hinaus Fragen stellen konnten, entscheidende Fragen, die der Materialismus oder die Erfahrungsphilosophie nicht beantworten, ja nicht einmal begreifen konnte.
Was man jetzt in Deutschland Erkenntnistheorie nennt, schlecht genug, das ist keine Lehre, sondern eben erst eine Aufgabe. Ich glaube durch die Formulierung Kritik der Sprache die Aufgabe einer Erkenntnistheorie bestimmter gestellt zu haben. Negativ wenigstens bestimmter gezeigt zu haben, wie das Denken, weil es Sprache ist, untersucht werden kann. Die nächsten Nachfolger Kants, gegen die Kant selbst wie hellseherisch sich oft gewandt hat, mißachteten die Aufgabe einer Erkenntnistheorie, trotzdem Fichtes Wissenschaftslehre ursprünglich gar nichts anderes sein wollte. Hegel, der Dialektiker, mußte vollends die Erkenntnistheorie für ein subalternes Geschäft halten; er sagt einmal (Enzyklp.² § 10) direkt gegen Kant: »Dieser Gedanke hat so plausibel geschienen, daß er die größte Bewunderung und Zustimmung erweckt und das Erkennen aus seinem Interesse für die Gegenstände … auf sich selbst zurückgeführt hat. Will man sich jedoch nicht mit Worten täuschen, so ist leicht zu sehen, daß wohl andere Instrumente sich auf sonstige Weise etwa untersuchen und beurteilen lassen, als durch das Vornehmen der eigentümlichen Arbeit, der sie bestimmt sind. Aber das Erkennen kann nicht anders als erkennend untersucht werden, bei diesem sogenannten Werkzeuge heißt, dasselbe untersuchen, nichts anderes als Erkennen. Erkennen wollen aber ehe man erkenne, ist ebenso ungereimt, als der weise Vorsatz jenes Scholastikus, schwimmen zu lernen, ehe er sich ins Wasser wage.« Hegel, der den naiven Wortaberglauben der Griechen mit der Begriffsspalterei der Scholastiker zu verblüffender Meisterschaft vereinigte, hatte keinen Sinn für die Bescheidenheit des Nichtwissens eines Sokrates oder eines Kant, keinen Sinn für den tragischen Lebensernst, der die aufreibende Zergrübelung eines Kopfes, des stärksten unter allen, bis ans Ende verpflichtet, das Abc der Philosophie zu lernen und zu lehren, weil das Abc vorausgehen soll und muß. Es ist tragisch, daß der erstaunliche Kant mit der bewußten Kraft, alles Wißbare zwingen zu können, sein unersetzliches Leben der Vorfrage aufopferte: was und wie können wir wissen. Der glückliche Hegel, er wußte alles, ohne Frage, ohne Vorfrage.
Kants Bescheidung auf das Abc der Metaphysik war aber im Geiste und in der Kraft nicht mehr und nicht weniger als der erste bewußte Aufschwung zur Aufgabe einer Erkenntnistheorie, die er, bald unsicher bald selbstbewußt, schon selbst Transzendentalphilosophie nannte, wodurch dann für viele Jahre bei Weisen wie bei Narren Transzendentalphilosophie zum Modewort wurde.
Ich habe schon oben gestreift, daß mir auch das gegenwärtige Modewort Erkenntnistheorie nicht einleuchtet. Wir haben die Theorie ja noch nicht. Man hat einmal die Bezeichnung Logologie dafür versucht und wir werden dem Ausdruck bei Novalis begegnen. Aber Logologie ist als Lehre vom Logos in der christlichen Theologie schon genug heruntergekommen; auch ließe sich eine deutsche Übersetzung kaum herstellen, ohne den Spott herauszufordern.
III.
Es ist bekannt, daß Kant selbst im Gebrauche dieser beiden termini technici (»Handwerksbezeichnungen«) transzendent und transzendental nicht konsequent war; »weitherzig« nennen feste Kantianer offiziös diese kleine Konfusion. Für Kants Unsicherheit oder Gleichgültigkeit in diesem Sprachgebrauche finde ich kein besseres Beispiel als eine Stelle der Prolegomena (S. 129), die genau heißt: »wenn einmal solche reine Vernunftbegriffe (transsc. Ideen) gegeben sind«. Die Ausgabe der Berliner Akademie (IV, 330) setzt dafür in die Klammer »transscendentale Ideen«, ohne daß der kritische Apparat eine Erklärung gäbe.
Daß transzendental und transzendent nicht einerlei seien, hat Kant in der Kritik der reinen Vernunft wie in den Prolegomena energisch genug ausgesprochen. »Wir wollen die Grundsätze, deren Anwendung sich ganz und gar in den Schranken möglicher Erfahrung hält, immanente, diejenigen aber, welche diese Grenzen überfliegen sollen, transzendente Grundsätze nennen. Ich verstehe aber unter diesen nicht den transzendentalen Gebrauch oder Mißbrauch der Kategorien.« Die Stellen, die sich diesem selbstgewählten Sprachgebrauche nicht fügen, sind öfter gesammelt worden. Ich aber will für meine Zwecke besonders darauf hinweisen, daß Kant selbst da, wo er seine Termini verdeutschen und verdeutlichen möchte, die beiden Begriffe (amicus Plato usw.) verwechselt. In der Kritik der reinen Vernunft übersetzt er transzendent mit überfliegend (immanent an derselben Stelle, S. 671, kühn und schön mit einheimisch); dem widerspricht es noch nicht, wenn er (S. 314) transzendental mit außerordentlich erklärt; denn in überfliegend liegt ein gewisser Tadel, in außerordentlich ein gewisses Lob und Kant gebraucht ja den Terminus Transzendenz, um für die Metaphysik abzulehnen, was er durch den Ausdruck transzendental in der Erkenntnistheorie gut heißt. Die Übersetzung überschwenglich für transzendent (Kr. d. pr. V. S. 60) kommt für die Persönlichkeit Kants der Bedeutung von überfliegend sehr nahe.
Aber gerade in seiner Kr. d. pr. V., wo der skeptische Saulus zum gläubigen Paulus wurde, weil Kant aus der Negation in die Position strebte, weil Kant da über sein erkenntnistheoretisches Lebenswerk hinaus wollte, gerade in seiner verhängnisvollen Kr. d. pr. V. wird transzendental ganz und gar zu außerordentlich. Das Transzendente hatte im Gegensatze gestanden zum Immanenten, das Transzendentale zum Empirischen. In logischem Gegensatz. Nun aber auf einmal verwandelt der kategorische Imperativ das ganze Bild. Der transzendente (überschwengliche) Gebrauch der reinen Vernunft wird das einzige Verwahrungsmittel gegen Verirrungen (schon Proleg. S. 127, wo er offenbar transzendental sagen will); die transzendente Erkenntnis, die in der reinen Vernunft trüglich, dialektisch ist, wird in der praktischen Vernunft plötzlich immanent, d. h. sie kann zum Grundsatz unseres Handelns werden. Man denke, um aus diesen Abstrusitäten ins Leben zurückzuflüchten, einmal daran, daß die transzendente Vorstellung, der Papst sei der Statthalter Gottes auf Erden, immanent werden und die Handlungen von Millionen Menschen beeinflussen kann. Hier hätte Kant nicht geschwankt, hätte die Vorstellung von einem Statthalter Gottes tadelnd transzendent genannt. Aber sein eigenes höchstes Sittengesetz, das er a priori in der Tiefe seines Gemütes vorfand, das war – wenn man ihn beim Worte nahm – zugleich transzendent und immanent und empirisch und transzendental: überschwenglich und einheimisch und erfahrungsgemäß und apriorisch.
Die gelegentlichen Verwechslungen der beiden Termini sind aber ein kleiner Schaden gegenüber dem Unheil: daß Kant ausgegangen ist, die neue kritische Methode zu schaffen, die Unterlage »zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können«, daß er diese erkenntnistheoretische Aufgabe, die er die Transzendentalphilosophie nannte, mit unerhörtem Scharfblick vor sich sah, auf dem Wege jedoch in Dogmatismus abirrte, den bescheiden menschlichen Psychologismus der Engländer zu überbieten glaubte, das Dogma von den Erkenntnissen a priori aufstellte und nun dieses sein Dogma mit der Transzendentalphilosophie identifizierte. Er nannte also transzendental bald sein Unvergängliches, die Aufgabe einer objektiven Erkenntnistheorie, bald sein Vergängliches: das von ihm aufgestellte System der Erkenntnisse a priori, seine ganz vergängliche Kategorientafel. Diese Unsicherheit im Gebrauche eines von ihm, wenn nicht neu geschaffenen, doch neu definierten oder erklärten Begriffes, würde uns deutlicher werden, wenn wir den Terminus wieder neu in unsere Sprache übersetzen könnten.
IV.
Wollen wir Kants Terminus transzendental durch ein uns geläufigeres Wort ersetzen, so bietet sich uns, wie gesagt, erkenntnistheoretisch an, für Transzendentalphilosophie Erkenntnistheorie. Dies finde ich durchgehends dort, wo Kant die ungeheuere Arbeit hinter sich hatte und freier, auch sprachlich freier, in großen Zügen die Grundlinien zog, in den Prolegomenen. Ich will einige Stellen hersetzen und bitte den Leser, jedesmal für Transzendentalphilosophie Erkenntnistheorie, für transcendental erkenntnistheoretisch zu lesen. (Oder Erkenntniskritik, erkenntniskritisch.) Die Vertretungsmöglichkeit wird vielleicht überraschen.
»Man kann sagen, daß die ganze Transzendentalphilosophie, die vor aller Metaphysik notwendig vorhergeht, selbst nichts anders, als bloß die vollständige Auflösung der hier vorgelegten Frage (wie sind synthetische Erkenntnisse a priori möglich?) sei, nur in systematischer Ordnung und Ausführlichkeit, und man habe also bis jetzt keine Transzendentalphilosophie« (S. 46).
»Jede einzelne Erfahrung ist nur ein Teil von der ganzen Sphäre ihres Gebietes, das absolute Ganze aller möglichen Erfahrung ist aber selbst keine Erfahrung, und dennoch ein notwendiges Problem vor die Vernunft, zu dessen bloßer Vorstellung sie ganz anderer Begriffe nötig hat, als jener reinen Verstandesbegriffe, deren Gebrauch nur immanent [wir würden das weniger schön als durch einheimisch, durch erfahrungswissenschaftlich wiedergeben] ist, d. i. auf Erfahrung geht, soweit sie gegeben werden kann, indessen daß Vernunftbegriffe auf die Vollständigkeit, d. i. die kollektive Einheit der ganzen möglichen Erfahrung und dadurch über jede gegebene Erfahrung hinausgehen, und transzendent werden« (S. 126).
Ähnlich S. 128.
»Das sind nun die transzendentalen Ideen, welche, sie mögen nun nach dem wahren, aber verborgenen Zwecke der Naturbestimmung unserer Vernunft, nicht auf überschwengliche Begriffe, sondern bloß auf unbegrenzte Erweiterung des Erfahrungsgebrauchs angelegt sein, dennoch durch einen unvermeidlichen Schein dem Verstande einen transzendenten Gebrauch ablocken [für Kant ist Transzendenz eine Art Instinkt], der, obzwar betrüglich, dennoch durch keinen Vorsatz innerhalb den Grenzen der Erfahrung zu bleiben, sondern nur durch wissenschaftliche Belehrung und mit Mühe in Schranken gebracht werden kann« (S. 134).
Aber auch schon in der fast zyklopischen Einleitung zur Kr. d. r. V. kommt deutlich der Gedanke der Erkenntnistheorie zu Worte. »Die Transzendentalphilosophie ist die Idee einer Wissenschaft, wozu die Kr. d. r. V. den ganzen Plan architektonisch, d. i. aus Prinzipien, entwerfen soll, mit völliger Gewährleistung der Vollständigkeit und Sicherheit aller Stücke, die dieses Gebäude ausmachen. Sie ist das System aller Prinzipien der reinen Vernunft. Daß diese Kritik nicht schon selbst Transzendentalphilosophie heißt, beruht lediglich darauf, daß sie, um ein vollständiges System zu sein, auch eine ausführliche Analysis der ganzen menschlichen Erkenntnis a priori enthalten müßte« (1787, S. 27). Und kurz vorher: »Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, sofern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt. Ein System solcher Begriffe würde Transzendentalphilosophie heißen« (S. 25).
In seinem leidenschaftlichen Herzenswunsche, den Skeptizismus Humes durch positive Einsicht zu überwinden, in seiner tiefsinnigen Ahnung, daß der englische Psychologismus nicht das letzte Wort behalten könne, hat Kant sich während der Arbeit die eigene Aufgabe verrückt und das Fundament seiner Architektur untergraben. Er stand noch mit seiner lateinischen Dissertation (1770) auf dem Boden des Psychologismus; diesen wollte er durch transzendentale, erkenntniskritische Methode überwinden, aber immer wieder vor der Metaphysik Halt machen; nur eine philosophische Propädeutik geben. Er kehrt aber oft zum Psychologismus zurück, versteigt sich ebenso oft zu Metaphysik, ohne zu bemerken, daß er diese Wege nicht mehr transzendental (in seinem Sinne) nennen dürfte. Man könnte sagen: was dem Empirischen entgegengesetzt war, das war für Kant im übeln Sinne transzendent, im guten Sinne transzendental. Dann wurde ihm aber das Transzendentale wieder zum Metempirischen, zum Metaphysischen. Statt voraussetzungsloser Erkenntnistheorie schob sich ihm immer wieder eine Voraussetzung, ein Dogma dazwischen: seine eigenste Lehre von den Erkenntnissen a priori. Es fiel ihm nicht ein, die Frage über dem Portal, wie synthetische Erkenntnisse a priori möglich seien, durch die Frage zu ersetzen, ob sie möglich seien, und diese umfassendere Frage mit nein zu beantworten. Erkenntnistheoretisch, transzendental ist nur die Frage. Man kann auch sagen: die Methode. Kant aber nennt auch seine dogmatische Antwort transzendental, die Frage selbst wird so transzendent; transzendental im dogmatischen Sinne heißen nun unentwirrbar: das Erkenntnisvermögen und dessen Funktionen, Anschauungen, Begriffe, Urteile, Beweise, die Wahrheit und der Schein, die Gegenstände und ihre Prädikate, die ganze Vernunftkritik und ihre einzelnen Abschnitte. Transzendental ist die reine Vernunft, als welche sich nur auf Begriffe a priori bezieht. Transzendental heißt endlich auch Kants Idealismus. Und weil in dieser ganzen aufwühlenden Denkarbeit die Aufgabe einer Erkenntnistheorie für jede künftige Metaphysik dennoch groß festgehalten wird, darum schwankt der Begriff transzendental hin und her und ist schwer zu treffen.
Auch die Autorität eines Kant darf uns nicht zwingen, an die Klarheit und Deutlichkeit eines Wortes deshalb zu glauben, weil es mit gleichen Lettern gedruckt sich überall findet. Man vergesse auch nicht, daß Kant, ein Riese der Denkarbeit, aber ungleich in seiner Sprachkraft, den Doppelkampf auf sich genommen hatte, abgründig neue Gedanken in einer Sprache darstellen zu wollen, die in seiner Jugendzeit (alle Schriftsteller bilden sich ihr Stilwerkzeug in der Jugend) eben erst für die dichterischen und philosophischen Philistrositäten eines Gottsched und Wolf bildsam gemacht worden war. Kant ist niemals darum dunkel, weil er dunkel sein will. Was einem Feldherrn zum Vorwurfe und zur Vernichtung werden müßte: seine Schlachten mit Waffen schlagen zu wollen, die noch nicht erfunden sind, – das kann einem Denkerhelden leicht passieren. Die deutsche Sprache, die Kant vor 1750 wissenschaftlich brauchen lernte, war schülerhaft und arm im Verhältnis zu dem Französisch Voltaires, zu dem Englisch Humes; sie war das Stammeln eines Kindes im Verhältnis zu den neuen Gedanken und Ausblicken Kants. Wie das möglich sei, wenn Sprechen und Denken identisch sind? Man schaffe sich ein Ohr an dafür, wie in der »Kritik d. reinen Vernunft« ein außerordentlicher, überschwänglicher Geist mit der Sprache nach Worten ringt, den gesuchten Gedanken, das gesuchte Bild bald verliert, bald siegreich findet; und man wird just da keinen Unterschied mehr finden zwischen Denken und Sprechen. Für die Vorstellung transzendental hat Kant das Bild, das Wort nicht gefunden. Und Herder schien im Rechte, da er sich in seiner boshaften »Metakritik« über das Transzendieren der Transzendenz (I. 67), über das Trans-transzendieren (II. 322), über die »transzendenten Wortnebel« lustig machte.
V.
Der wirre Gebrauch hat das Schlagwort transzendental nicht gehindert, ein Modewort zu werden. Im Gegenteil. Als Proben für die Art, wie die Zeitgenossen das Wort fast unverstanden mißbrauchten, will ich einige Stellen aus den Schriften zweier Männer anführen, die ich übrigens beide liebe und die miteinander durch eine Zeitströmung zusammenhängen, welche wieder mit einem wirren Schlagwort die deutsche Romantik genannt zu werden pflegt. Die beiden Männer, die ich im Sinne habe, sind: Hamann, der Ältervater der Romantik, und Novalis, ihr seelenvollster Dichtergeist.
Hamann, welcher mit Kant persönlich verkehren durfte und der Transzendentalphilosophie – ich scheue mich nicht es zu sagen – ohne genaues Verständnis und doch überlegen gegenüberstand, der für die Vernunftkritik wie ein Journalist Reklame machte und dann wieder die schlagendsten Einwürfe gegen sie zuerst aussprach, Hamann weidet sich ordentlich an den Klängen: transzendent und transzendental. In seiner »Metakritik über den Purismum d. r. V.« sagt er: Die zweite Reinigung der Philosophie (die erste wäre die Befreiung von der Tradition gewesen), sei noch transzendenter, und laufe auf nichts weniger als eine Unabhängigkeit von der Erfahrung und ihrer alltäglichen Induktion hinaus. Und Hamann, der in diesem kleinen Schriftchen zum erstenmale Sprachkritik übt, an Kant, macht sich schon über den Namen Metaphysik, »dem dieser Erbschade und Aussatz der Zweideutigkeit anhängt« lustig, hört die Ähnlichkeit von μετα und trans schon heraus; »ihre Terminologie verhält sich zu jeder andern Kunst-, Waid-, Berg- und Schulsprache, wie das Quecksilber zu den übrigen Metallen.« In dem schwer zugänglichen Aufsatze »Golgatha und Scheblimini« nennt er die Gedanken der ungläubigen Philosophen »transzendentale Grillen« (1784). Schon in den »Fragmenten einer apokryphischen Sibylle« (1779) sagt er freilich (VI, S. 8): »Der einzige Gott, Schöpfer und Vater des Ganzen war so unterscheidend in dem Jupiter Optimus Maximus ausgezeichnet, daß alles transzendentale Geschwätz der gesetzlichen Vernunft auf nichts mehr hinausläuft, als eine Zusammensetzung und Anwendung dieser höchsten, allgemeinsten Gattungsideen positiver Qualität und Quantität.« (Man achte darauf, wie hier transzendental noch im Sinne von Wolf und Baumgarten gebraucht wird.) Aber in den »Zwei Scherflein zur neuesten deutschen Literatur« (1780, also ebenfalls vor Erscheinen der Vernunftkritik) sagt er schon ganz kantisch: »Dieses verscheuchte Taubenerkenntnis (der Theopneustie) ist wenigstens nicht wunderlicher, transzendentaler und unbegreiflicher als der dunkle Schulglaube« (S. 41). In seiner Anzeige der Vernunftkritik (1781) sagt er: Unter dem neuen Namen der Transzendentalphilosophie verwandle sich die verjährte Metaphysik aus einem zweitausendjährigen Kampfplatz endloser Streitigkeiten auf einmal in ein systematisch geordnetes Inventarium aller unserer Besitze durch reine Vernunft.2
Ob transzendental bei Hamann im Sinne Kants gemeint sei, oder ob es eine Anspielung auf Kant sei oder nur eine vage Assoziation, das läßt sich bei der eigenen Psychologie von Hamanns »Wurststil« kaum ausmachen, außer in den Fällen, wo Kant ausdrücklich zitiert wird. Ich will aber noch einige Stellen sammeln, die das Spielen fast mit dem bloßen Wortklang zu belegen scheinen.
1780 (VI, 5): »Vielen entsteht das außer- und übersinnliche oder transzendentale Licht der Vernunft … und ihrer Fackelträgerin, der eigentlichen Wissenschaft.« (Auch hier, wie der Zusammenhang ergibt, ist der Terminus im alten, scholastischen Sinne gemeint; man merkt, daß Hamann das Wort schon vor seiner Wiederbelebung durch Kant gern hatte; und wahrscheinlich hat er die frühere Bedeutung mit in die neue Zeit hinübergenommen.)
1784 (VII, 51): »Nein, die ganze Mythologie der hebräischen Haushaltung war nichts als ein Typus einer transzendenteren (ein Komparativ, bei dem sich Kant schwerlich etwas hätte denken können) Geschichte, der Horoskop eines himmlischen Helden.«
(VII, 109): »Die Erfüllung neuer, künftiger, außerordentlicher und transzendenter Offenbarungen.«
Wer sich von diesem Hamannschen Sprachgebrauch, der die Wolfsche und die Kantische Wortbedeutung ohne Unterscheidung durcheinanderwirrt, der einen Komparativ bildet (ebenso gut könnte man von höher, wie transzendental, zum Kummer Kants, doch auch übersetzt worden ist, einen Komparativ der Höherere bilden), nicht darüber belehren läßt, daß Hamann sich vom Wortklange berauschen ließ und das Wort nicht als terminus technicus empfand, der mag sich vielleicht von der Kleinigkeit überzeugen lassen, daß Hamann das Wort einmal (VII, 28) noch verschönerte und von dem » transzendentellen Verstand« des römisch- und metaphysisch-katholischen Despotismus redete.
Bevor ich noch einen ähnlichen Sprachgebrauch bei Novalis belege, müßte ich eigentlich die behauptete Verbindung zwischen Hamann und Novalis aufzeigen. Das hat aber die Literaturgeschichte längst getan. Der Haß gegen Vernunft und Aufklärung, der zumeist durch Hamann und seinen Privatschüler Herder (der damals auch der Schüler des annoch skeptischen Kant war) im Sturm und Drang der 70er Jahre lebendig, ja tumultuarisch geworden war, scheint zwar zwanzig Jahre später in der Frühromantik einem neuen Rationalismus, einer Vergottung der Vernunft, einer Göttin der Vernunft, Platz zu machen; aber nur die Schlagworte haben gewechselt, der Gegensatz gegen die klassische Objektivität, die Vergottung des Ich, die Vertiefung in die eigene Persönlichkeit ist im Sturm und Drang ebenso zu finden, wie in der Romantik. Nur daß der Sturm und Drang das Wort noch nicht hatte, mit dem die Frühromantik sich's wohl sein ließ: transzendentaler Idealismus. Kant hatte das Wort geprägt und da ganz besonders deutlich den erkenntnistheoretischen Idealismus verstanden gegenüber dem materialen oder dogmatischen Idealismus Berkeleys. Aber dieser schwer zu fassende erkenntnistheoretische Idealismus Kants, der jenseits noch ein Ding-an-sich glaubte, ohne es wahrzunehmen, sagte den Frühromantikern nicht so zu, wie der unklarere, egoistischere und poetischere transzendentale Idealismus ihres Fichte, wie die Lehre, die die Welt oder das Nicht-Ich aus dem Ich hervorgehen ließ, und die darum schon früh Autotheismus zubenannt worden ist. Das war was für Friedrich Schlegel. Daraus konnte die Weltanschauung der selbstherrlichen Persönlichkeit und überdies eine ganz neue Poesie herausgesponnen werden: die Poesie der Poesie, die Transzendentalpoesie. »Goethes rein poetische Poesie ist die vollständigste Poesie der Poesie« (Athenäum Nr. 247). Die Divina Comoedia Dantes ist das einzige System der transzendentalen Poesie. Fast ungern räume ich ein, daß Friedrich Schlegel sich bei dieser Verquickung inkohärenter Begriffe etwas Bestimmtes gedacht hat, etwas, was weitreichende Folgen hatte. Für ihn war transzendental noch ungefähr soviel wie erkenntnistheoretisch, etwa: bewußte Erkenntnis. Die von der Zukunft geforderte Transzendentalpoesie war also gar nichts anderes als bewußte Poesie; und da das Abstraktum Poesie nicht bewußt sein kann, so hätte die Forderung richtiger gelautet: der Dichter muß bewußter arbeiten, als solche Leute wie Homer es getan haben. Weil Goethe im Wilhelm Meister lächelnd und bewußt über seinen Helden und ihren Schicksalen steht, darum wird dieser Roman zu den drei großen Tendenzen des Jahrhunderts gerechnet, neben der französischen Revolution und Fichtes Wissenschaftslehre. Transzendentalphilosophie, bewußte Dichterarbeit, romantische Ironie sind nur andere Bezeichnungen für dieselbe Sache. Und es ist vielleicht eine romantische Ironie der Literaturgeschichte, daß die poetischen Unehrlichkeiten Heines, sein bewußtes Fallen aus der Rolle und aus der Stimmung, dieser Gipfel der romantischen Ironie, über Friedrich Schlegels Theorien hinweg am letzten Ende aller Enden zurückzuführen ist auf die tragische Lebensarbeit eines Kant, der Erkenntnistheorie suchte und den transzendentalen Idealismus fand.
Wenn ich nun bei Friedrich Schlegel noch einen guten Zusammenhang zwischen Transzendentalphilosophie und Transzendentalpoesie zugestehen mußte, so geht das beim Sprachgebrauche des Novalis wirklich nicht mehr an. Hie und da schimmert noch die Bedeutung bewußt hindurch; aber dann klingt nur noch, wie bei Hamann, die unverstandene Lautfolge transzendental.
»Poesie ist die große Kunst der Konstruktion der transzendentalen Gesundheit. Der Poet ist also der transzendentale Arzt« (Ausg. v. Minor, III. 177). Weil Novalis also sagt, darum soll der Satz logisch sein.
Unmittelbar vorher: »Der Künstler ist durchaus transzendental.«
Darauf (178): »Die transzendentale Poesie ist aus Philosophie und Poesie gemischt. Im Grunde befaßt sie alle transzendentalen Funktionen und enthält in der Tat das Transzendentale überhaupt. Der transzendentale Dichter ist der transzendentale Mensch überhaupt.«
»Von der Bearbeitung der transzendentalen Poesie läßt sich eine Tropik erwarten (Hamann und Herder hatten ähnlich von einer neuen Mythologie gesprochen) – die die Gesetze der symbolischen Konstruktion der transzendentalen Welt begreift.«
Ferner (342): » Transzendentale Poetik, praktische Poetik … die transzendentale Poetik handelt vom Geiste, ehe er Geist wird … in der transzendentalen Poetik gibt es nur Ein gemeines, rohes Individuum. In der praktischen Poetik ist von gebildeten Individuen oder Einem unendlich gebildeten Individuum die Rede.«
Ganz konfus wird hier der Sprachgebrauch, weil der magische Novalis in unmittelbarem Zusammenhang (für Physik und Poetik) erst die Verbindung von transzendentaler und praktischer Physik und Poetik die höhere Physik und Poetik nennt. Bei diesen Zitaten ist freilich nicht zu vergessen, daß wir es mit der verschütteten Gewürzbüchse eines ungeordneten Zettelkastens zu tun haben, den Novalis nicht für die Öffentlichkeit bestimmt hatte, niemals so herausgegeben hätte.
Nicht nur das überfliegende und springende Denken eines Hamann, nicht nur das poetisierende Jagen eines Novalis ist durch den wirren Gebrauch des Modewortes transzendental charakterisiert. Ich finde sogar einmal eine solche Verwirrung bei dem besten Stilisten unter den deutschen Philosophen, bei Schopenhauer. Er hat den Kantischen Sprachgebrauch klarer auseinandergesetzt, als irgendjemand vor ihm, er hat sogar schon darauf hingewiesen, daß es zu Widersprüchen führen könne, » transzendente Fragen in der für immanente Erkenntnis geschaffenen Sprache zu beantworten«; aber Schopenhauer, der wortabergläubische Splitter in den Augen seiner berühmteren Zeitgenossen besser sah, als kleine wortabergläubische Balken in seinen eigenen, hat seine Lehre einmal (Parerg. I, 141) einen immanenten Dogmatismus genannt: »man könnte mein System bezeichnen als immanenten Dogmatismus; denn seine Lehrsätze sind zwar dogmatisch, gehen jedoch nicht über die in der Erfahrung gegebene Welt hinaus.« Der alte, von Kant umgestoßene Dogmatismus sei transzendent. Da Schopenhauer aber kantisch sein will und es in dieser Beziehung auch ist, da Kant seine Lehre transzendentalen Idealismus genannt hat, so mußte immanenter Dogmatismus ungefähr dasselbe sagen, wie transzendentaler Idealismus. Transzendental fällt mit immanent zusammen. Ich meine aber, auch Schopenhauer hat da »transzendente Fragen in der für immanente Erkenntnis geschaffenen Sprache beantworten« wollen; und wiederhole: Sprache ist von Hause aus materialistisch.
Auch die Stelle, an der die eben benützten sprachkritischen Worte stehen (Par. II, 295), ist für die Geschichte des Wortpaares immanent und transzendent nicht uninteressant. Es ist eine »kleine dialogische Schlußbelustigung« über das Thema: Unzerstörbarkeit unseres wahren Wesens durch den Tod. Ich müsste gestehen, kein einziges dieser Worte (Unzerstörbarkeit – wahr – Wesen – Tod) klar begreifen oder gar empirisch fassen zu können. Schopenhauer findet Antworten: »Nach meinem Tode bin ich … Alles und Nichts. – Unsterblichkeit kann eine Unzerstörbarkeit ohne Fortdauer genannt werden.« Er gibt für das Begriffspaar die kantische Erklärung, mit einem kleinen Zusatz von Schopenhauer, und entschuldigt den Widerspruch, indem er den sprachkritischen Satz ein wenig verändert und arg verschlechtert: »Aber so geht es, wenn das Transzendente in die immanente Erkenntnis gebracht werden soll; dieser geschieht dabei eine Art Gewalt, indem sie mißbraucht wird zu dem, wozu sie nicht geboren ist.« Es sollte nicht Erkenntnis heißen, sondern Sprache.
- Aus Orient konnte orientalisch gebildet werden, weil oriens vorher zum Substantiv geworden war. Ich kann die Bemerkung nicht unterdrücken, daß deutsche Pedanterie, die transiens mit transeunt wiedergab (weil die Gewohnheit, namentlich des 17. Jahrhunderts, die Form der obliquen casus verlangte), konsequent hätte Oreunt sagen müssen, was die Götter verhütet haben. Übrigens wäre das Grundwort für transcendentialis nicht ein Singular transcendentia (etwa: Transzendenz) gewesen, sondern ein Plural des Neutrums, eben die Begriffe (Einheit, Wahrheit usw.), die noch über die Kategorien hinausgingen.↩
- Ich kann es mir nicht versagen zu notieren, daß Hamann in dieser Rezension, ohne das Ziel des Angriffs zu nennen, von einem dogmatischen Despotismus spricht, »der durch ὑστερα πρωτερα oder, wenn ich mir einen oberdeutschen Zynismus erlauben darf,ärschlings zu Werke geht.« Goethe hatte das kecke Wort, fast 60 Jahre vor der Benützung am Ende des »Faust«, schon im »Pater Brey« zu brauchen gewagt.↩