Warum wir keine Idealisten sind
372.
Warum wir keine Idealisten sind. — Ehemals hatten die Philosophen Furcht vor den Sinnen — haben wir — diese Furcht vielleicht allzusehr verlernt? Wir sind heute allesamt Sensualisten, wir Gegenwärtigen und Zukünftigen in der Philosophie, nicht der Theorie nach, aber der Praxis, der Praktik ... Jene hingegen meinten, durch die Sinne aus ihrer Welt, dem kalten Reiche der „Ideen“, auf ein gefährliches südlicheres Eiland weggelockt zu werden: woselbst, wie sie fürchteten, ihre Philosophen-Tugenden wie Schnee in der Sonne wegschmelzen würden. „Wachs in den Ohren“ war damals beinahe Bedingung des Philosophierens; ein echter Philosoph hörte das Leben nicht mehr, insofern Leben Musik ist, er leugnete die Musik des Lebens, — es ist ein alter Philosophen-Aberglaube, dass alle Musik Sirenen-Musik ist. — Nun möchten wir heute geneigt sein, gerade umgekehrt zu urteilen (was an sich noch eben so falsch sein könnte): nämlich dass die Ideen schlimmere Verführerinnen seien als die Sinne, mit allem ihrem kalten anämischen Anscheine und nicht einmal trotz diesem Anscheine, — sie lebten immer vom „Blute“ des Philosophen, sie zehrten immer seine Sinne aus, ja, wenn man uns glauben will, auch sein „Herz“. Diese alten Philosophen waren herzlos: Philosophieren war immer eine Art Vampyrismus. Fühlt ihr nicht an solchen Gestalten, wie noch der Spinoza’s, etwas tief Änigmatisches und Unheimliches? Seht ihr das Schauspiel nicht, das sich hier abspielt, das beständige Blässer-werden —, die immer idealischer ausgelegte Entsinnlichung? Ahnt ihr nicht im Hintergrunde irgend eine lange verborgene Blutaussaugerin, welche mit den Sinnen ihren Anfang macht und zuletzt Knochen und Geklapper übrig behält, übrig lässt? — ich meine Kategorien, Formeln, Worte (denn, man vergebe mir, das was von Spinoza übrig blieb, amor intellektualis dei, ist ein Geklapper, nichts mehr! was ist amor, was deus, wenn ihnen jeder Tropfen Blut fehlt?...) In summa: aller philosophische Idealismus war bisher Etwas wie Krankheit, wo er nicht, wie im Falle Plato’s, die Vorsicht einer überreichen und gefährlichen Gesundheit, die Furcht vor übermächtigen Sinnen, die Klugheit eines klugen Sokratikers war. — Vielleicht sind wir Modernen nur nicht gesund genug, um Plato’s Idealismus nötig zu haben? Und wir fürchten die Sinne nicht, weil — —