Das Felderlebnis
Wie wir uns sehnsuchtsvoll der Puffärmel und Wachtparaden erinnern, wird man dereinst der Kohlrüben, mild verklärt von historischer Patina, gedenken.
Walter Mehring
Bei einem einsamen toten Meldereiter am Wege fand man einen Zettel mit den Worten des Psalms 91, 7: »Ob Tausend fallen zu Deiner Seite und Zehntausend zu Deiner Rechten, so wird es doch Dich nicht treffen.«
Jeder Schmerz wird vergessen. Das hat der liebe Gott so weise eingerichtet, denn sonst setzten die Menschen keinen Schritt mehr vor den andern aus Angst, sich zu verletzen, die Kranken brächten sich um, und die Frauen kriegten keine Kinder mehr. Schmerzen werden vergessen. So hat die Nation die Scheußlichkeit des Krieges verwunden. Freundliche Lappalien wachsen über diese Regionen der Erinnerung, und die Äußerlichkeiten bleiben: ein Teemädchen in Baranowitschi, die Geschichte mit den zwei Schweinen in Flandern, der verzögerte Feldpostbrief, der Krach mit dem Bataillonsführer wegen des Hanseatenkreuzes – das wird behalten. Aber der Schmerz, der Schmerz ist fast vergessen. Und da nur ein beschränkter Teil aller Erfahrungen vererbt wird (denn wie weise wären wir sonst!), so ist noch gar nicht gesagt, dass nicht die nächste Generation mit frischdämlicher Begeisterung, die Geschäfte der Börsen und der Ämter besorgend, die Knarre wieder auf den Buckel nimmt. Selbstverständlich nur unter der Voraussetzung, dass der einzelne, seiner Kommishaftigkeit entkleidet, als ein Held bewertet wird, wie man ihn in Richard Wagners Musikdramen für seine Parkettkarte verlangen kann.
Unterstützt wird dieser Herdenwahnsinn vor allem durch die Überlieferung der als Krieger kostümierten Kaufleute vergangener Zeit. Die Legende des eben verhandelten Krieges ist schon im Entstehen, und wir können grade noch kontrollieren, wie wir auf die Nachwelt kommen. Der heilige Potemkin lächelt hernieder: wir kommen sauber auf die Nachwelt.
Abgesehen von den Kriegsberichten berufsmäßiger Soldaten, denen ihre republikanische Pension Muße läßt, die Monarchie zu verherrlichen und mit Hilfe des Reichsarchivs Regimentsgeschichten zum Druck zu lassen, deren tiefinnere Verlogenheit nur noch von ihrer Unvollständigkeit übertroffen wird – abgesehen davon haben sich in größerer Zahl die Geistlichen aller Konfessionen mit dem Kriege beschäftigt. Der gemeine Mann wurde weniger gehört. Feldpostbriefe, die den ganzen Jammer des geknebelten Stück Unglücks enthielten, wurden unterdrückt, eine ganze Hurra-Literatur entstand, und Schmerz und menschenunwürdiger Drill gehen mit ihren Trägern zu Grabe. Übrig bleibt eine Propaganda-Literatur für die blutige Oper der nächsten Saison.
Aus dem Wust der widerwärtigen Kombinationen von Christus und Maschinengewehr – Feldprediger sind mir immer wie Messe lesende Huren vorgekommen – ragt eine kleine Schrift: ›Das Felderlebnis‹ hervor. (Ihr Verfasser heißt Siegfried Wegeleben; die Schrift ist als Heft 8 der ›Stimmen aus der deutschen christlichen Studentenbewegung‹ im Furche-Verlag zu Berlin erschienen.)
»Der grundlegende Unterschied zwischen euch und uns«, hat einmal ein Engländer zu einem Deutschen nach dem Kriege gesagt, »war, dass ihr mit dem ›Faust‹ auszogt und wir mit ›T is a long way to Tipperary‹!« Nun muß ich ja sagen, dass auch mir der russische Schützengraben, der dem hocherfreuten deutschen ›Puppchen, du bist mein Augenstern‹ herüberbrüllte, weitaus sympathischer erscheint als die Fülle der Privatdozenten, die sich bemühten, das kriegerische Gemisch von Börse, Ressortstänkerei, einem größenwahnsinnigen kaiserlichen Kommis und unverantwortlichen Ministern mit Nietzsche, Goethe, Konfuzius und dem lieben Gott persönlich in Beziehung zu bringen. Die gereckte Pathetik der Kriegsmetaphysiker ist deshalb so unangenehm, weil man Wort für Wort ihr Pathos durch Gegenüberstellung mit der Realität unmöglich machen kann, ein gutes Kennzeichen für seine Unechtheit. Denn man kann den Homer zwar travestieren – aber ironisieren kann man ihn nicht.
Wegelebens kleines Buch verdient deshalb Beachtung, weil es von einem grundehrlichen und sauberen Menschen geschrieben ist, der dem Krieg tief in die Fratze gesehen hat, der auch in diesen versoffenen Augen noch – welch ein Kunststück! – die Züge Christi erblickt haben will, und der deshalb fesselnd ist, weil er vor dem Fall in den kollektivistischen Wahnsinn seines Milieus sich mit der äußersten Kraft gewehrt hat, zu fallen.
Die plumpe Reklame für die Dreieinigkeit, zu der das Gebet im Schützengraben herhalten mußte, ist ja mit drei Worten zu widerlegen. Eine Frömmigkeit, die nur dann, verstaubt und verrostet, aus der Schublade geholt wird, wenn und weil der Träger im Dreck sitzt, ist keine. Sage mir, zu wem du betest, wenn es dir gut geht, und ich will dir sagen, wie fromm du bist. Not lehrt beten; aber das echte Gebet ist das nicht. Das geht auch aus den ein wenig von der experimentalpsychologischen Schule verbogenen Ausführungen Wegelebens hervor. »Zu den fundamentalen Mißverständnissen der religiös-sittlichen Wirkungen des Weltkrieges gehört es, im Krieg als solchem ein religiös befruchtendes oder lebenweckendes Initiationsprinzip zu erblicken … Das lebendige persönliche Christentum unsres Alltags bedarf solcher Stützen nicht.« Er lehnt jedes Schützengrabengebet ganz und gar ab. »Vor dem Winseln um Gnade unter den einschlagenden Geschossen haben Menschen von dem seelischen Adel eines Walter Flex stets gesunden Ekel empfunden. Gott selbst spielte hierbei übrigens als numinoses Objekt eine rein zufällige Rolle; wenn unsre religiöse Volkstradition etwa in der Anbetung von Fetischen festgelegt gewesen wäre, so hätte man sich eben an diese mit derselben Inbrunst gewandt.« Wenn dann allerdings der Verfasser hinzufügt, das Verstummen des Fluchens im Trommelfeuer sei ein Beweis für die Macht des Gewissens, so muß das als ein Rückfall in den psychischen Fetischismus bezeichnet und bestritten werden. Aber es bleibt doch allerhand Mutiges zurück. Es gehört für einen Mann von der Überzeugung Wegelebens viel dazu, festzustellen, dass man an dem »guten Willen des Soldaten durch das System einen psychologisch unverantwortlichen Raubbau getrieben« habe, und dass draußen keine Freien gefochten hätten, sondern Leibeigene. »Vor Menschen können wir hier nur ein todernstes ›Ich klage an‹ aussprechen.« Es gehört viel dazu, wenn ein solcher Mann die ekelhafte Dolchstoßlegende zurückweist, und wenn er Vergiftungsherde gar nicht in der Etappe, sondern unter den felderprobten Kriegern sucht. Es gehört viel dazu, wenn sogar er den gradezu tierischen Fatalismus der letzten Kriegsjahre nicht als ›Ruhe‹, nicht als ethische Qualität bewundert, sondern ihn gut deutsch als das charakterisiert, was er ist: als Stumpfsinn. Es gehört viel dazu, wenn er den Zeitfreiwilligen und den Reichswehrangehörigen (trotz den Schlachten in München und im Ruhr-Revier) das Felderlebnis überhaupt abspricht – das ist für einen deutschen Christen alles Mögliche.
Bleibt die völlige Verkennung des Felderlebnisses. Die Unfähigkeit, äußerliche Synthesen zu analysieren, die Schwäche, da zu glauben, wo man kritisieren sollte (denn stark und würdig allein ist es, nach der Kritik zu glauben, nicht vorher), die kindliche Gläubigkeit, Metaphysik aus den Händen eines Bezirkskommandos entgegenzunehmen: all das ist preußische Philosophie. Nach diesen Schlachtfeldern, nach diesen Ackergräben, angefüllt mit aufgeweicht vermodernden Uniforminhalten, die einmal Menschen gewesen, nach dieser mechanistischen Schweinerei von der ›Herrlichkeit des Geschauten‹, von einem ›naturhaften Geschehen‹ zu sprechen: dazu gehört die ganze Naivität eines wohlerzogenen Staatsbürgers. Der sieht nicht, dass ein ursprünglicher zweckhafter Organismus wie das Heer sehr schnell zum Selbstzweck wurde, und wenn selbst er feststellt: »Im Schützengraben draußen ist die politische Schuldfrage des Krieges vielfach uninteressant geworden«, so liegt darin das Bekenntnis für die vollkommene Sinnlosigkeit eines Kampfes, der eben nur noch deshalb geführt wurde, weil man ihn einmal führte. (»Zum Donnerwetter, Posten, warum schießen Sie?« – »Weil Krieg ist, Herr Leutnant!«) Manchmal klopft mahnend die Bibel an das Tor; aber der Verfasser weist sie auf die Kriegsartikel. Er fühlt die Widersprüche. Er will sie auch nicht oberflächlich oder sophistisch lösen: er fühlt, wie er eine Antwort auf die Frage zu geben hat, ob ein Frommer einen Menschen töten dürfe. Er seufzt über diese Fragen … »Sie lösen sich nur dem Christen als Gewißheit der persönlichen Führung in der Schule des erhöhten Herrn.« Wenn Christus je gelächelt hat, was Chesterton verneint: hier hätte er es vielleicht getan.
Der induzierte Altruismus: »Sie opferten Jugend und Lebensglück, sie kehren nie wieder zur Heimat zurück – Für uns« ist die Wahnvorstellung eines Phantasten im Zeitalter des allgemeinen Wehrzwangs, und grade einem gläubigen Christen müßte bekannt sein, dass von Jesus bis Kant eine sittliche Tat niemals durch Druck und Gesetz hervorgerufen werden kann. ›Für uns?‹ Der Mann ist eingezogen worden und hat seinen Dienst getan. Fertig. Und was die Kriegsfreiwilligen im Felde suchten und fanden, war in den meisten Fällen alles andre als die Betätigung eines Altruismus, den sie besser zur Kriegsverhinderung ins Werk gesetzt hätten.
Kann ein Christ den Krieg bejahen? Einmal hat dieser seine Tragik gestreift, aber nicht verstanden. »Manchem, der mit kühler Stirn tausendmal den Tod aus heißem Lauf entsandt hatte … « Das ist es: der Lauf war heiß, aber die Stirn war kühl. Diese Abschiebung der Verantwortung auf die Maschine, dieser Kampf der Instrumente, diese technische Hölle war das tiefste Unglück für eine Generation, die, zu feige, selbst einen Menschen zu töten, Tod und Verderben durch Maschinen spie. Aber sie standen dahinter, und sie trifft die Verantwortung.
Die Maschine rächte sich, denn Blut bleibt Blut, und wenn Wegeleben im Bordellwesen der Etappe entfesselte, aufgestachelte, tierische Instinkte sieht, so hätte er sich fragen sollen, woher sie kamen. Sie kamen von der Front. Wie er es mit dieser Weltlatrine voll Blut, Kriegsanleihen, Stacheldraht und Haßgesängen vereinbaren kann, zu glauben, »dass Christus wirklich über die Schlachtfelder und durch die Gräben geschritten ist«, das bleibt sein Geheimnis.
Pathos ist Distanz. Wird die Distanz aber zu groß, dann entsteht jene verblasene, hohle Pathetik, die sich unter protestantischem Himmel ganz besonders schlecht ausnimmt. Kein Gott der Welt schafft diese Wahrheit aus den Bezirken der Erde: »Wahres Christentum ist Pazifismus«. Der Rest ist Rabulistik und vom Staat bezahlte Professorenphilosophie.
Und es hat mir weh getan, in einem so ehrlichen, noch in den Irrtümern ehrlichen Buche nicht die vollkommene Ablehnung des Geistes von 1914 zu finden, den die geistige Impotenz des Herrn Hindenburg gefordert hat. Der Verfasser gibt zu: »Im allgemeinen ist er in jeder Beziehung überschätzt worden.« Überschätzt? Dieser Gassenwahnsinn war Symptom und Ursache zugleich, und kein geistiger Minimaxlöscher ist kräftig genug, um das Haus vor einer abermaligen Brandkatastrophe zu schützen.
»O Ihr kleinen Menschen, die Ihr über Schuld und Urheber, über Verlauf und Wesen jenes Krieges streitet … Ihr habt kein Vertrauen und wollt enträtseln, wo Ihr vor den Pforten der Unendlichkeit steht!« Ja, wir wollen fragen. Wir wollen uns nicht mit der Behauptung eines Naturereignisses zufrieden geben, und wenn wir in die Gesichtsflächen des Kadetten Ludendorff und des Kanzleisekretärs Michaelis sehen, von Wilhelm zu schweigen, dann erscheint uns die Nomenklatur ›kosmisches Ereignis‹ einigermaßen barock. Wir wollen fragen, fragen, bis wir die Unsinnigkeit dieses Massenmordes dadurch erwiesen haben, dass man uns nicht mehr antwortet, sondern uns verachtet, verhaftet, einsperrt und – du christlicher Staat! – tötet.
Es wird die Zeit kommen, wo man pathoslos und sachlich einsehen wird, dass es klüger und ökonomischer ist, keine Kriege zu führen. Dann wird eine Bilanz das tun, was die Feldprediger nicht gekonnt haben: sie wird, im Ergebnis, den großen Heiligen zu ihrem Recht verhelfen.
Ignaz Wrobel
Die Weltbühne, 17.08.1922, Nr. 33, S. 155.