Hausmusik
»Oh! ce piano, ce cher piano.
Qui jamais, jamais ne s'arrête.
Oh! ce piano qui geint là-haut
Et qui s'entête sur ma tête!«
Wenn sich die Trauer über eine nicht zustande gekommene Verlobung oder die Enttäuschung über eine zustande gekommene Ehe in die Musik flüchten –: das ist eine rechte Plage für die Umwelt. Hören Sie genau hin: durch ganz Europa, deutlich vernehmbar in den Ausrufen der Devisenhändler auf den Börsen und in den Krachen der Politik in den Parlamenten, hallt das Schreien der Gesangmädchen und der Klavierjungfrauen. Wer ein Piano hat, der läßt es fröhlich erschallen, und er tut es wenig, aber oft – und dann viel.
Es gibt mancherlei Spezies.
Da ist der »übende Künstler« – sein langjähriges Toben auf dem wehrlosen Klavier lockert zwar nicht seine Finger, wohl aber die Tasten des unglücklichen Instruments und die Schrauben im Kopfe des Zuhörers. Welch eine Plage! Fliegen jagt man weg – für Musiker wird Entree bezahlt.
Da ist das Familienmitglied, das die Schlager der Saison spielt – oh, käme der Komponist dieser Volkslieder in die Hölle und spielte ihm dort ein tausendstimmiges Orchester seinen Kram tausend Jahre hindurch vor! Das walte Gott.
Da ist die junge Dame aus gutem Hause, die in die Lüfte singt, dass alle Milch in der Umgegend sauer wird. Laßt uns lauschen.
»Ich heiße zwar nur Käthchen Schmidt«, sagt die Stimme der Sängerin. »Aber jetzt, im Augenblick habe Ich alle Bande frommer Scheu gelöst und wiege mich auf den Flügeln des Gesanges. Mir ist alles gleich – ich träume und denke an gar nichts und ein bißchen an Otto. Schade, dass er das nicht hören kann, wie ich hier singe. Und wie schön hoch ich singen kann und wie laut –! Es ist eben so übel nicht – ich hätte doch sollen zur Operette gehen! Das ist eine hübsche Passage – die wollen wir doch gleich noch einmal singen! Man beachte die perlende Leichtigkeit, mit der ich das alles hinlege! Wie ein Vögelchen … !«
Wie eine Ente. Meist singen sie so, wie ein bösartiger Parodist sänge, der sie kopieren wollte. Das kann doch nicht ihr Ernst sein? Es ist ihr Ernst. Wieviel Eitelkeit, wieviel Verlogenheit, wieviel falsches Selbstbewußtsein ist in diesem Gesang!
Ich weiß schon: »Die Pflege der Hausmusik ist ein Haupterfordernis … « Nein, solche nicht. Was soll das, wenn Menschen, die offenbar nichts Besseres zu tun haben, hundert- und hundertmal dieselbe Arie, dasselbe Lied zu singen anheben, ohne dass sie dadurch musikalischer würden? Wem ist damit gedient?
Uns nicht. Die Gedanken in Ihrem Kopf werden einzeln in Stücke zerschlagen – Sie können nicht mehr überlegen – ob Sie wollen oder nicht – Sie müssen alles im Takt des dummen kleinen Liedes denken, das da unten geheult wird … Großer Gott! hören Sie?
Sie stoßen auf den Boden, Sie schlagen an die Decke, Sie schließen das Fenster, Sie schütteln die amusische Faust … Es hilft nichts. Jener ist im siebenten Himmel – – Oh, wäre ers!
Und wenn Sie diese Musik hören – es gibt zweierlei, aber diese da ist die falsche, und zu ihr gehört immer einer mehr, als jeder denkt –, dann fällt Ihnen vielleicht ein kleiner Spruch ein, den Sie einstmals mit Schmunzeln irgendwo gelesen haben:
Zwei Mädchen saßen am Klavier.
Da sagt die eine: »Denke dir,
was ich nicht alles spielen kann!«
Die andre nahm sich einen Mann.
Peter Panter
Neues Wiener Journal, 19.03.1923.