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Allotria

In der grauenhaften Schulklasse Deutschland ist der unartige Schüler Hans Reimann noch einer der amüsantesten. Er macht wenigstens Unfug. Aber dafür wird er auch nie versetzt werden.

Schläfrige Hitze brütet über dem Klassenraum. Vorn sitzt ein Pauker im schwarzen Rock, der sich ernst nimmt, weil er ernst genommen wird, er füllt seinen Stuhl, seinen Posten, seine Beinkleider gewichtig aus. Manchmal bohrt er in der Nase. Er doziert irgendetwas, was keinen Menschen interessiert, was aber im Lehrplan steht. Seine ethischen Anschauungen sehen aus wie die Linsen in seinem Bart: von gestern. Wird er lyrisch, so stellt man sich seine Füße in den Gummizugstiefeln vor. Die Klasse döst.

Und unter diesen Jungens, die diesen Namen gar nicht verdienen, die nur deshalb noch keine Telegrafenbauobersekretäre sind, weil ihnen die paar Jahre zum Anstellungsalter fehlen – unter diesem Haufen von Beamtenseelenablegern sitzt, natürlich auf der letzten Bank, in einer Ecke, der Schüler Hans Reimann und schnitzt mit seinem guten Weihnachtsmesser die Gesichter und Fratzen von Mitschülern und Lehrern, vom Pedell und vom Direktor, vom Schulrat und vom Turnwart in die königlich republikanischen Bänke, Wollen Sie das sehen? Dann lesen Sie ›Von Karl May bis Max Pallenberg in 60 Minuten‹ (bei Kurt Wolff in München erschienen).

Das außerordentliche Einfühlungsvermögen Reimanns in fremde Stile befähigt ihn, sogar einen so diffizilen Stil wie den Meyrinks nachzuahmen. Wie gut ist das alles beobachtet: diese merkwürdige Art, die direkte Rede vorangehen zu lassen – »›Du träumst in Träumen‹, fährt es mir plötzlich durch die Nerven« –; die magisch-trommelnde Wiederholung alliterierender Worte; die langen Sätze mit dem unterirdisch klopfenden Rhythmus. Das finde ich fast noch feiner und besser als jene bekannten Parodien, über die man natürlich lauter lachen muß.

Da ist Ewers, der eigentlich nicht mehr zu schreiben brauchte, weil Reimann das viel schöner kann als er; der sanfte Bonsels mit den Unterbeinkleidern aus Sehnsucht und Flanell; die sanfte Prellwitz (dito, nur aus Flanell); Sternheim, dem die Grammatik zum Hals heraushängt; der klirrende leere Becher; Alice Berend, die ebenso spießig ist wie die Männlein und Weiblein, über die sie sich lustig zu machen vorgibt. Und ein paar ganz ausgezeichnete Parodien von Jan Altenburg, der an dem Büchlein mitgearbeitet hat – die Leser der ›Weltbühne‹ werden sich an die kleine Serie erinnern, wie Jan Altenburg kommandierte, und wie sie alle gehorchten: »Auburtin, sehnen Sie sich mal!«, und er sehnte sich; »Theodor Wolff! Seien Sie mal gepflegt!«, und er war gepflegt und rührte an alles, ohne anzustoßen; und: »Achtung! Stillgestann! Kronprinz Wilhelm!« – Sah ein Knab ein Rosner blühen –! Und auch Mehrings Form ist kopiert, allerdings nicht Mehrings Feuer.

Was aber den Schüler Reimann anbetrifft, so hat er sich im Falle Karl May, Hedwig Fourths-Malheur und für die Nachahmung eines Schmocks etwas zurechtgemacht, was es vor ein paar Jahren noch nicht gegeben hat. Ich glaube nicht, dass unsre Eltern darüber gelacht hätten – schließlich wandelt sich ja der Begriff des Humors erheblich. Es ist ein Gemisch von Wortwitzen, falsch angewandten Bildern, Stilvermengungen, Verrenkungen und einem Pallawatsch, der denn doch in seiner Gesamtheit die Objekte der Kritik völlig erledigt. Ein typisches Beispiel findet sich in der kleinen Courths-Mahler-Parodie und heißt so:

»Da erklang eine sonore Stimme, und Freiherr von Sonnenschein, Adas Papa, stand in eigner Person zwischen dem schönen, aber ungleichen Pärchen, welches wie von der Tarantel gebissen, mit vor Verlegenheit gepeinigten Nerven das Weite suchte, um dasselbe geringschätzig zu mustern, dem der auf Seide gearbeitete Frack, welcher sich unter einem batistseidenen Hemd wölbte, direkt himmlisch zu Gesicht stand, um dasselbe in seine ihm von der Natur auferlegten Schranken zurückzuweisen, das Meer erglänzte weit hinaus.«

Diesen letzten, im Zusammenhang völlig sinnlosen Satz gibt es einfach ›zu‹. Es ist schon ganz egal – weil wir grade bei der Lyrik sind und bei der poetischen Erhabenheit, da lassen wirs schon erglänzen. In der sonst ausgezeichneten Parodie Roda Rodas auf die Eschstruth – vor langen Jahren erschienen – hätte so etwas noch nicht stehen können: da war alles viel logischer, sinnfälliger und letzten Endes viel liebenswürdiger. Dies hier liegt schon bedenklich nahe bei Grosz.

Ganz gelungen ist ihm dieser Stilmischmasch in der ersten Indianergeschichte, die man nicht trocknen Auges durchackert. Sie ist hinreißend komisch: von eben jener Komik, die spielerisch mit den Dingen umherhüpft. Er ist ein klein wenig esoterisch, dieser Humor – er sagt immer: Du weißt doch schon! Wie? Du weißt nicht? Ja, dann gehörst du nicht zu uns, und dann ist dir nicht zu helfen, (So hat sich, zum Beispiel, der Flechtheim-Kreis im ›Querschnitt‹ so einen Privat-Humor geschaffen. Aber besser so einer als keiner oder gar als der privilegierte reichsdeutsche.)

Ja, es ist eine artige Literaturgeschichte, die der Schüler Reimann da in die Bänke geschnitzt hat.

Draußen, auf dem Hof, üben die Freikorps in Gruppenkolonnen: »Rumpf vorwärts – beu – eugt!« Und die Zugführer wissen es so einzurichten, dass sich alle die strammen Kehrseiten grade vor dem Fenster des Schuldirektors Ebert tief verbeugen. Und der sieht, krampfhaft geschmeichelt, aus dem Fenster, lüpft den stets bereit gehaltenen Zylinder und spricht: »Das deutsche Volk … Stammesbrüderschaft … treues Zusammenhalten … die Repub … lik!« Und alle Kehrseiten verbeugen sich.

Reimann aber sitzt in der Ecke und grinst und schnitzt. (Mich hat er auch hingemalt.) Und ich gucke ihn an und muß lachen und werde gleich eine Stunde Arrest bekommen und mag das ganze Klassenzimmer schon nicht mehr sehen. Und ein tiefer Wunsch ist in mir, ein »Sichnachaußendrängen«, wie Prellwitz sagen würde, und gleich hebe ich den Finger, ich Eingesperrter in der Schulklasse Deutschland, und sage ein Wort, das Wort meines jämmerlichen Lebens:

»Herr Lehrer! Ich möchte mal hinausgehen!«

Peter Panter
Die Weltbühne, 19.07.1923, Nr. 29, S. 65.