Jakob Wassermann und sein Werk
»Es ist wahr«, erwiderte Angelus,
»ohne zu sehen, bist du gegangen,
ohne zu wissen, hast du gehandelt,
keinem hast du vertrauen dürfen.«
›Renate Fuchs‹
Die Frau Jakob Wassermanns, Julie Wassermann-Speyer, hat ein kleines Buch über ihren Mann geschrieben, das den Titel trägt: ›Jakob Wassermann und sein Werk‹ (und im Deutsch-Österreichischen Verlag zu Wien erschienen ist).
Schopenhauer hat einmal gesagt, man solle jedem Buch das Bildnis des Verfassers voransetzen, und es ist ja auch wahr, dass uns bei großen Männern das Menschliche ungeheuer nahegeht: wie sieht er aus, wie sah er als Kind aus, wie wohnt er, wo lebt er, was tut er am Tage? Das beste an diesem Buch ist sein erstes Kapitel: das Leben Wassermanns.
Der kleine Abschnitt, der mit ein paar schönen Jugendbildern versehen ist, bestätigt, was die Bücher längst ausgesagt haben: Wie hat sich dieser Mensch gequält! Gequält mit sich, mit der Umgebung, mit dem Schicksal, mit Hunger, Kälte und Arbeitslosigkeit, mit dem Unvermögen, sich in die rohe Welt des platten Geldverdienens hineinzufinden und in die verlogene der unordentlichen Bürger mit der Samtjacke oder der Hornbrille – Qual und Unschlüssigkeit, Verzweiflung und Selbsthaß, Verlorenheit innen und Hohn außen. Der Lebensabriß hat etwas Erschütterndes.
Schichtweise hat sich das in den Büchern abgelagert; es wäre törichte Philologie, dem im einzelnen nachzuspüren – man fühlt so oft den eigenen Herzschlag dessen, der es schrieb.
Die seltsame Blutmischung, die in Wassermann lebt, hat sein Schicksal sicherlich beeinflußt: von Franken nach Wien, zwischen den beiden Nationen lebend und keiner gehörig, Deutscher und Jude, lebte er schutzlos, ohne Hülle, jedem Nadelstich und jedem Hammerschlag doppelt preisgegeben. Und setzt sich nach Irrfahrten, Enttäuschungen, verlorenen Schlachten und entsetzlichen Hungerjahren in Österreich fest.
»Es geht nicht ums Können, Daniel Nothafft, es geht ums Sein«, heißt es an der entscheidenden Stelle im ›Gänsemännchen‹. Was Wassermanns Frau der Lebensgeschichte noch an literarischen Betrachtungen anfügt, ist nicht sehr wesentlich. So unwesentlich wie alle ästhetischen Untersuchungen seines Werkes. Zweifellos ist die himmlisch unfertige ›Renate Fuchs‹ ein besseres Buch als der blendend gemachte ›Christian Wahnschaffe‹, es gibt Fehlschläge, leere Seiten, Dinge in seinem Werk, die man nicht mag. Aber er gehört mit dazu. Er ist ein Stück unsres Lebens.
Man hat ihm vorgeworfen, dass er, der Jude, deutscher sei als die Deutschen – sicher ist, dass er der deutschen Seele zu einem Ausdruck ihrer selbst verholfen hat, und dass er so weit fort ist von dem Deutschtum dieser Tage. Wie die dunkle Landschaft unter seinen Händen zu singen anfängt –! Wie Musik, Wälder, Maschinen, Bauernwirtschaft und steinerne Straßen aussagen, was sie sind, was sie ihm sind, und was sie uns sind –! Er hat das Unsagbare gesagt, er ist das, was der Franzose ›bourdon‹ nennt, die tiefe, große Kirchenglocke.
Der ungeheure Fleiß dieses Mannes ist es nicht allein, der einen mit Respekt erfüllt (obgleich das heute, als eine Ausnahme, angemerkt zu werden verdient). Ich habe einmal die Geschichten aus den ›Schwestern‹ mit dem ›Neuen Pitaval‹ verglichen, dem der Stoff teilweise entnommen ist: welche Feinheit in der Verkürzung, welche unmerkliche Umgruppierung der Geschehnisse, Personen und Verknüpfungen – es ist alles geblieben, und doch anders, doch geheimnisvoller, tiefer, menschlicher. Wie er nun gar das ungeheure Material des ›Caspar Hauser‹ gemeistert hat, ist ein Rätsel, ein Wunder schon in der Bewältigung des quantitativen Stoffs. (Man weiß vielleicht, dass die Literatur über das aenigma sui temporis heute noch nicht eingeschlafen ist.) Durchtränkt von der Melodie, sehen wir seine Welt auf Schritt und Tritt. Man muß nur die Augen aufmachen. Einmal war er mir ganz nahe. Ich kam an einem Uhrmacherladen vorbei, draußen hatte der Inhaber seine Uhr aufgehängt, und statt der Zahlen hatte er die Buchstaben seines Namens um das Zifferblatt herumgeschrieben; es waren genau zwölf, es ging grade auf. Der Mann hieß: JOHANNESQUAL.
Und wie alle Bitterkeit im Schaffen aufgelöst ist, wie kein häßlicher Bodensatz zurückgeblieben ist in ihm! Die Frau spricht von seinen ersten Anfängen; Wassermann war damals, um sich ein paar Groschen zu verdienen, Sekretär bei Ernst von Wolzogen. So spricht er über ihn: »Es war der erste Mensch, der mich ermunterte, der erste überhaupt, der mich als Dichter uneingeschränkt ernst nahm, und das bedeutete für mich so viel wie Rettung und Erlösung.« Seitdem ist viel Blut die Marne heruntergeflossen, und bei Wolzogen liest mans in den Lebenserinnerungen, mit denen sich meines Wissens Westermann besudelt hat, ungefähr so: »Ein kleiner schiefer Jude suchte mich damals viel auf – meine Frau öffnete immer das Fenster, wenn er gegangen war: es war Jakob Wassermann.«
Werk ist auf Werk gefolgt, unbeirrbar, unerschütterlich, mag der Wert hier und da geschwankt haben, hügelauf und hügelan ist der Mann sich gleich geblieben. Der letzte große Wurf war: ›Golowin‹, die Novelle aus dem ›Wendekreis‹, mit dem unsterblich schönen und tiefen Nachtgespräch zwischen der russischen Frau und dem revolutionären Matrosen, in dessen Verlauf der Satz steht: »Haben – welch ein häßliches Wort! Was heißt denn haben, wenn nicht gegeben wird!«
Es ist kein Wunder, dass in diesen Büchern der Traum eine so große Rolle spielt. Ich mißtraue dem literarischen Traum – in der Traumschilderung ist der Dichter unkontrollierbar, entzieht sich der Wertung und schlüpft immer hinter die Ausrede: es war ein Traum. Bei Wassermann ist Leben und Schlaf gleich traumhaft, die Grenzen sind dünnwandig, traumhaft der Rhythmus dieses einzigen Stils, von so viel Vätern befruchtet geht es immer wieder zum Vater hin. Es ist gut, wie in dem Büchlein die Vaterschaft Wassermanns herausgearbeitet ist – neben dem ›Michael Kramer‹ ist er fast der einzige, der abseits der weiten Mutter-Poesie den Vater fast schmerzlich betrachtet: den, ders gemacht hat, den, der dabei steht, dem es aus der Hand wächst, der so gern umarmen möchte und Scheu hat vor Werk und Sohn.
Er ist am Licht. Aber zu denken, dass Hunderte und Hunderte von Wassermanns sich im Dunkel quälen, sich mühen, untergehen, weil es nicht langt, oder weil sie nicht den glücklichen Zufall treffen, also weil ihr Schicksal es nicht will, weil sie keine Marktware sind, und weil ja Kunst wirklich etwas Überflüssiges, Störendes und Sinnloses bedeutet … Ich wundere mich über jeden, der noch nicht verhungert ist. Denn der ›große Krumme‹, gegen den die Wassermanns heute angehen, der, der auch gegen sie angeht, hat kaum noch romantische Züge. Der Fette aus der ›Ulrike Woytich‹, der mit der entzückenden, aufgeschwemmten Kunstgewerbewohnung, ist der letzte romantische Typus für lange Zeit. Nach ihm kommt der Gleichgültige, der Tüchtige, der, der seinen Frieden mit der Welt gemacht hat – der ›es nicht so schlimm findet‹. Man ist vernünftig geworden. In der Ecke krepieren unterdes Träumer und Selbstquäler, Verzweifelnde und Verzweifelte. Wer Jakob Wassermanns in Liebe und Respekt gedenkt, mag einen ehrfurchtsvollen Gruß ins Dunkel senden.
Peter Panter
Die Weltbühne, 18.09.1924, Nr. 38, S. 430.