Die Fratellinis
»Je sais combien Les Fratellini aiment Molière, et j'ai souvent pensé que Molière eût aimé Les Fratellini.«
(Eine Dame im Goldenen Buch der drei Clowns Fratellini)
Täterätä –! macht die Bumskapelle im Zirkus Médrano zu Paris. Ein merkwürdiges Rauschen geht durch das Publikum, die Leute setzen sich auf den Sitzen zurecht, die Mienen sind froher, gespannter … Alle Hälse werden länger. Durch welchen Eingang kommen sie?
Hallo! Der ganze Zirkus steht auf dem Kopf und prasselt und knallt im Beifall. Da ist er.
Durch das Loch in der Manege kommt François Fratellini, der eine von den dreien, die das Entzücken von Paris ausmachen. Kalkweiß im Gesicht, im klassischen Paillettekostüm des traditionellen Clowns, mit seidenen, roten Strümpfen, goldenen Halbschuhen, sehr leicht, sehr graziös und bezaubernd liebenswürdig. Laute Unterhaltung mit dem Stallmeister, durch Ohrfeigen beendet. Nach den Ohrfeigen: er, Fratellini, hat Löwen dahinten im Zirkus, aber keinen Wärter. Ob der Stallmeister nicht einen wüßte? Der Stallmeister weiß auch keinen. Ja, da ist guter Rat teuer …
Da kommt – par hasard, zufällig, durch Gottes gnädige Fügung – ein seltsam Paar dahergewandelt. Erst ein älterer Herr, der aussieht wie ein dicker Amerikaner auf Urlaub, in einem etwas schäbigen Frack, schwarzem Zylinder und – auf alle Fälle – mit einem riesigen schweren Gummiknüttel. Man kann nie wissen. Hinter ihm – nein, das hat die Welt noch nicht gesehen – ein Kerl, der in seinen Hosen ersauft, mit Ungeheuern, schwappenden Schuhen, einem schwarzen Mund von einem Ohr bis zum andern, einer Nase wie ein Klingelknopf und hochgeschminkten Augenbrauen, die unmittelbar unter vielen wilden Haaren sitzen, und Wadenstrümpfen … Das Näschen ist rot, wie es sich gehört, der Rest des Gesichts weiß und bunt ausgemalt. Er hat auch ein kleines Hütchen auf einem spitzen Kegelschädel, und im ganzen ist er etwas schüchtern … François guckt auf. Der Stallmeister auch. Ob die Herren vielleicht … ?
Kurzes Palaver. Der Altere stellt sich vor. Das Ding da (dem übrigens kurze Borsten auf den Beinen wachsen), das Ding da ist sein Sohn. Und, voller Rührung über seine eigene Schöpfung, in breitestem Clownsdialekt: »Embrasse Peppa –!« Geschieht. (Geschieht noch oft.) Der Liebenswürdige setzt dem Alten die Sache auseinander. Das paßt großartig – der hat keine Arbeit und erkundigt sich, ob es bezahlt wird. Es wird bezahlt, und ob! Gut, dann soll es der Sohn machen. Der Sohn soll zu den Löwen hineingehen und seins arbeiten. Der Sohn steht dabei wie ein alter Nachttisch und weiß nicht, wo Gott wohnt. Der Alte sieht ihn lieb an, gibt ihm einen zärtlichen Rippenstoß und macht ihm seine Pflichten klar. »Hast du Angst?« – Nein, Angst hat das Ding nicht. Nur die Knie schlottern ihm ein bißchen, aber das kann ja wohl von der Zugluft sein. Na dann: »Embrasse Peppa –!« Der Handel soll gerade abgeschlossen werden, da speit das doppeltgeöffnete Tor zwei Zirkusdiener mit einer Bahre hervor. Auf der Bahre, unter Tüchern, liegt etwas. Tiefes Schweigen. François nimmt den Hut ab. Der Stallmeister macht ein ernstes Gesicht. Der Amerikaner sieht der Bahre nach, die durch das andere Tor verschwindet. »Was … was war das?« fragt der Alte. »Das ist der Löwenbändiger von heute!« sagt der Stallmeister. Allmächtiger! Der Alte wundert sich, und das Ding …
Sein Hütchen wackelt, die Knie tanzen, und das ganze Jammergestell bricht in ein furchtbares Geschrei aus. Nein! Er will nicht zu den Löwen! Er will nicht aufgefressen werden! Aahh! – Der Alte, beutelüstern, redet erregt auf ihn ein, François schreit, der Stallmeister beruhigt … Dem zukünftigen Bändiger werden Waffen gebracht, eben was man so im Löwenkäfig gebraucht: eine Heugabel, ein Reitersäbel und eine alte Trichterpistole. Der Sohn versucht, ob man darauf pfeifen kann. Man kann. Es gibt einen schönen Ton. Da nahen wiederum zwei Zirkusdiener, wiederum mit einer Bahre, wieder mit einem leider etwas ramponierten Bändiger. Nun ist der Teufel los … Und schließlich geht der Sohn, nachdem er Peppa embrassiert hat, denn doch in den Käfig, und man hört einen furchtbaren Knall, und er scheint schon zerrissen, und dann kommt er an, mit einem Torso an Garderobe, vielen Löchern mit etwas Hose drum herum – aber der Leib, der Leib ist gerettet! Und dann kommt noch eine Bahre und ein Löwe und Krach, Geschrei und Flucht …
Und die Leute freuen sich! In Paris wird das Publikum, bei aller Naivität der kleinen Leute in den kleinen Theatern, niemals so warm wie bei uns ein ausverkauftes Haus, wenn etwa auf der Premiere zum erstenmal Guido Thielscher auf der Bühne erscheint. Diese rauschende Bewegung, diese Wärme, dieser Herzschlag von Tausenden – das habe ich hier nur zweimal erlebt. Einmal bei Sascha Guitry – und dann bei den Fratellinis.
Die Fratellinis sind drei Söhne eines Italieners, der sich, wie Breitensträter, seine ersten Zirkuserfolge in einem Kriegsgefangenenlager holte, im Jahre 1860. Seine Söhne sind der Nationalität nach Italiener, haben aber Italien noch nie gesehen. Paul, der Amerikaner, ist auf Sizilien geboren, François in Paris, Albert (das Ding) in Moskau. Sie arbeiten in sechs Sprachen, wenns sein muß: Französisch, Englisch, Spanisch, Russisch, Italienisch und Deutsch. Deutsch – denn sie haben vier Jahre vor dem Kriege bei uns in Berlin im Zirkus Busch gearbeitet. Sie kennen Hamburg und Wien – in Berlin hat François am Hackeschen Markt gewohnt, und dass da noch keine Tafel angebracht ist, liegt sicherlich nur an den Zeitumständen. Es sind alles drei richtige Zirkusleute: von klein auf haben sie in der Manege gearbeitet, und sie können alles.
Es sind Clowns eines eigenen Stils. Man darf nicht an den englischen Clown oder an die amerikanische Niggerkomik denken – es ist etwas ganz anderes. Besonders François erinnert sehr an Watteau, an einen Pierrot der alten Schule – auch sprechen sie (was ja der große englische Clown kaum tut), sie führen kleine Szenen auf, es ist der Anfang jeder Theaterkunst, die Hanswurstszene auf dem Jahrmarkt. Nur schließt sie anders, als es der Pickelhering tat. Die Fratellinis sind nämlich ausgezeichnete Musikanten. Jedes Auftreten endet damit, dass François reizend Geige spielt, der Alte dazu die Konzertharmonika und – aus dem Dunkel auftauchend – Albert, das Ding, mit einer Jazzbandflöte, die er parodistisch mißhandelt und genauso spielt, wie er selber ist: aus ihr wird ein Gemisch von Rührung und Komik. Man muß über ihn lachen und möchte ihn immerzu streicheln … Und während der Zirkus tobt, verschwinden die drei.
Man weiß, wie schwer es ist (nicht in der Politik, sondern im Zirkus), den dummen August zu markieren. Wieviel Kunst, wieviel körperliche Geschicklichkeit, wieviel Menschenkenntnis steckt in diesen kleinen Szenen, wenn sie gut sind! Der Vater des dummen August ist bekanntlich (bekanntlich ist, wenn man es aus einem Buch abgeschrieben hat) Tom Belling, der im Jahre 1864 in Berlin – ich glaube, es war bei Renz – eines Abends stolperte, sich die Jacke zerriß und ironischen Beifall bekam, den er sich merkte. Und er blieb in dieser Rolle des Unglücksraben. Aber was haben die Fratellinis aus diesen Rollen herausgeholt! Der Alte, ewig freundlich-gleichmütig, der ruhende Pol in der Erscheinungen Ohrfeigenschlacht. Das Ding, rührend, hilflos, die zweite Stimme, die sich selbständig gemacht hat. Einmal blies er eine große Trompete, und als die andern schon längst aufgehört hatten, rummelte er immer noch weiter, man hörte nur: Wumta – wumta wumta – es war nicht schön, aber er hatte es doch so gelernt! Ein Stück Unglück, dem Wasser zum Kopfe herausspritzt, dem böse Menschen Bogenpfeile in die Kehrseite schießen, der aber auch, als Salome aufgemacht, in seidenen Höschen seinen Mann steht … Und François Pierrot, graziös, leicht wie eine Feder und das Entzücken der Kinder. Woher ich das weiß –?
Die Fratellinis sind in Paris um ihrer Wohltätigkeit willen bekannt. Noch dieser Tage haben sie – natürlich umsonst – in einem Pariser Kinderkrankenhaus gearbeitet, sie haben an den Krankenbetten von armen Kindern gedudelt, sie haben Tausende von Kleinen glücklich gemacht. Wer Kindern nicht gefällt, ist kein guter Clown … Da frage man nur bei Chaplin an. Einmal haben sie auch – als bisher einzige Clowns – in der geheiligten Comédie Française das Entree gespielt, auf einer großen Soirée. »Wir und Paderewski«, sagen sie, »haben den größten Erfolg gehabt.«
Eine halbe Stunde vor ihrem Auftreten sitze ich in ihrer Garderobe. Ein länglicher, wie ein Dach gegiebelter, mit Sachen und Fundus vollgepfropfter Raum. Pappzähne und Holzarme und Kegelkugeln und Fischblasen und ausgestopfte Ratten und Bälle und Musikinstrumente und Fotografien und gerahmte Zeitungsausschnitte – dieser Aufsatz wird hoffentlich auch einst dort prangen – und Schminke und ein Kamm in der Butter … Es sieht ganz richtig aus. Ich unterhalte mich mit den dreien. Sie sprechen gut deutsch. Sie erinnern sich gern und genau an Berlin. Erkundigen sich nach allem. Ob es sich sehr verändert hat –? »Ach ja!« muß ich sagen. Wir sprechen von dem Artistenaustausch zwischen den beiden Ländern. François entwickelt absolut vernünftige Ansichten: die französische »Loge Indépendante des Artistes« wolle schon, im Prinzip … aber es gäbe da noch Schwierigkeiten … (Wenn die Berliner Direktoren schlau sind, sichern sie sich diese drei, die ein Fressen für die Spree wären.) Das Gespräch gleitet zu allem möglichen über – sie zeigen alte Bilder, ihr Goldenes Buch, in dem Rothschild steht und Tristan Bernard und die Pawlowa und die halbe Comédie Française und George Carpentier … Die Fratellinis sind – wie fast alle Leute vom Varieté und vom Zirkus – viel bürgerlicher als Theaterschauspieler, viel kameradschaftlicher, viel posenloser. Sieht man näher hin, so erblickt man drei vernünftige, klar denkende, anständige Bürgersleute. An Hermann Bangs »Vier Teufel« darf man gar nicht denken.
Inzwischen sitzen sie an den langen Schminktischen. Und unter meinen Augen verwandeln sich diese drei, von denen besonders Albert einen ausgezeichneten Zivilkopf hat (er sieht aus wie ein gebildeter Hofschauspieler) – verwandeln sich diese drei in die richtigen Fratellinis: der Alte nimmt nur wenig Farben, François wird kalkweiß, und Albert beschmiert sich kunstvoll das ganze Gesicht, Zug für Zug des Menschen verschwindet, und das unendlich listig-rührende, traumhaft idiotische Clownsgesicht entsteht langsam. Unter den Strichen, die seit achtzehn Jahren Abend für Abend dieselben sind – in Moskau, in Paris, in Berlin, in London, in Lissabon, in Wien –, überall. Sie steigen in die unmöglichen Hosen, die Pailletten rascheln, ein Faß, ein hölzerner Hammer, die Gitarre, die Musikinstrumente werden zusammengepackt … Oben hört man das Beifallsrufen für die vorige Nummer. Die Fratellinis klettern die wackligen Holzstufen herauf, es riecht nach Pferden, nach warmem Stroh, nach Menschen … Die Musik macht: Täterätä –! Sie schieben den Vorhang beiseite, und da schlägt schon der Beifallssturm des vollen Hauses über ihnen zusammen. –
Peter Panter
Vossische Zeitung, 15.06.1924, Nr. 282, S. 2.