The Kid
Diese grotesk-sentimentale Mischung ist uns fremd. Sie entbehrt der Logik, und ohne Logik ist deutsche Filmdichterei nicht zu denken.
›Deutsche Allgemeine Zeitung‹
Wenn Ludendorff halb so komisch wäre –! Nach einem leicht pathetischen Vorspiel voll edler Spielastik und bemakelter Mutterschaft, wobei auch das Kreuz des Erlösers nicht fehlt, watschelte Charlie Chaplin von hinten in den Vordergrund des Films und in unser aller Herzen. Der Herr befinden sich offenbar zur Zeit in nicht sehr guten Vermögensumständen. Er hat mehr Löcher als Kleidungsstücke, und ganz heil ist nur sein Stock. Er zieht aus einem Debet seiner Hose eine alte Konservenbüchse, wählt unter den dort angesammelten aufgelesenen Stummeln einen, klopft ihn ordentlich zurecht, wirft Streichholz und Handschuhe, wegen nicht mehr fein, in eine alte Tonne – und hört ein Baby schreien. Das Baby liegt neben dem Müllkasten. Da hebt es Chaplin auf: und was sich dann begibt, ist so schön, dass nicht nur der ganze deutsche Film dagegen versinkt – das will nicht allzuviel heißen – sondern es ergreift so, dass man für eine ganze Stunde aus diesem Lande herausgerissen wird, weit, weit fort unter richtige Menschen.
Der Film ›The Kid‹ hat gar keinen richtigen Inhalt. Aber Chaplins Herz hat einen, und zu diesem Herzen gehört der feinste Kopf unter den lebenden Filmdarstellern und der klügste unter den Schauspielern überhaupt. Dieses Herz ist bei den Unterdrückten, und es hat eine gefährliche Waffe: sein Gehirn.
Komisch ist alles: komisch der Gang, komisch die Füße, komisch das Hütchen und komisch der Rhythmus dieser gleitenden, sehr sparsamen Bewegungen. Chaplin zieht den armen ausgesetzten Müllkastenjungen auf, und die hinreißende Herzenskomik dieser Vorgänge liegt vor allem darin, dass dieses kleine Stück Malheur durchaus für voll genommen wird: wenn es Eierkuchen gibt, zählt Papa die Dinger (wie die Geldscheine) – und jeder kriegt die Hälfte, einer bleibt übrig, und auch der wird ehrlich geteilt. Zwei Kameraden bestehen den harten Kampf mit dem Leben: der Kleine schmeißt die Fenster ein, die der Große kittet, und so haben beide ihr Auskommen. Dann aber wird der kleine Kompagnon krank, der Arzt kommt, und Vater Staat, dieser unehrlichste aller Strichjungen, nimmt dem Großen den Kleinen weg. Chaplin rettet ihn, befreit ihn, wieder wird er ihm gestohlen, er erträumt sich, vor einer alten Haustür schlafend, den Himmel, bekommt den Jungen wirklich wieder, der findet seine bemakelte Mama – aus.
Warum hat eine Welt über diesen Film gelacht?
Weil er an die Urinstinkte appelliert. Weil er überall siegen muß, wo es auch nur Andeutungen einer Zivilisation gibt. Weil hier ein Sieger des Lebens ist, der zwar den Unterdrückten angehört, aber doch – mit allen Mitteln arbeitend – triumphiert.
Vor allem hat Chaplin als einziger die reine Komik der absoluten Bewegung entdeckt. Eine Situation, deren Kern sich oft wiederholt: er verscharrt das Balg zunächst, um es loszuwerden, wieder neben dem Müllkasten, wo er es gefunden hat. Wie er gräbt und wirtschaftet! Hinter ihm steht, ohne dass er es weiß, der böse Feind, diesmal ein riesenhafter Schutzmann. So, nun ist er fertig, das Kind liegt glücklich unter alten Lumpen und Mohrrüben, Er dreht sich um und stößt an den wehrumpanzerten Bauch des Sergeanten. Tausend Schauspieler machten jetzt: Schreck! Dieser hält in der Bewegung des Rückwärtsdrehens gar nicht inne, in demselben Schwung nimmt er den Kleinen wieder auf und watschelt fort: »Verboten? nicht gut? Schön – weiter.« Warum das komisch ist, weiß ich nicht, und ich habe es auch nie ergründen können. Tatsache ist nur, dass man vor Lachtränen zwanzig Meter nichts sehen kann.
Dazu kommt die unüberwindliche Sucht, es immer der großen Welt gleich zu tun. Sie haben nicht Brot auf Hosen, aber eine alte Bettdecke ist Pyjama, ein Teller Fingerschale, und in allem Kummer hat man immer so viel feine Sitte, noch schnell vor dem Todessprung am Hütchen zu rücken. Wegen fein.
All das ist bewußt. Bewußt, den Kleinen beten zu lassen und währenddessen plinkernd an die Decke zu gucken: Gut und schön, diese Frömmigkeit – aber ich kann das doch nicht mitmachen; bewußt, mit dem Kleinen zu laufen, wie noch nie ein Mensch gelaufen ist, und dann schnell, rechts und links vorm Tor, Aufstellung zu nehmen, der böse Feind rasend vor Wut mitten durch, und man ist noch einmal, für die nächsten zehn Sekunden, gerettet; bewußt, ein rundes Loch in den Rohrstuhl zu schneiden, darunter den Nachttopf zu setzen und das Kind nun oben drauf (gewissermaßen gleich an die Kanalisation angeschlossen); bewußt, diesen Rohrstuhl dann noch einmal prüfend vor sich hinzustellen: zurücktretend wie der Maler von der Staffelei, wie wohl das Werk auf die Entfernung wirke … Bewußt ist alles.
In einem kleinen Büchlein (Louis Deluc: ›Charlot‹, Paris 1921, bei de Brunoff) findet sich am Schluß ein großer Aufsatz Max Linders, der lange bei Chaplin zugesehen hat. »So beruhen alle meine Filme«, heißt es da, »auf der Idee, mich in die höchste Verlegenheit zu setzen, um mir Gelegenheit zu geben, gradezu verzweifelt ernst bei dem Versuch zu bleiben, ein richtiger kleiner Gentleman zu sein.« Und: »Das Theaterpublikum ist von Herzen zufrieden, wenn es den reichen Leuten nicht gut ergeht. Ein Stückchen Eis in den Ausschnitt einer feinen Dame fallen lassen: das ist, in den Augen des Publikums, Schicksal, das bedeutet, ihr das zuzufügen, was sie von Rechts wegen verdient.« Und: »Zweifellos ist es günstig für mich, dass ich so klein bin; so kann ich Kontraste ohne große Mühe herstellen. Jeder weiß, dass der ›Kleine‹, der verfolgt wird, zunächst einmal die Sympathie der Masse auf seiner Seite hat. So betone ich meine Schwäche … « Aber dann siegt er doch, und alle Welt lacht Tränen. Nebenbei: welch ein Witz, dass eine Welt über einen Juden lacht! (Der Centralverein jüdischer Staatsbürger deutschen Glaubens wird zögern, ob er diesen anerkennen soll: Einstein, ja – die Ostjuden, die zwei Etappen vorher darstellen: nein – und Chaplin? »Macht er Riches?«) Wer da nicht lacht, ist chaplinblind.
Grade, wenn der Film am besten schmeckt, hört er auf. Im Tauentzien-Palast, wo man die Presse einlädt, ohne einen Stuhl parat zu halten, mußte ich dank der Unfreundlichkeit der Direktion dieses Filmwunder stehend erleben. Ich hätte gern noch einmal so lange gestanden. Man möchte die Arme heben und ihm zurufen:
Gott sei Dank, dass es dich gibt! Dein Herzblut hat dein Gehirn passiert – du fühlst mit dem Kopf und denkst mit dem Herzen! Bereicherer des Lebens, deine besten, lustigsten Filme werden wir wahrscheinlich erst in zehn Jahren zu sehen bekommen, weil die deutsche Filmproduktion feige ist. Deinen witzigsten Film haben wir nicht gesehen, den, wo du den deutschen Kaiser gefangen nimmst – weil wir, ach Gottchen, in einer Republik leben. Aber es gibt dich doch, Tröster der Herzen! In einer englischen Zeitschrift warst du während des Krieges abgebildet: der ihr Kaiser stand da, Hindenburg und dicke deutsche Generale – Brille und Sauerkohl und eine unbeschreibliche Würde. Aber alle zogen die Brauen hoch: denn du watscheltest durch den Saal, pfeifend, ohne sie anzublicken, mit dem kleinen Hütchen und dein Stöckchen schwingend. Und alle Würde und alles Teutschtum waren auf einmal zum Teufel. In deinen Filmen ist echteste Menschlichkeit und tiefste Logik des Herzens. Dich kennen mehr Menschen, als Goethe und Napoleon zusammen gekannt haben – fünf Weltteile haben dich gesehen, und gelacht haben sie alle. Du hast zwei linke Füße und das Herz auf dem rechten Fleck. Sei gegrüßt –!
Weißt du, dass wir Bessern hier versauern und nicht aus der ewigen Schule herauskommen können, aus dem Kasernenhof, aus dem Internat Deutschland? Wir sind festgebacken und warten. Weißt du, wie wir warten? Auf die Stunde; die in die Freiheit führt –? Draußen, da wären wir doppelt dankbar für deine ernsten Späße und dein lustiges Pathos – draußen würden wir noch einmal anfangen, zu leben, aufzunehmen, zu verarbeiten, und überhaupt wieder vorhanden sein. Wir warten. Aber keiner kommt. Und wir sind dir dankbar, Charlie Chaplin, weil du uns eine Ahnung davon gibst, dass die Welt nicht teutsch und nicht bayerisch ist, sondern ganz, ganz anders. Aus dem Keller, de profundis, sei gegrüßt –!
Peter Panter
Die Weltbühne, 06.12.1923, Nr. 49, S. 564.