Dreißig Operetten
»In Berlin laufen zur Zeit 30 Operetten.«
Das lese ich so in der Zeitung: dass in Berlin jetzt, in diesem Sommer, dreißig Operetten aufgeführt werden, alle zu gleicher Zeit: jeden Abend, alle dreißig Stück.
Im Januar, als noch die dichten Flocken vom Himmel herunterfielen, da faßten sich dreißig Librettisten mit dem Zeigefinger an den Kopf, machten ein angestrengt nachdenkliches Gesicht und riefen: »Ha – ich habs!« – Je eine Idee hatten sie – alle dreißig Stück. Nämlich eine Operettenidee. Dreißig Librettisten telefonierten ihre Freunde an und erzählten ihnen diese einfach glanzvolle, unbezahlbare, noch nie dagewesene, phänomenale Idee: »Also paß mal auf – da ist ein Liebespaar, das hat … « Und dreißig Freunde fanden sich – die wollten für diese originelle, sicherlich erfolgreiche Idee die Schlagertexte verfassen.
Dreißig Textdichter setzten sich an dreißig Schreibtische und fingen an zu dichten – über sich eine rummelnde Hausfrau, vor sich eine graue Straßenfront und unter sich kalte Füße:
Ein Abend ohne Tanz,
Ein Dackel ohne Schwanz,
Ein Mädchen ohne Liebe, die sind alle drei nicht ganz!
oder:
Mazeppa, du schönste der Tscherkessen!
Mazeppa – ich kann dich nicht vergessen!
oder
Das Kindchen in der Windel –
Macht vielerlei – –
und so.
Dreißig Schreibmaschinistinnen schrieben diesen Unfug auf weiße Bogen, und dreißig Librettisten brachten ihre unsterblichen Werke zu dreißig Komponisten.
Dreißig Komponisten legten sich aber ordentlich ins Zeug, als sie das »Buch« bekamen. An dreißig Flügeln ging ein Psalmodieren und Präludieren an, süße Erinnerungen tauchten auf, dem korpulenten Puccini zapften sie das musikalische Fett ab. Wagner und Lehár, Offenbach und Fall – sie hatten nicht umsonst gelebt. Die Komponisten transpirierten vor Eifer – die minderen schwitzten. Und es fielen ihnen herrliche Sachen ein.
Dreißig Komponisten wurden die Qual ihrer Umgebungen. Die Frauen und die Geliebten mußten dran glauben, Manschetten und Speisekarten wurden mit Motiven vollgeschrieben, telefonisch wurden Schlager vorgespielt, kritisiert und wieder verworfen – dreißig Komponisten hatten es nicht leicht.
Dreißig Verleger prüften dreißig Operetten. Dreißig gerissene Kaufleute stürzten sich, den Spaßgeiern gleich, auf dreißig Künstler. Dreißigmal wurde mit den Armen in der Luft herumgerudert, Gott als Zeuge angerufen, Verträge ausgeschrieben und wieder zerrissen, Rechtsanwälte beschrien und Sekretäre beschimpft – dreißig Operetten waren schließlich unter Dach und Fach.
Im Mai, als die ersten Knospen sprangen – was ihnen aber gar nichts nutzte, denn auch sie waren schon längst ein Operettenrefrain –, saßen dreißig Theaterdirektoren vor den dreißig Operetten. Dreißig wilde Schlachten huben an.
Dreißigmal rangen Textdichter die Hände, weil die notorisch besten Schlager gestrichen wurden; dreißig bis in die Seidenstrümpfe gekränkte Divas liefen aus der Probe, die goldenen Armbänder zornig schüttelnd: »Wenn diese lächerliche Person singt, singe ich nicht – keinen Ton!« – Dreißig beschwörende Theaterdirektoren holten sie wieder zurück – und sie sangen viele Töne. Dreißig Tenöre brachten dreißig Komponisten zur Verzweiflung, für einen von ihnen mußte eine neue Tonart erfunden werden, weil die vorhandenen nicht ausreichten.
Dreißig Generalproben endeten mit dreißig Ohrfeigen – dreißig Garderobieren wischten sich von dreißig Stirnen den Schweiß und sanken erschöpft auf dreißig Stühle. Dreißig Vorhänge rauschten in die Höhe.
Die Sintflut brach herein. Dreißig Publikümer hörten sich die dreißig Operetten an – begeistert, hingerissen, kühl bis ans Herz hinan, gleichgültig, tobend vor Freude. Dreißig Freunde stürzten hinter die Bühne und sagten zu Komponisten, Textdichtern, Theaterdirektoren und Schauspielern: »Faaabelhaft –!« Dreißig kleine Soupers krönten dreißig Premierenerfolge.
Dreißig Kritiken erschienen, dreißigmal überlegten die Kritiker, wie man den alten Klimbim dieses Jahr neu ausdrücken könne – dreißig Kassen gaben Freibillets aus, und an ganz Schwachsinnige wurden auch Karten verkauft.
Dreißig Operetten laufen in Berlin. In Hatz begonnen, in Hatz einstudiert, voller Hoffnungen angesetzt, mit leichtem Schielen auf Amerika. Warum sollen es die anderen so gut haben – sollen die Japaner auch Operetten hören! – Dreißig Operetten gehen in die Musikliteratur ein – von dreißig Operetten weiß im nächsten Jahr kein Mensch mehr etwas.
Dreißig gegen einen – so fielen sie über mich her. Aber ich Glücklicher: ich bin in keiner drin gewesen.
Peter Panter
8-Uhr Abendblatt, 20.08.1923, Nr. 191.