Bergner! Bergner!
Also das gibt es noch. Es hat also noch Sinn, ins Theater zu gehen, und es gibt also noch andre, ehrlichere Premieren als jene Filmkomödien, wo unter Blumenhainen glatzköpfige Geschäftsleute zweifelhafter Prägung auftauchen …
Das Lessing-Theater hallte wider von den Rufen: Bergner! Bergner! Mit vollem Recht.
Ensembles haben wir nicht mehr. Und von einem berliner Theater kann man wohl auch kaum noch im Ernst sprechen – denn wie soll man mit Liebe rezensieren, was ohne Liebe gemacht wird? Aber dass es noch wertvollen Nachwuchs gibt, das zeigt sich in dieser Frau.
Wie das blüht und duftet! Wie das im höchsten Sinne Kunst ist und im höchsten Natur! Wie sie sich keinen Zwang auferlegt und doch streng im Bann ihrer selbst bleibt! Wie sie sich nie wiederholt, und welche Fülle von Erfindung! Was fällt ihr alles ein! Was macht sie alles! (Und was macht sie alles nicht!)
Es hat auf einmal wieder Sinn, auf Nuancen zu hören. Die kleinsten Abweichungen übertragen sich; Achteltöne werden hörbar, Atemzüge entscheiden, und keiner ist im Theater, ders nicht versteht. Sie spricht das Wort ›Rosalinde‹ nicht ganz richtig aus – manchmal schleift sie das ›a‹, sodass es sich fast anhört wie ›Roselinde‹ –, und diese winzige dialektische Färbung macht sie uns vertraut und lieb, rückt sie nahe und näher … Wenn weißes Licht aus tausend bunten Farben entsteht, so dieser Eindruck aus tausend solchen kleinen, synthetisch erfaßt von einem einzigen Menschen, von einer einzigen Frau.
Wie sie als Junge sprach und als Mädchen kopierender Knabe und wieder als Frau – und wie rein sie alle Töne brachte! Wie jubilierte ihre Stimme, als sie in jener herrlichen Liebesfuge als Schlußakkord dastand: »Sag, guter Schäfer, diesem jungen Mann, was lieben heißt.« – »Es heißt, aus Seufzern ganz bestehn und Tränen! Wie ich für Phöbe!« – »Und ich für Ganymed!« – »Und ich für Rosalinde!« – sangen die andern. Sie aber: »Und ich für keine Frau!« Welcher Jubel, welche Süßigkeit, welche Liebe!
Und es haftet. Die meisten Theatereindrücke der letzten Jahre versinken – dieser bleibt und macht noch den nächsten Tag und die nächsten Tage heiter und glücklich. Seligkeit des Erinnerns, zu wissen, dass es unter den Flußpferden des Verdienens so etwas gibt! Es hallt nach: Uns kann nichts geschehen – es gibt noch so etwas! Und noch in dem lebenden Depotbuchhalter, der von seinem Konto in einen grauen Hof blickt, zittert der Klang dieser Stimme nach. Und ein Ruf hallt: Bergner! Bergner!
Zum Schluß trat sie vor den Vorhang – als Epilog des Stücks –, Beifall umdonnerte sie, und sie hob leise die Hand. Abwehrend fast und unendlich süß. Wollte sie noch etwas sagen? Es wurde still. Und als sie begann, dachte ich: Jetzt spricht Elisabeth Bergner ganz persönlich, improvisiert und dankt für einen Beifall, auf den sie so lange Jahre gewartet hat. »Ich bin jahrelang hier herumgelaufen, bei euch, in Berlin«, hätte sie sagen können, »und keiner eurer Schlauköpfe hat mich erkannt. Und keiner hat mich überhaupt spielen lassen. Jetzt ist der Erfolg da, und ich will nicht bitter sein, und ich danke euch.« Sie sprach aber mit derselben Natürlichkeit die vorgeschriebenen Worte des Stücks.
Bergner! Bergner! rief die Galerie.
Und wir, die wir dabei waren, nuckelten mit dem Kopf und segneten sie und wünschten ihr alles Gute. Betend, dass Gott sie erhalte, so jung, so schön, so hold. Und dass der Film ihr fern bleibe, und dass Berlin sie nicht auffresse mit seinem provinzhaften ›Faaabelhaft!‹ und seiner, Gott soll hüten, Gesellschaft. Trotze der Panke!
In diesem Sinne:
Bergner! Bergner!
Peter Panter
Die Weltbühne, 10.05.1923, Nr. 19, S. 553.