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Hermine

Da wird man so viel gefragt, was es denn Neues zu lesen gebe – nun, ich weiß etwas. Es ist noch ganz frisch von Druckerschwärze – so neu ist es, und es ist ein höchst amüsanter Roman. Er heißt: ›Hermine‹, und sein Autor heißt Peter Guggenreit. (Erschienen im Poseidon-Verlag zu Chemnitz.) Das müssen Sie wirklich lesen. Da hat einer – meines Wissens zum ersten Male – den Versuch gemacht, etwas aus dem modernen Leben einzufangen, was noch nie geschildert worden ist: nämlich den anonymen ›Betrieb‹ aller Dinge. Das ist so:

Der Held des Buches, ein junger Bengel namens Ludolf Gerold, kommt, frisch aus der Schule, in die Lehrzeit eines großen Kaufmannsbüros. Die letzten Schultage – mit denen fängt das Buch an. Da wird schon gezeigt, dass der Herr Ludolf ein etwas feiger Bursche ist, der seine Draufgängerschaft nur betätigt, wenn ers hinter dem Rücken der andern tun kann – dann aber kräftig. Ja, der geht also in die Lehre. Und er arbeitet sich überraschend schnell ein. Und nun wird famos und ganz ausgezeichnet dargetan, wie so eine moderne Maschinerie arbeitet, so ein Büro: wie alle die Arbeit tun, aber eigentlich keiner die Verantwortung trägt – wie jeder jeden drückt und niemand zugestehen will, dass auch er gedrückt wird. Und wie sich vor allem der Apparat mausig macht. Die moderne Wirtschaftsform hat den Menschen zum Zweck erniedrigt – aber der rächt sich und läßt es sich nicht gutwillig gefallen. Er rächt sich dadurch, dass er mit dem Apparat so viel Schwierigkeiten wie möglich macht, um zu zeigen, dass er auch noch da ist. Der Kassenbote soll einen Brief zur Post bringen. Ja, das tut er ja auch – und er ist nur Bote und hat gar keine Bedeutung weiter. Aber das eine, das einzige kann er doch noch: er kann so viel Geschichten mit dem Brief anstellen, so viel Hindernisse bereiten, so viel Formalien ausdenken … Oho! er ist kein gewöhnlicher Kassenbote – so einfach ist das nicht, das will gelernt sein! Und Ludolf, der sich an alle Leute im Büro fragend wendet, macht eine überraschende Entdeckung: Jeder sagt ihm genau dasselbe, jeder sagt die nämlichen zwei Dinge. Erstens: »Was ich hier mache, ist die Hauptsache von allen Arbeiten, die hier gemacht werden!« Und zweitens: »Das ist gar nicht so einfach, was ich hier tue. Das will gelernt sein, und mancher lernts nie!« Die Maschinerie ächzt und klappert – und jeder Handgriff wird bezahlt mit einem Opfer vor der Eitelkeit des Greifenden. Anders tut ers nicht – anders tut ers nicht. Ludolf lernt: er lernt viel und rasch.

Und dann scheidet er aus dem Kaufmannsstand aus und wird Beamter im Finanzministerium. Und da lernt er ein Mädchen kennen, das heißt Hermine. Hermine hat einen bösen Alimentationsprozeß verloren, in der ersten Instanz glatt verloren – und sie will zu ihrem Recht kommen. Und weil es eine etwas verzwickte Geschichte ist, bei der auch der Staat mit hineinspielt – es ist da so etwas wie eine Wachstubenvergewaltigung vor sich gegangen –: so wendet sich Hermine schutzsuchend an unsern jungen Gerold, der inzwischen ein ganz einflußreicher Mann geworden ist – und er beschäftigt sich mit ihr und mit den Ämtern. Und will ihr wirklich zu ihrem Recht verhelfen. Und kann es nicht und merkt plötzlich: Es sind alles, alles nette und umgängliche Leute. Sie haben auch alle volles Verständnis für die Nöte, die er und das Mädchen da vorbringen. (Er muß es sehr vorsichtig tun – denn manchmal sehen sie ihn schon ein bißchen argwöhnisch an, als sei er mit ihr in der Wachstube gewesen … ) Alle nicken mit dem Kopf und legen sorgfältig die schweren Aktenstöße zurecht, die da auf ihrem Schreibtisch liegen. Aber … dann beginnt das große Baseball-Spiel der Instanzen. Und keiner, keiner ist es gewesen. Und auf einmal hat niemand zu bestimmen, und auf einmal hat niemand Einfluß – und wenn er ihn zu haben vorgibt, dann ist er böswillig und will nicht, dass man ihn ausnutzt. Und ein Instanzenstreit hebt an, ein fahl leuchtender Konkurrenzkampf aller gegen alle ›von der andern Abteilung‹ – und Hermine steht dabei und begreift das nicht, wie ihr nur so bitter unrecht geschehen kann. Und einmal – das ist eine der reizendsten Stellen im Buch – da sitzt sie bei Ludolf im Vorzimmer und wartet auf den Bescheid eines Kassationshofes, den er in Händen hat, und da kommt ein junger Beamter aus seinem Zimmer. Und dann geht sie hinein und ruft: »Wer war das?« Und er sagt es ihr. »Wissen Sie«, sagt sie, »ich finde, er könnte bei Ihnen bescheidener auftreten. Wenn er bloß aus einem andern Büro ist –!« Und das findet Ludolf auch ganz in der Ordnung. Und dann schläft er mit Herminen, und dann heiratet er sie, schon, dass der Prozeß ein Ende hat – und wie nun auch im bürgerlichen Leben der beiden Etage gegen Etage tobt, Familie gegen Familie, immer wieder Abteilung gegen Abteilung: das ist meisterhaft. Weil die Geschichte zum ersten Male nicht Hermine und Ludolf zum Helden hat – sondern etwas andres, etwas nie Beachtetes, die Kollektivität.

Seelenromane gibt es immer noch und tiefgründige Analysen von Männern und Weibern und was weiß ich. Aber an jene unbekannte, große, geheimnisvolle, dumpfe und schwarze Kraft – an die hat sich noch kein Romanschreiber herangetraut.

P. S. Den Roman gibts leider nicht.

Peter Panter
Die Weltbühne, 05.07.1923, Nr. 27, S. 18,
wieder in: Deutschland, Deutschland.