Richard Alexander
Als ich volljährig wurde und mein Geld ausbezahlt bekam, und es war eine Zangengeburt, denn eine ganze Phalanx von Onkeln stand davor, da gingen wir selbdritt bummeln. Im ersten Übermut und in einem Anfall von Größenwahn steckte ich mir hundert Mark ein und lud den Dicken und den Kleinen auf die berliner Kirchweih. Anfing es bei Richard Alexander.
Ich kann Ihnen noch die Loge zeigen, in der wir damals gesessen haben. Vor Lachen sind wir beinah herausgefallen.
Ich besinne mich genau auf das Stück, das gespielt wurde. Es handelte sich darum, dass Richard Alexander – Schwerenöter und Mann von Halbwelt – eine junge maskierte Dame zu sich ins Séparée (französisch; soviel wie Spielzimmer) geladen hatte und sie sich dort, eine Weile vergeblich, bemühten, sich gegenseitig auszuziehen: sie ihn finanziell, er sie richtig. Mit ihrer Maske fing er an. Und die nahm sie auch schließlich ab. Alexander konnte fünf Minuten lang nicht weiterspielen – so lachten die Leute. Ihm gegenüber saß ein Miesnick, was, Miesnick! – ein Mädchen, mit dem das Lokal aufgewaschen wurde, ein Lappen von einem Mädchen … Und er tat gar nichts, sondern jedesmal, wenn er wieder ansetzen wollte, zu sprechen, dann mußte er sich leise abwenden und ein bißchen mit der Stimme kiksen. Und dann fing das Lachgeschrei im Theater wieder von vorn an, und er hatte doch gar nichts gesagt.
Wie oft haben wir noch über ihn gelacht! Immer kam da ein Akt vor, in dem spazierte er in Unterhosen umher – sie waren berühmt, diese Unterhosen! –, und jener große Augenblick, wo er »Himmel, meine Frau!« murmelte, badete das ganze Haus in ein unendlich wohliges Entzücken. Ich weiß noch, wie ich einmal neben einer richtigen Dame saß, und jener sang den ganzen Abend: »Mit fester Hand – aber mit zitterndem Stift!«, und man hatte nicht das häßliche Gefühl, dass nun jede Frau im Theater vogelfrei wäre. Den letzten entscheidenden Millimeter hat er niemals überschritten.
Das mit der ›festen Hand‹ war in jenem Stück, wo er zur Freude von ganz Berlin bei Mannheimer Anprobieren gelernt hatte, weil das in dem Stück vorkam und er es auch ganz richtig machen wollte. Und nun zupfte er den Damen so fachmännisch an den Kleidern herum, dass die ganze Konfektion verständnisinnig und tief geschmeichelt lächelte: Ja, wirklich – das war wie im Leben!
Als er ging, machte er keinen Ehren-Abschieds-Benefiz-Gala-Abend – sondern eines Tages stand in der Zeitung, er spiele an dem und dem Tag zum letztenmal. Ich schrieb ihm damals ein kleines Gedicht auf, und er schickte mir einen großen Karton, auf dem war er in seinen Hundert und aber Hundert Rollen abgebildet – in allen jenen französischen Possen, die das Entzücken unsrer Eltern gebildet hatten.
Es war Theater aus der Zeit, wo die Börsianer noch mit den Goldstücken in der Hosentasche klimperten; das Vergnügen hatte einen andern Klang. Die reichen Leute und viele andre fuhren in die Blumenstraße hinaus – sie hätte noch hundertmal weiter sein können, sie wären doch alle gekommen. »Wie Sie nach der Blumenstraße kommen –? Da fahren Sie nach Frankfurt an der Oder, und loofen det Sticksgen wieder zurück –!« Es war eine Tradition, die sich da gebildet hatte: auf der Bühne und in den Logen, zwischen den Kulissen und im Parkett.
Seine Späße klebten nicht, nichts wurde mit schweißiger Hand serviert, alles blieb nett und amüsant, und man brauchte sich nicht zu schämen, mit andern gelacht zu haben. Er war komisch: in seinen langen Beinen zuckte die Lustigkeit, in seiner Nase steckte die gute Laune, in seinem Kehlkopf gluckste der Humor. Er hat Hunderttausende froh gemacht.
Ja, in jener ersten Nacht gingen wir dann noch weiter: es gab meinen Lieblingswein, roten Aßmannshäuser, und die beiden immer injeladen, nicht bloß uffjefordert! –, und dann rollten wir zu Claire Waldoff, die uns mitteilte, dass nach ihren Beinen ganz Berlin verrückt sei, und uns wissen ließ, dass er Hermann heeße. Und sie lag mit all ihrer Drolerie und ihrer großen Keßheit durchaus an der Panke …
Die beiden andern sind etwas Rechtes geworden: der Dicke ist ein reicher Bankier, der mit Ausnahme seiner Steuern alles nach Dollars berechnet – und der Kleine ist ein höherer Beamter von untadliger monarchistischer Gesinnung, und also durchaus befähigt, in der Republik Karriere zu machen. Es war eine heitere Zeit.
Das ist mir eingefallen, als ich las, dass Richard Alexander gestorben ist.
Er hat ja noch vor kurzem in Berlin gespielt – aber ich bin nicht hingegangen, weil ich mir die Erinnerung nicht verderben wollte. Die Erinnerung: das ist ja doch das Schönste.
Was bleibt sonst von den Schauspielern? Einer hat einmal von der ›verständlichen Gier‹ gesprochen, mit der sie ihren irrsinnigen Beruf ausübten: heute rauscht der Beifall noch in ihren Ohren – morgen sind sie vergessen, überholt …
Diesen kleinen Kranz auf deinen Hügel, Richard Alexander.
Peter Panter
Die Weltbühne, 07.06.1923, Nr. 23, S. 664,
wieder in: Mona Lisa