Corneille auf der Schreibmaschine
Ein Franzose, Herr G. M. Bourgeois, hat sich neulich den Spaß gemacht, unter seinem Namen Comédie-Française ein Stück von Corneille einzureichen. Das Dramaturgen-Büro hat das Stück abgelehnt, Herr Bourgeois lachte sich eins und veröffentlichte die Blamage in den Blättern. Und jetzt sind alle Leute furchtbar vergnügt und mokieren sich über das arme Theater. Herr Clément Vautel, der im Journal den Ereignissen die letzte Weihe durch ein hübsches Feuilleton gibt, hat diesem Scherz eine kleine Arbeit gewidmet, worin er ungefähr sagt: »Ja, wenn eben kein berühmter Name drüber steht … !« Und er erinnert daran, dass man sich schon einmal vor dreißig Jahren den gleichen Ulk mit dem Theater Gymnase gemacht habe. Damals war es der »Tartuffe« von Molière.
Hat sich die Comédie wirklich so sehr blamiert? Ich fürchte, sie blamiert sich vielleicht mehr, wenn sie ein Stück, das von Corneille ist, gar zu sehr anbetet, als sie es ablehnt, ohne den Autor zu kennen. Sie dokumentiert nämlich mit der Ablehnung ganz richtig: ein solches Stück schreibt man heute nicht mehr. Der »Faust« muß – auch er! – aus der Zeit seiner Entstehung heraus begriffen werden; lebte Goethe heute, wäre er nicht dieser Goethe, und der »Faust« hätte ganz andere Seelenqualen als die monologisierten. Die instinktive Ablehnung des abgeschriebenen Corneille hieß: Epigonenwerk. Und ich finde es noch gar nicht so blamabel, wenn man dasselbe Stück, als dreihundert Jahre alt bekannt, annimmt und das gleiche, angeblich heute entstanden, ablehnt.
Veralten Klassiker?
Ja, sie veralten – und das ist ein Teil ihres Reizes. Es liegt soviel geschichtlicher Staub auf ihnen, so viele Generationen haben sich die Hosenböden bei ihrer Lektüre abgewetzt, so viele junge Doktoranden haben zitiert, gedeutet, widerlegt und erklärt – die Stücke sind alt, aber mit einer Nation alt geworden. Und da beginnt die große Gefahr.
Schule und Universität haben sich nämlich ausgedacht, dass Klassiker auf jede Zeit anzuwenden sind, modifiziert, aber immerhin – gewissermaßen wie ein Kochrezept, das Pfeffer vorschreibt, auch in Ermangelung dieses Gewürzes mit Paprika auszuführen ist. Und so kommen denn diese schrecklichen Neubearbeitungen, Ausdeutungen, Inszenierungen, Zitate und ähnlicher Unfug zustande. Der tote Meister liegt in steinernen Särgen (und rotiert schlimmstenfalls ein bißchen) – die da oben auf der Erde teilen ihrer Umwelt inzwischen mit, was der tote Trottel eigentlich gemeint hat. Und rufen triumphierend: »Seht ihr, wie quicklebendig das noch heute ist –!« Was ist quicklebendig? Doch nur der Modernisierungsversuch. Nicht das klassische Werk.
Seit dem Jahre 1914 hat man ja von der deutschen klassischen Literatur den Eindruck, dass sie nur zu dem Zweck geschrieben worden ist, um den modernen Lesern und Hörern mitzuteilen, dass sie ihre Steuern schön bezahlen, für das Vaterland sterben, der Obrigkeit gehorchen und überhaupt ebenso brave wie bedingungslos gehorchende Deutsche sein sollen. Da werden Stellen herausgerissen, aus dem Zusammenhang, aus ihrer Zeit, aus dem Kolorit von Stück und Autor – da werden unter der kindlichen Voraussetzung, dass alles, was je die Figur eines Dichters gesagt hat, auch dessen eigene Meinung sei, den Herren Schiller, Goethe, Theobald Körner (ich finde »Theobald« hübscher), Kotzebue und Geibel Dinge untergeschoben, an die jene nicht im Traum gedacht haben. Und Nietzsche – ! Im allgemeinen kann man ja sagen: »Sage mir, wen du zitierst – und ich werde dir sagen, was du mir kannst –!« Aber man erstaunt selbst als gelernter Deutscher, wenn man sieht, wo überall Nietzsche zitiert wird. Auch er kann sagen: »Ich habe es nicht gewollt –!« Und ich bin nicht der Ansicht, dass man einen Schriftsteller für seine Anhänger verantwortlich machen darf. Das Lustigste ist natürlich, dass man komplizierte Naturen immer für beide Lager ausschlachten kann – ein Genie kann wohl einfach sein, aber nicht simpel. Eindeutig ist der Reiterphilosoph von Bernhardi – die andern sind schwerer auf eine Linie zu bringen.
Und wenns nicht gutwillig geht, dann wird eben ein bißchen nachgeholfen. Da bekamen wir neulich eine Broschüre zugeschickt, aus der ging hervor, dass ein Fräulein … ich weiß nicht mehr, wie sie hieß – für den alten Schopenhauer eintritt. (Wahrscheinlich wegen unbekannt.) Sie hatte nämlich herausgefunden, dass dieser total verkannte Schriftsteller eigentlich ein guter Hakenkreuzler und Alldeutscher gewesen sei, und nun rupfte sie mit rührender Hand die schwarzweißroten Federn aus dem toten Balg. Wenn das der Alte noch erlebt hätte –! Ein zweites Kapitel »Über die Weiber« wäre dem Fräulein sicher gewesen.
Corneille auf der Schreibmaschine … ? Ich weiß doch nicht recht. Die öffentliche Meinung schwankt gewöhnlich, wenns an die Klassik geht, zwischen frommer Bewunderung und frecher Beschimpfung – die Welt hat für die einen im Jahre 1840 aufgehört, und für die andern fängt sie 1920 an. Wie sagte mein alter Meister, bei dem ich als junger Geselle arbeitete – wenns mulmig wurde? »Kompromiß!« Hier ist schwer einer zu schließen.
Was man verlangen kann, ist Ehrlichkeit. Und wenn ich sehr ehrlich sein will: Mich geht von diesen alten Traditionskisten nicht mehr so übermäßig viel an. (»Ja, lieber junger Freund … « Einen Augenblick.) Man hatte mir hier in Paris gesagt: Wenn Sie den französischen Nationalcharakter wirklich verstehen wollen, dann gehen Sie in die Comédie-Française und sehen Sie sich da Molière – oder noch besser: Corneille – an. Und weil mir für meine Ausbildung keine Spesenaufstellung zu hoch ist, habe ich das auch getan.
Jetzt habe ich eine Heidenangst, dass dieser Aufsatz auch in Paris gelesen werden könnte. Ich kann nämlich mit der Comédie-Française nichts mehr anfangen.
Ich verkenne gar nicht die traditionsbildenden Elemente, die darin stecken. Ich halte es auch für belanglos, ob man das so oder andersrum spielen könnte – ob die Comédie ein Theater macht, das mir gefällt oder nicht. (Mir gefällts nicht – aber danach hat mich ja auch keiner gefragt.) Ich habe einen ganz andern Einwand:
Was soll ich damit –? Sind das meine Probleme? Sind das unsere Seelenregungen? Nein. Nun wäre das sehr eng gedacht – also weiter: kann ich mich, im emsigsten Bemühen, in diese Welt, in diese Ausdrucksformen, hineinversetzen? Nein. Also: Museum. Das ist ein hartes Wort. Aber einmal, im »Misanthrope« gab es eine Spielpause, oder sagen wir besser: eine Deklamationspause. Und da tönten, von draußen, von der Straße her, die Automobilhupen in die Stille herein. Und da war es aus.
Nun sieht die Tradition in Frankreich anders aus als bei uns, die wir zwar einzelne Stadtkulturen haben (Hamburg, Frankfurt am Main), aber keine einheitliche deutsche, die einen andern Ausdruck gefunden hätte als in den Bücherschränken. Diese französische Tradition ist sehr lebendig, immer wieder erneuert, in ihren Auswirkungen bis heute feststellbar – und die enorme Erleichterung für jeden französischen Schriftsteller (und auch seine Mühsal) steckt eben in der Existenz seiner Basis, auf der er stets weiterbauen kann. (Bei uns fängt ja jeder für sich von vorn an.) Also zum Verständnis eines ganzen Volkes ist diese Klassik unerläßlich – als Lehrbuch, als Bauplan, als Orientierungskarte. Aber muß ich deshalb unmittelbar von ihr ergriffen werden?
Es gibt eine Luft zwischen den geschriebenen Zeilen, die geht nach fünfzig Jahren, bestenfalls nach hundert, dahin. Der Autor schreibt: »Liebe« – und noch der letzte seiner Leser weiß, welche Liebe gemeint ist, hat dieselben Assoziationen wie der Autor, dieselben Empfindungen, dieselben Vorbehalte wie er. Unsichtbar steht – überall zwischen den Zeilen: du weißt doch, wie ichs meine! – Der Leser weiß. Der Sohn des Lesers auch noch, weil sein Vater dieselbe Sprache gesprochen hat wie der Autor – der Enkel vielleicht auch noch. Aber dann ist es aus. Dann bleibt die Fabel, das Gerüst, die Figur, die Tradition, die Klassik. (Daher zum Beispiel Humoristen am leichtesten veralten – weil das Lachen am meisten von allen Seelenbewegungen auf dem Unsichtbaren zwischen den Zeilen aufgebaut ist.) Und ist einmal einer, wie Tolstoi, so groß, dass noch über die Übersetzung hinweg, ja über Jahrzehnte hinweg, soviel bleibt wie eben bei ihm – dann ist das eine gottgesegnete Ausnahme. Die »Volkserzählungen« werden leben wie die Bibel.
Auf allem andern aber- beinahe auf allem andern liegt fingerdick der Staub. Denn der historische Einschnitt von 1840, der da kam, als die Maschine geboren wurde, der bewirkt, dass wir das, was davor liegt, mit andern Augen ansehen. Robespierre hat eben keiner Stenotypistin diktiert, sondern lange Zettel mit seiner dünnen Schrift überhuscht … Französische Klassik? Französische Tradition? Der kalifornische Früchtebauer weiß nichts von ihr. Und ist deshalb noch lange kein Barbar. Sondern ein neuer Typus Mensch.
Und deshalb soll man nicht die Klassik bespötteln, aber auch nicht vor ihr auf dem Bauche liegen. Auch nicht, wenn sie Corneille oder Goethe heißt.
Peter Panter
Vossische Zeitung, 26.06.1924.