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Unamuno spricht

Ein kleines Bumstheater im Norden von Paris: Théâtre de la Fourmi. Die Galerien aus Holz, die bemalte Decke niedrig, der Vorhang ist aufgezogen und zeigt einen Aspekt hell geblümter Tapeten mit vielen Verwechslungstüren einer Vorstadtposse. Vorn, an der Rampe, steht ein Tisch mit drei Stühlen und handgeschriebenen Plakaten. Miguel de Unamuno spricht.

Der Club de Faubourg de Montmartre, eine bekannte Stätte für öffentliche Diskussionen, hat den Abend veranstaltet. Der Klubvorsitzende, Herr Poldès, ist ein geschickter und emsiger Mann: die besten und bekanntesten Leute Frankreichs sind bei ihm schon zu Gaste gewesen. Oft gibt es imaginäre Gerichtsverhandlungen: Raskolnikow wurde hier angeklagt und verteidigt, vor einem öffentlichen Forum. Diskussionsredner aller Parteien sind zugelassen. Heute abend geht es um die Spanier.

Es ist gesteckt voll. Sehr viel Intellektuelle, gute, feine Köpfe darunter – viele einfache Leute, ein paar spanische Arbeiter in weißen Mützen. Ein französischer Soldat in Uniform. Die elektrischen Lampen brennen trübe, es riecht nach Menschen, Dunst, Tabak und – merkwürdigerweise – Zitronen. Unamuno betritt die Bühne.

Unamuno hat den Kopf eines Gelehrten: er ist ein älterer Herr mit weißem Vollbart, weißem Haar, Brille, schmalen Schläfen. Poldès spricht die Eingangsworte. Unamuno beginnt.

Der alte Mann, Rektor an der Universität Salamanca, an der er dreiunddreißig Jahre tätig gewesen, ist vor Primo de Rivera geflohen. Der spanische Ludendorff, der Reklame nach ein Mussolini, dem Aussehen nach ein feister Feldwebelleutnant, hat den Professor verbannt, dessen scharfer Stil ihm unbequem wurde, und der ist aus seiner Verbannungsinsel, die ihm den sichern Tod gebracht hätte, geflohen. Dieser geistige Kämpfer hat dem Rivera ordentlich zugesetzt, mit Witz, mit Schärfe, mit allen gesegneten Mitteln, gegen die der wahre Mann der Tat nicht aufbegehrt, die aber den Soldaten zur Verzweiflung bringen: denn hier endet sein Reich, das schlecht riecht und statt produktiver Arbeit das leere Klappern einer uniformierten Nichtstuergesellschaft belohnt und bezahlt. In Spanien.

Nun sitzt Unamuno in Paris, und heute abend spricht er sich einmal vor aller Öffentlichkeit über sein Heimatland aus. Er spricht französisch, was ihm sichtlich schwer fällt. Manchmal tastet er mit ängstlichen Handbewegungen nach Worten, wendet sich wie suchend an Poldès, der neben ihm sitzt. Er spricht leise.

Er spricht von der Historie des spanischen Staatsstreichs; von den alten Marokko-Niederlagen, die bis auf das Jahr 1898 zurückgehen; von den habsburgischen Königsphantasien Alfons des Dreizehnten, der – wie jener Karl – davon träumte, in seinem Reich die Sonne nicht untergehen zu sehen; von der völligen Verantwortungslosigkeit, mit der er regierte. Verantwortung? »Si j'en ai une!« hat er einmal gesagt. Er spricht von der größenwahnsinnigen Kaste des spanischen Militärs, unter denen sich Analphabeten befänden; er spricht von den Verfolgungen, denen die Intellektuellen dort ausgesetzt sind und davon, dass sich die Deutschfreundlichkeit in Spanien eigentümlicherweise in den rechtsgerichteten Kreisen fände. Er berichtet von dem schlechten Privatleben des Diktators, von seiner Überheblichkeit, seiner politischen Unfähigkeit, seinem schwarzen Briefkabinett. Jedesmal, wenn er den verhaßten Namen Primo de Riveras ausspricht, zittert leise sein weißer Bart – wie muß er diesen Menschen hassen! Er spricht von dem marokkanischen Feldzug, der, mit dem falschen Pathos der Militärs versehen, den Charakter eines Kreuzzugs angenommen hatte, von Niederlagen und Fehlern, von Blutopfern und Korruption. Er ist der Typus des alten Liberalen, des feinen Individualisten, der die Welt, diese Welt nicht mehr versteht. Er schmeichelt sich bei den Franzosen nicht ein – er sagt, mit Recht: nicht auf die Staatsform – Republik oder Monarchie – komme es an, sondern auf die anständige Gesinnung, auf das, was für das Land fruchtbar und heilbringend sei.

Manchmal, wenn es französisch gar nicht weitergeht, spricht er spanisch. Es müssen viele Spanier im Saale sein, denn jedesmal erweckt er lachenden Beifall, verständnisinniges Murmeln, Händeklatschen. Dann versucht er das spanisch Gesagte zu übersetzen – aber es klingt matt; es ist, wie wenn einer den abgeschossenen Pfeil aufhebt und noch einmal die Flugbahn daherträgt: Seht, so ist er geflogen! Er spricht davon, dass vor zwei Tagen, am ersten Oktober, alle Universitäten Spaniens ihr Wintersemester eröffnet hätten, auch seine, auch Salamanca, auch die, an der er so lange gelehrt und gearbeitet hat. In seinen Worten ist eine gewisse Befriedigung, sich wieder einmal vor andern aussprechen zu können. »Et je vous prie de bien vouloir aider l'Espagne … !« Helfen? Ach, du lieber Gott! Wie wenn ein Schüler aus einer andern Schule seine Kollegen auffordert, zu helfen … Sie leiden ja selbst unter der Tyrannei ihrer Lehrer. Er gibt vorsichtig, sehr zögernd, ein Prognostikon für die Zukunft; wie alle Emigranten glaubt er, »so könne es nicht weitergehen«. Gewöhnlich geht es aber so weiter. Ironisch, traurig-ironisch macht er die Bemerkung, auf den Sturz des Kabinetts Primo de Rivera warten zu wollen, hier, in Paris. »Wie ich hoffe, nicht mehr sehr lange.« (Das erinnert an Carl Rösslers Wort vor dem wiener Staatsbeamten, der den ›Feldherrnhügel‹ verbot – solange die habsburgische Monarchie bestehe … ! Und Rössler: »Na, da warten wir halt noch die paar Wochen!« Das war im Jahre 1910.) Unamuno hat geendet.

Poldès erhebt sich. Er dankt Unamuno, er dankt den Zuhörern, und plötzlich sagt er: »Ich habe die Freude, Ihnen mitteilen zu können, dass einer unter uns im Saal ist … !« Und er nennt den Namen. Ein ohrenbetäubendes Händeklatschen und Beifallsrufen hebt an. Auch ich klatsche. Jean Goldsky ist im Theater, Jean Goldsky, der wegen ›Landesverrats‹ vom Bloc national angeklagt und ins Zuchthaus gesetzt worden ist, nunmehr begnadigt unter dem neuen Kurs. Goldsky erhebt sich bescheiden in seiner kleinen Holzloge: ein jüdisch aussehender Mann mit einem Kneifer und schwarzem Vollbart, etwas bleich und müde. Das Rufen ebbt ab. Die Diskussion beginnt.

In der Diskussion sprechen Franzosen, ein Portugiese, Spanier. Die Romanen sind meisterhafte Sprecher, mitunter nicht allzu fesselnd, auch sie – aber eigentlich immer wirkungsvoll. (Der Deutsche ist ein geborener schlechter Redner.) Es tritt auf ein Portugiese, Herr Christo.

Herr Christo ist Anhänger Mussolinis, hat ein Buch über diesen Helden geschrieben und sieht aus wie ein romanischer Reserveoffizier. Statt eines schwarzen Hemdes trägt er ein helles Monokel; er ist schlank, hat geölte, ganz glatte Haare, in denen sich die Birnen spiegeln, und ein paar böse Falten um den Mund. Er spricht durchaus nicht schlecht. »Ich bin enttäuscht«, sagt er, »von dem, was Herr Unamuno uns gesagt hat. Ich hatte gehofft, eine exakte Darstellung von den jetzigen Zuständen Spaniens zu bekommen, und was hat er uns gegeben? Eine boshafte Anfeindung rein persönlicher Natur.« Unamuno hats ihm leicht gemacht dem Angreifer – er hätte mehr Konkretes geben dürfen. Aber das ist nun vorbei. »Der General Primo de Rivera ist ein mittelmäßiger, aber ein ehrlicher Mann von reinstem Willen!« sagt Christo. »Huuuuu!« blökt die Versammlung. »Von reinstem Willen!« wiederholt der Redner. »Und sein Staatsstreich war durchaus notwendig, um ein Land aus dem tiefsten Staub emporzuziehen, in das es die Korruption des Parlamentarismus gebracht hat.« Und nun kommt die Arie des Faschismus: Was? Ihr wißt nicht, dass der Parlamentarismus eine gänzlich veraltete, unmoderne, verrottete Sache des 19. Jahrhunderts ist? Daß er gar nicht mehr de notre temps ist? Was? Ihr habt noch weite Hosen? Aber meine Lieben, das trägt heute kein Mensch mehr! Wir, die Faschisten, sind die Modernen, die Revolutionäre! Ihr seid die Reaktion! Wir sind das Neue und die neue Zeit!

Unten brodelts. Dem Versammlungsleiter gelingt es nur mit Mühe, das brandende Meer zu beruhigen. Nicht umsonst appelliert er an die Loyalität des Clubs de Faubourg. Das zieht. Herr Christo kann zu Ende sprechen. Er hat sicherlich Mut, dieser Florettfechter der Rede, denn es ist kein Spaß, vor einer fast geschlossenen Front von Gegnern ein Programm zu entwickeln. Der Mann glaubt, was er sagt, und sagts auch. Die Minorität klatscht ihm zu.

Unamuno antwortet, leise und nicht allzu wirkungsvoll. Um so lauter und um so wirkungsvoller aber antwortet der pariser Journalist Georges Pioch von der ›Ere nouvelle‹. Ein dicker Mann, mit Haargestrüppen hinter den Schläfen, er sieht aus wie ein Ableger von Chesterton. Er stellt sich mit seinen Elefantenbeinen direkt an die Rampe, spaziert da auf und ab und spricht, hinreißend, elegant, ganz locker, leicht und sehr klug und fein. Er fährt mit dem Faschismus ab, dass es nur so blitzt. Er windet dem Portugiesen das Florett aus der Hand und kehrt die Spitze um: Wenn de Rivera wirklich nur eine Mittelmäßigkeit, ein Dummkopf mit eben nur reinem Willen ist – so sehen also eure Diktatoren aus! Das betet ihr an? Das sind eure Leute? Nur reiner Wille? Aber ein böswilliges Genie ist mir zehnmal lieber! Und dann: de Rivera ist Militär! Und nun gehts los. »Un soldat complet – c'est le comble de l'imbécilité!« Und: »Déjà le fait d'avoir choisi la carrière de militaire … !« Der Saal steht auf dem Kopf und heult auf. Dieses siegreiche Land, in dem, wie man bei uns denken sollte und auch denkt, die Offiziere die Zivilisten von den Trottoirs herunterjagen könnten, schreit und jubelt. »A bas l'armée! A bas l'armée!« Und Pioch schließt: »Ich werde in der nächsten Woche fünfzig Jahre. Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, so muß ich sagen, dass ich manches gut und manches schlecht gemacht habe. Eins habe ich gut gemacht: Ich bin Soldat der zweiten Klasse. Und wenn es eine vierte Klasse gäbe … « Er kann den Satz nicht vollenden, hundert Hände strecken sich ihm entgegen.

Christo antwortet. Unamuno antwortet. Pioch antwortet noch einmal, aus seiner Loge. Dabei fällt der Satz: »Das ist das Gute am Sozialismus, dass er nichts bezahlt. So hat er also auch Herrn Mussolini nicht bezahlen können. Sozialisten werden immer erst etwas, nachdem sie ihre Sache verraten haben!«

Wem sagen Sie das –!

Ein Spanier spricht, der nicht mit Unamuno einverstanden ist, noch ein Spanier. Ein französischer Student, sehr gebildet, sehr kultiviert, der in Spanien studiert hat. Er erzählt von der Uniformiertheit der spanischen Studenten, auch sie stets verfolgt und bedrückt von ihren Staatsfeldwebeln.

Poldès schließt und kündigt die nächsten Versammlungen an: französische Kolonialskandale; die Heirat der Kriegsverstümmelten; die Klerikalen Elsaß-Lothringens, vertreten durch einen Katholiken, die Gegner, vertreten durch einen Abgeordneten der Linken – gute Namen Frankreichs werden genannt.

Langsam drängen wir uns hinaus. Ich denke:

Wie sehen bei uns die Gelehrtenköpfe aus? Was sagen diese Gelehrten öffentlich? Hier sitzt Goldsky – wo sitzt Fechenbach? Wer befreit den? Wie hat ein siegreiches Land auf das Militär reagiert? Wie reagiert ein besiegtes? Wo sind unsre vereinigten Sozialdemokraten, diese schlimmsten Feinde eines radikalen Fortschritts, wenn Diskussionen der Geistigen anheben? Wer kümmert sich bei uns um Unamuno und um ausländische Probleme? Wer weiß davon?

Dahinten liegt Montmartre mit den bunten Lichtern, die für viele Reisende den Inbegriff von Paris bilden. So, wie in Spanien Stiergefechte und Ballspiele, Kastagnetten und schwarzäugige Frauen …

Ehre den vertriebenen Arbeitern und Intellektuellen, Ehre den Syndikalisten Spaniens, die das Joch der Fremde auf sich genommen haben um der Reinheit einer Idee willen und für den Traum einer neuen Zeit!

Ignaz Wrobel
Die Weltbühne, 04.11.1924, Nr. 45, S. 682.