Erstes Kapitel.
[Vorläufige Definition der Gerechtigkeit]


(1129a) In Bezug auf die Gerechtigkeit und die Ungerechtigkeit ist zu untersuchen, mit was für Handlungen sie es zu tun hat, was für eine Mitte die Gerechtigkeit ist, und wovon das Gerechte die Mitte ist. Bei dieser Untersuchung wollen wir dasselbe Verfahren wie bei den vorhergehenden beobachten.

Wir sehen, dass jedermann mit dem Wort Gerechtigkeit einen Habitus bezeichnen will, vermöge dessen man fähig und geneigt ist, gerecht zu handeln, und vermöge dessen man gerecht handelt und das Gerechte will, und ebenso mit dem Worte Ungerechtigkeit einen Habitus, vermöge dessen man ungerecht handelt und das Ungerechte will. Dieses gelte denn auch uns als erste und allgemeinste Voraussetzung. Denn mit einem Habitus hat es eine andere Bewandtnis als mit den Wissenschaften und Vermögen. Ein und dasselbe Vermögen und ein und dasselbe Wissen umfaßt die Gegensätze; ein Habitus aber, der es mit dem einen Glied des Gegensatzes zu tun hat, hat es nicht auch mit dem anderen zu tun. Von der Gesundheit z. B. kann nicht Entgegengesetztes ausgehen, sondern nur Gesundes. Wir sprechen von gesundem Gange, wenn Einer so geht, wie es ein gesunder Mensch tut. Demgemäß wird ein Habitus bald aus dem entgegengesetzten Habitus, bald aus seinem Subjekt erkannt. Weiß man, was guter Stand der Gesundheit ist, so weiß man auch, was schlechter Stand der Gesundheit ist, und ebenso wird aus dem, was Gesundheit schafft, die Gesundheit und aus dieser jenes erkannt. Ist guter Stand der Gesundheit so viel als Festigkeit des Fleisches, so muß ihr schlechter Stand Schwammigkeit des Fleisches, und was Gesundheit schafft, das sein, was dem Fleische Festigkeit gibt.

Wird das eine Glied eines Gegensatzes vieldeutig ausgesagt, so folgt meistens, dass auch das andere so ausgesagt wird; ist z. B. das Wort Recht vieldeutig, so ist es auch das Wort Unrecht.


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