Zwölftes Kapitel.
[Unrechttun durch Austeilen, nicht durch Empfang]
Noch sind von den Fragen, die wir uns zur Besprechung vorgesetzt haben, zwei zu erledigen, die eine, ob etwa Unrecht tut wer mehr als billig austeilt, oder wer mehr als billig empfängt; die andere, ob man sich auch selbst Unrecht tun kann.
Bezüglich der ersten Frage erhebt sich folgendes Bedenken. Wenn es so sein kann, wie wir oben gesagt haben, dass der, der zuviel austeilt, nicht der, der zuviel erhält, Unrecht tut, so tut einer, wenn er dem anderen mit Wissen und Willen mehr zuteilt als sich, sich selbst Unrecht. Nun aber sind es erfahrungsmäßig grade die bescheidenen Charaktere, die so zu handeln pflegen. Der billige Mann ist ja sich selbst zu verkürzen geneigt. Oder ist es mit der Selbstverkürzung doch nicht so schlechthin richtig? Der Betreffende gewinnt nämlich etwa bei Gelegenheit ein Mehr an anderem Gut, an Ehre z. B. oder sittlichem Verdienste. Eine weitere Lösung dieser Schwierigkeit ergibt sich aus der gegebenen genaueren Bestimmung des Unrechttuns. Dem Manne, an den wir denken, geschieht nichts gegen seinen vernünftigen Willen, daher er auch wegen seiner Liberalität kein Unrecht, sondern, wenn man denn will, nur einen Schaden erleidet.
Es ist aber auch aus positiven Gründen klar, dass immer der zuviel Austeilende, nicht der Empfänger, Unrecht tut.
Nicht der, bei dem sich Ungerechtes vorfindet, sondern der, von dem gilt, dass er dies mit Willen herbeigeführt hat, tut Unrecht. Das ist aber der, in dem der Anfang der Handlung liegt, ein Anfang, der eben in dem Austeilenden, nicht in dem Empfänger zu suchen ist.
Da ferner das Tun vieldeutig ausgesagt wird, und eine Tötung z. B. auch durch Unbeseeltes und durch die Hand und durch einen von seinem Herrn beauftragten Diener geschehen kann, so tun Diener, Hand und Seelenloses kein Unrecht, sondern bloß was unrecht ist (und so tut auch der leidend das zuviel Empfangende kein Unrecht, wohl aber der Austeilende).
Ein Richter endlich, der unwissentlich ein Urteil gefällt hat, begeht kein gesetzliches Unrecht, und sein Urteil ist nicht ungerecht, wenn es auch so gut wie ungerecht ist – denn das gesetzliche (positive) Recht ist ein anderes als das erste, das natürliche Recht (worüber man nicht unwissend sein kann) –; (1137a) hat er aber wissentlich ungerecht entschieden, so teilt er sich auch selbst ein ungerechtes Mehr zu, sei es an Gunst bei der einen, sei es an Rache gegenüber der anderen Partei. Gerade so nun, wie wenn einer sich in ungerechtes Gut mit anderen teilte, hat der, der aus solchen Rücksichten einen ungerechten Spruch gefällt hat, zu viel. Denn auch wer in einem Prozesse über den Besitz eines Ackers (in gewinnsüchtiger Absicht) entschieden hat, bekommt nicht den Acker, sondern Geld.