Elftes Kapitel.
[Kann man freiwillig Unrecht leiden?]


Man könnte aber zweifeln, ob die gegebenen Bestimmungen über Unrechtleiden und Unrechttun zutreffend sind, wenn es für's erste einen Fall geben kann, wie den, den Euripides in den ungereimten Worten vorträgt:

 

»Getötet hab' ich meine Mutter, kurz gesagt,

Sie wollt', ich wollte – nein, sie wollt', ich wollte nicht«;

 

ob es nämlich in Wahrheit möglich ist, mit Willen Unrecht zu leiden, oder ob nicht vielmehr alles Unrechtleiden unfreiwillig ist, wie alles Unrechttun freiwillig. Und ist etwa alles (Unrechtleiden) dies, oder (alles) jenes, wie alles Unrechttun freiwillig, oder ist es bald freiwillig, bald unfreiwillig?

Sodann wirft die gleiche Frage sich beim Rechtleiden auf. Alles Rechttun ist nämlich freiwillig, und so scheint die Annahme begründet, dass zu beidem (dem Unrecht- und Rechttun) das Unrecht- und Rechtleiden in Bezug auf Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit sich gleichmäßig umgekehrt verhält. Es erschiene auch beim Rechtleiden als Ungereimtheit, wenn es immer freiwillig sein sollte, da manche auch ihr Recht gar nicht freiwillig erleiden.

Es liegt auch noch insofern Anlaß zu Bedenken vor, als man zweifeln kann, ob jeder, der erlitten hat was Unrecht ist, auch Unrecht leidet, oder ob es sich nicht vielmehr mit dem Erleiden ebenso wie mit dem Tun verhält. Man kann ja an beiden Weisen des Rechts (dem Tun und Leiden) mitfolgend Anteil haben, wie auch an den beiden Weisen des Unrechts. Etwas Unrechtes tun ist ja nicht dasselbe wie Unrechttun, etwas Unrechtes erleiden nicht dasselbe wie Unrechtleiden. Und dieselbe Bewandtnis hat es mit dem Rechttun und Rechtleiden. Denn es ist unmöglich, Unrecht zu leiden, wenn niemand ist, der Unrecht tut oder sein Recht zu leiden, wenn niemand ist, der recht tut.

Und, wenn Unrechttun nichts weiter ist, als freiwillig einen schädigen, und freiwillig schädigen so viel ist, als schädigen mit Erkenntnis der geschädigten Person und des Mittels und der Weise der Schädigung, und wenn z. B. der Unenthaltsame freiwillig sich selber schädigt, so leidet er demnach freiwillig Unrecht, und so wäre es möglich, sich selbst Unrecht zu tun – das ist auch noch eine Schwierigkeit, die der Lösung bedarf, nämlich: (1136b) ob man sich selbst Unrecht tun kann.

Ferner, man kann sich aus Unenthaltsamkeit freiwillig von einem anderen, der ebenfalls freiwillig handelt, Schaden zufügen lassen, so dass es also möglich wäre, mit Willen Unrecht zu leiden.

Oder sollte etwa die gegebene Bestimmung nicht richtig sein, sondern zu der Bedingung, dass die Schädigung mit Erkenntnis der geschädigten Person und des Werkzeugs und des Wie geschehen muß, noch als weitere gehören, dass sie gegen den Willen des Geschädigten erfolgen muß? Geschädigt werden demnach und materielles Unrecht leiden kann man mit Willen, aber förmliches Unrecht leidet niemand mit Willen. Denn das will niemand, auch der Unenthaltsame nicht, vielmehr handelt derselbe nur gegen seinen eigenen Willen. Einerseits will ja niemand solches, was er nicht für tugendhaft hält, und anderseits tut der Unenthaltsame nicht, was er selber glaubt tun zu sollen. Wer aber das Seinige hingibt, wie Homer den Glaukus dem Diomedes geben läßt:

 

»Die goldene Rüstung für Erz;

Jene war hundert Ochsen an Wert gleich, diese nur neunen«,

 

der leidet kein Unrecht; denn es steht bei ihm zu geben, Unrecht zu leiden aber steht nicht bei uns, sondern dazu gehört, dass Einer sei, der Unrecht tut.

So erhellt denn, dass das Unrechtleiden nicht freiwillig ist.


 © textlog.de 2004 • 21.11.2024 18:00:33 •
Seite zuletzt aktualisiert: 16.10.2006 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright