Karl Ferdinand Wiesike


geb. 24.Dezember 1798, gest. 11.Oktober 1880

 

Nun denn, der alte Herr, der uns mit so viel Liebenswürdigkeit zu begrüßen und mit so viel Gastlichkeit zu bewirten wußte, war Karl Ferdinand Wiesike, geb. den 24. Dezember 1798 zu Brandenburg a. H. Er war Schul- und Altersgenosse von dem als Reichstagsabgeordneten vielgenannten und vielgefeierten Oberbürgermeister Ziegler, dem er, bis an das Ende seiner Tage, mehr ein Interesse als eine besondere Bewunderung entgegenbrachte. Schulkameraden kennen sich zu gut, um gegenseitig an einen Glorienschein recht glauben zu wollen. Noch berühmtere haben das erfahren müssen.

K. F. Wiesikes Knaben- und Jünglingsjahre verliefen durchschnittsmäßig; er war ein guter Schüler, ohne sich gerade hervorzutun, lernte die Handlung im Hause seines Vaters und ging dann nach Berlin, um daselbst in das bekannte Heylsche Geschäft, an der Ecke der Leipziger- und Charlottenstraße, einzutreten. Hier las er viel, studierte und musizierte (seine Gabe für Musik war hervorragend) und kehrte Anfang der zwanziger Jahre nach seiner Vaterstadt zurück, woselbst er bald danach, 1823 wenn ich nicht irre, das dem Schloß Plaue gegenübergelegene, trotz der weiten Entfernung aber zu Stadt Brandenburg gehörige Wiesenterrain pachtete. Frühere Pächter waren hier gescheitert, weil diese beständig der Havelüberschwemmung ausgesetzte »Wische« nur zu zwei Prozent rentiert hatte. K. F. Wiesike ließ sich aber diese Dinge, die man ihm warnungshalber erzählte, wenig anfechten, begann vielmehr sofort mit Drainierungen und Eindeichungen und schritt, nachdem er seinen Besitz auf diese Weise sichergestellt hatte, des weiteren dazu, ihn für die Zukunft auch fruchtbar zu machen. Zu diesem Behufe schloß er mit den Kasernenverwaltungen der Potsdamer Kavallerieregimenter Kontrakte ab und ließ den Dünger in großen Havelkähnen heranfahren. Daß dies alles von den Um- und Anwohnern Plaues als weggeworfenes Geld, als Übermut und Unsinn bezeichnet und belacht wurde, bedarf selbstverständlich keiner Versicherung. Wann wär' es anders gewesen? Das Lachen aber war bald auf Wiesikes Seite. Hand in Hand mit den Meliorationen ging ein Ziegeleibetrieb und Torfstich, wozu das ziemlich ausgedehnte Terrain ebenfalls das Material hergab, und ehe die vierziger Jahre heran waren, erwiesen sich halb unwirtbare Strecken, die seit Menschengedenken für so gut wie wertlos gegolten hatten, als ein wertvoller Besitz. 1844 löste Wiesike den auf dem Grund und Boden lastenden Kanon ab und hatte vier Jahre später (1848) infolge veränderter Gesetzgebung das Glück, das bis dahin bloß in Erbpacht gehabte Stück Land sich als freies Eigentum zufallen zu sehen. K. F. Wiesike selbst aber ließ, als seine Bemühungen bis zu diesem Punkte gediehen waren, nach Vorbild des Königs von Thule »alles seinen Erben« und spann sich, von etwa 1853 an, immer fester in das schon erwähnte, primitive Wohnhäuschen ein, von dem aus er, durch alle zurückliegenden dreißig Jahre hin, seine Meliorationen unternommen hatte. Da saß er nun, weltabgeschieden, und begann als ein Fünfundfünfzigjähriger – der sich übrigens längst vorher mit der 1808 zu Berlin (Breitestraße) geborenen Julie Tannhäuser verheiratet hatte – sein eigentliches Leben, ein Leben, das von diesem Zeitpunkt an nur noch drei Dingen gewidmet war: der Schöpfung eines Parks, der Homöopathie Hahnemanns und der Philosophie Schopenhauers.

Zunächst der Park. Wiesike fing um das genannte Jahr (1853) an, sich in die Schönheit der Natur liebevoll zu versenken, was doch wieder etwas anderes war, als das Urbarmachen von Sand und Sumpf zu rein praktischen Zwecken. Ein den Boden bestellender Landmann ist in vielen Stücken mehr als ein Gärtner, aber das Verhältnis, in das der letztere zur Natur tritt, ist doch ein intimeres: er nimmt jeden Zoll breit Erde in Pflege und während in der Landwirtschaft das Einzelne und Kleine wenig bedeutet, bedeutet es in der Gartenbeschäftigung alles. Das Terrain, auf dem jetzt, Schloß Plaue gegenüber, ein Park entstehen sollte, war das denkbar schlechteste, der findige Kopf aber, der an eben dieser Stelle fruchtbare Ländereien und schließlich ein Freigut herzustellen gewußt hatte, konnte bei dem vergleichsweise Leichteren, das jetzt vorlag, nicht wohl scheitern. Erde wurde herangefahren, ein Wasserturm errichtet, Hecken und Gräben gezogen, und siehe da, ehe ein Jahrzehnt um war, gab es hier Anlagen mit Rondellen und Schlängelwegen, mit Rosen- und Verbenenbeeten und auf demselben Ufervorsprunge, wo, 1414, neben der »großen Büchse« die zu schleudernden Steinkugeln gelegen hatten, lagen jetzt Melonen oder reiften Reinetten und pfundschwere Birnen an dem am Boden sich hinziehenden Spalier. Dazwischen standen Pfirsich- und Aprikosenbäume und in den Flieder- und Goldregenbosketts schlugen die Nachtigallen. Alsbald lagen sich Schloß Plaue und die zur »Villa Wiesike« umgewandelte ehemalige Lehmkate gegenüber, und wenn das eine lange Front bildende Schloß durch den Blick auf das Idyll und seine Gartenanlagen gewann, so gewann das Idyll durch den Blick auf das Schloß mit seinen in der Sonne blinkenden Fensterreihen und seinen historischen Erinnerungen.

So viel über die Schöpfung eines Parkes. Nebenher aber lief, wie schon angedeutet, des alten Wiesike Beschäftigung mit der Homöopathie, zu deren begeisterten Anhängern er freilich schon um viele Jahre früher gehört hatte, jedenfalls früh genug, um bei Schilderung dessen, was er auf diesem Gebiete tat, fast bis auf die Tage seines ersten Erscheinens in Plaue zurückgreifen zu müssen. Schon in den zwanziger Jahren entschloß er sich, gleichviel ob um Heilungs oder Unterweisungs willen, eine Reise nach Köthen, dem damaligen Wohnsitze Hahnemanns, zu machen und kehrte von diesem Ausfluge nicht nur als ein enthusiastischer Anhänger, sondern auch als ein ausübender Adept der neuen Lehre zurück. Die Kunde davon drang in alle Kreise, namentlich zu den Armen (denn alles war unentgeltlich) und Haus Wiesike wurde nunmehr ein Wallfahrtsort für die Kranken und Gebrechlichen des Havellandes, die zu vielen Hunderten kamen und auf Flur und Treppenstufen und, als ihrer immer mehr wurden, auch wohl im Freien lagernd, die Hilfe des Wunderdoktors anriefen. Dieser selbst sah sich bald außerstande, dem Andrange zu genügen und infolge davon gezwungen, sich nach Beistand umzuschauen, den er auch fand, am hingebendsten und erfolgreichsten in seiner Frau, die ganz an der Begeisterung ihres Mannes teilnahm. Das ging so durch Jahre hin. Endlich wurde der Krankenstrom so groß, daß eine Verschwörung der mit Untergang bedrohten Doktoren und Apotheker nicht ausbleiben konnte, welcher Verschwörung – der übrigens der Wortlaut des Gesetzes zur Seite stand – es nach allerlei Zwischenfällen gelang, als Sieger aus dem hartnäckig geführten Kampfe hervorzugehen. Eine Strafandrohung folgte der anderen und erreichte, daß das als »Medizinalpfuscherei« gebrandmarkte Homöopathisieren eines Laien sein Ende nahm. Was aber nicht sein Ende nahm, das war Wiesikes Begeisterung, die, sozusagen, nur Weg und Kleid wechselnd, sich sofort auf neue Weise zu betätigen begann. Anstatt homöopathisch zu heilen, ging der Alte jetzt zu homöopathischen Studien und von diesen Studien wiederum zu Plänen über, die, kleinerer Dinge zu geschweigen, in nichts Geringerem als in Herstellung der Ebenbürtigkeit zwischen Homöopathie und Allopathie und in Gründung eines homöopathischen Lehrstuhls an der Universität Berlin gipfelten. Er deponierte zu diesem Behuf ein Kapital von hunderttausend Mark und stellte, wenn ich recht berichtet bin, die seinem Zweck und Ziel entsprechenden Anträge. Sah sich aber freilich damit zurückgewiesen.

Die Pflege des Parks war viel, aber sie war Sommerarbeit und auch das nebenherlaufende Studium der Homöopathie reichte nicht aus, um, wenn der Sommer vorüber, die langen, langen Wintertage zu füllen. So kam es, daß Wiesike, der der geistigen Anregung wie des täglichen Brotes bedurfte, neben Park und Homöopathie nach etwas Neuem Umschau hielt. Und dies Neue fand sich endlich. Es war die Zeit des ersten intimeren Bekanntwerdens Schopenhauers in Berlin, also etwa die Zeit der Regentschaft, als ein Ungefähr unseren Wiesike mit dem damaligen Chefredakteur der »Vossischen Zeitung«, Dr. Linder, einem leidenschaftlichen Schopenhauerianer, zusammenführte. Diese Begegnung war entscheidend für Wiesike. Nichts von dem Alten wurde beiseite geschoben, was aber, von Stund' an, sein eigentlichstes Denken und Fühlen ausmachte, seiner Tätigkeit und seinem Gespräche den Stempel gab, das war doch Schopenhauer und die Schopenhauersche Weltanschauung. Daß er alle Werke des Philosophen kennenlernte, verstand sich von selbst, aber er las auch jede Zeile, die sich in Lob oder Tadel mit dem Manne beschäftigte, der ihm jetzt Leuchte und Gegenstand des Kultus war. Jedes Schopenhauersche Wort war ihm Weisheit, er sog wirkliche Lebenskraft daraus, und wenn Oberpräsident Schön auf die Frage, »was ihn, trotz seiner hohen Jahre, bei so guter Gesundheit erhalten habe« seinerzeit geantwortet hatte: »Kant und Kapuste (Sauerkraut)«, so hätte Wiesike mit gleichem Rechte antworten können: »Schopenhauer und Homöopathie«. Dankerfüllt trat er mit dem Frankfurter Philosophen in Korrespondenz, bald auch in persönliche Beziehungen, und beteiligte sich von da ab bei jedem Huldigungsakte, den die Schopenhauer-Enthusiasten inszenierten. Wiesike konnte sich nicht genug tun in Anerbietungen und Darbringungen und als Schopenhauers siebzigster Geburtstag gefeiert wurde, war er mit einem großen Goldpokal in der vordersten Reihe der Gratulanten. Einzelne Schwächen des so leidenschaftlich von ihm Gefeierten, seine Ruhmsucht und Eitelkeit, seine selbstische Begehrlichkeit und ein gewisser Mangel an Gentilezza entgingen ihm nicht, aber seine Bewunderung der geistigen Superiorität des Mannes war so groß, daß er ihm diese Mankos gern verzieh. »Wo viel Licht ist, ist viel Schatten.« Er hielt es für seine Pflicht, über diese Schatten hinwegzusehen, und wenige Philosophen (auch die größten mit eingerechnet) wird es gegeben haben, die sich rühmen dürfen, in gleicher Weise gekannt, studiert und auswendig gelernt worden zu sein. Bis zu seiner letzten Stunde hielt Wiesike bei seinem Liebling aus, auch seinerseits »vivant et mourant comme philosophe«.

 

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