Karl Ferdinand Wiesike.
Besitz und Lebensgewohnheiten


Als ich Wiesike zum ersten Male sah, war er sechsundsiebzig Jahre alt und ein mehrtägiger Aufenthalt bot mir Gelegenheit, nicht bloß den alten Herrn in Person, sondern auch seinen Besitz und seine Lebensgewohnheiten kennenzulernen.

Die Wiesikesche Villa war bei seinem Eintreffen an dieser Stelle nicht viel besser als eine Lehmkate gewesen, die nur gerade den Ansprüchen eines Meiers oder Wirtschaftsinspektors genügen konnte. Wiesike hatte demungeachtet nicht viel daran geändert und statt Umbauten vorzunehmen, sich darauf beschränkt, anzubauen, wie es das Bedürfnis erheischte. So war etwas wenig Künstlerisches, aber dafür etwas Pittoreskes und zugleich sehr Praktisches entstanden. Überall befanden sich Treppen und Balkone, während unter den verschiedenen Anbauten der große, schon erwähnte Speisesaal und neben demselben Wiesikes Arbeitszimmer den ersten Rang einnahmen. Der Speisesaal war kahl, nach dem Satze, »daß der Schmuck eines Eßsaals auf die Tafel, aber nicht an die Wände gehöre«, desto bunter dagegen sah es in den angrenzenden Zimmern aus, die, wenn auch nichts künstlerisch Hervorragendes, so doch viel Interessantes beherbergten. Über die Familienbilder, untermischt mit mehr oder minder gleichgültigen Stichen, geh' ich hinweg; nicht so über den Bilderschmuck in seinem Arbeitszimmer. In diesem befanden sich vier kleine Marinen aus dem Nachlasse des durch die Tannhäusersche Familie mit ihm verwandt gewordenen Direktors von Klöden, ferner Statuetten von Lessing und Kant, ein großes Ölbild von Hahnemann (Kniestück) und ein sehr gutes Porträt, Bruststück, von Schopenhauer. Letzteres erstand Wiesike in Frankfurt a. M., als nach dem Tode Schopenhauers die Hinterlassenschaft desselben auf einer Auktion versteigert wurde. Vielleicht auch, daß er mit seinem Angebot diesem Auktionsakte zuvorkam und ihn überhaupt unnötig machte. Zugleich erwarb er viel von dem, was sonst noch den Schopenhauerschen Nachlaß ausmachte, darunter Manuskripte, Bücher und ein großer, schwer vergoldeter Pokal, der dem Frankfurter Philosophen, bei Gelegenheit seines siebzigsten Geburtstages, von seinen Verehrern überreicht woren war. Unter diesen Verehrern hatte Wiesike mit seiner Beisteuer derart vorangestanden, daß wohl gesagt werden darf: »diese Verehrer waren er«, und so kam es denn, daß Wiesike den Pokal zweimal zu bezahlen hatte, erst als er ihn schenkte und zweitens als er ihn aus dem Nachlasse zurückerwarb.

Über die Bücher – eine ganze Bibliothek von Werken, die sich sämtlich mit Schopenhauer und seiner Philosophie beschäftigten – ist an dieser Stelle wenig zu sagen, aber der damals noch vorhandenen Manuskripte muß hier ausführlicher Erwähnung geschehen. Das umfangreichste darunter bestand aus einhundertdreiundvierzig großen Blättern zum zweiten Bande der zweiten Auflage seines berühmten Werkes: »Die Welt als Wille und Vorstellung«, zugleich mit Inhaltsverzeichnis und Vorrede für das Ganze.

Des weiteren gehörten zu diesen Manuskripten ein langer, essayartiger, an Sir Charles Eastlake, den Direktor der Londoner Kunstakademie, gerichteter Brief. Dieser Brief behandelt die Goethesche Farbenlehre und beginnt: »Sir. Allow me to hail and to cheer You as the propagator of the true theory of colours into England and as the translator of a work, which occupied its authors thoughts, during all his lifetime, far more, than all his poetry, – as his biography and memoirs amply testify. As to myself J am G'.s personal scholar and first publicly avowed proselyte in the theory of colours. In the year 1813 and 14 he instructed me personally, lent me the greater part of his own apparatus and exhibited the more compound and difficult experiments himself to me. Accordingly You will find me mentioned in his: ›Tag- und Jahreshefte‹ under the year 1816 and 1819.« Also in Übersetzung etwa: Gestatten Sie mir, hochgeehrter Herr, Sie als Verbreiter der richtigen Farbenlehre in England zu begrüßen, zugleich auch als den Übersetzer eines Werkes, das die Gedanken seines Autors mehr als alle seine poetischen Arbeiten (wie seine biographischen Aufzeichnungen bezeugen) beschäftigte. Was mich selbst angeht, so bin ich Goethes persönlicher Schüler und der erste, der sich, als ein Bekehrter, öffentlich zu seiner Farbentheorie bekannte. In den Jahren 1813 und 1814 unterwies er mich persönlich darin, lieh mir einen großen Teil seiner Apparate und erklärte mir die komplizierteren und schwierigeren Experimente. So werden Sie denn auch, hochgeehrter Herr, meiner in den »Tag- und Jahresheften« von 1816 und 1819 erwähnt finden.

So interessant dieser essayartige Brief in seinem weiteren Verlaufe ist, so wird er an Interesse doch übertroffen von vier andern an Brockhaus, Firma und Druckerei, gerichteten Briefen beziehungsweise Briefentwürfen. Der erste derselben, in dem der Verfasser immer neue Anläufe nimmt (was dann selbstverständlich zu Wiederholungen führt), lautet im wesentlichen wie folgt:

»An Friedrich Brockhaus. Ew. Wohlgeboren werden es ganz in der Ordnung finden, daß ich mich zunächst an Sie wende, da ich den zweiten Band der ›Welt als Wille und Vorstellung‹, den ich so eben vollendet habe, herauszugeben beabsichtige. Hingegen mag es Sie wundern, daß ich diesen erst nach einem Zeitraum von vierundzwanzig Jahren auf den ersten Band folgen lasse. Die Ursache ist jedoch ganz einfach diese, daß ich nicht früher fertig geworden bin, obwohl ich alle jene Jahre hindurch wirklich unausgesetzt daran gearbeitet habe, indem ich fortwährend die Gedanken niederschrieb und berichtigte, welche nun, in einer für das Publikum passenden Form, in diesem zweiten Bande von mir höchst sorgfältig und con amore dargestellt worden sind. Länger wollte ich es nicht anstehen lassen, abgesehen, daß ich so eben mein fünfundfünfzigstes Jahr zurückgelegt habe, (wonach der Brief 1843 geschrieben sein muß), also in einem Alter stehe, wo schon das Leben anfängt, ungewisser zu werden, und selbst wenn ich noch lange leben sollte, ich alsdann darauf gefaßt sein muß, daß meine Geisteskräfte nicht die volle Energie behalten werden, in der sie jetzt noch stehn. Ich habe wirklich, unter beständigem Arbeiten an diesem Bande, die Schwelle des Alters erreicht, was ich freilich nicht voraussah. Aber was lange bestehen soll, braucht lange Zeit zum Werden und meine persönliche Wohlfahrt war nicht dabei betheiligt noch bezweckt.«

 

Hier folgen nun einige undeutliche Stellen. Dann fährt Schopenhauer fort:

 

»Schon 1835 hatten Sie nur wenige Exemplare übrig; es kann also unmöglich viel mehr da sein. Ich wünsche sehnlichst, vor meinem Ende mein Werk in einer vollständig korrekten und würdigen Ausgabe zu sehen und es so zurückzulassen. Denn man wird gegen mich nicht immer so ungerecht sein, wie jetzt. Ich weiß, daß durch das planmäßig durchgeführte Sekretieren meiner Schriften, durch Schweigen darüber von Seiten der Professoren, deren Scheinphilosophie neben meiner ernstlich gemeinten nicht bestehen kann, auch Sie haben leiden müssen. Aber auf die Länge wird es nicht gehn. Es sollte mich wundern, wenn von den vielen Gelehrten Ihrer Bekanntschaft nicht Einer Sie über den wahren und verkannten Werth meiner Schriften aufgeklärt haben sollte. Einzelne starke Äußerungen darüber sind auch öffentlich gemacht worden, so z.B. in Rosenkranz' Geschichte der Kantschen Philosophie, desgleichen in einem Aufsatz im ›Pilot‹ Mai 1841: ›Jüngstes Gericht über die Hegelsche Philosophie‹, sogar in den Halleschen Jahrbüchern (denen ich doch als der stärkste Verdammer der Hegelei todt verhaßt bin) und zwar in der Kritik der Krauseschen Schriften cirka im Juli 1841. Wenigstens könnten Sie daraus die Wahrheit muthmaßen, daß ich nämlich Einer bin dem großes Unrecht geschieht (worunter Sie mitgelitten haben) und daß ich es einmal überwinden werde.«

Dann im weiteren Verfolge:

»Wenn Sie sich zu einer zweiten Auflage entschließen, erbiete ich mich, falls Sie es für nöthig erachten, allem Honorar für beide Bände zu entsagen. Wahrlich keine Kleinigkeit. Aber mir liegt daran, die Wirksamkeit meiner Mühen zu erleben, und glauben Sie mir, das sind die echten Autoren, die so denken, und nicht sind es die auf Gewinn gerichteten. Im Falle Sie sich also dazu entschließen, werde ich an den vier Büchern des ersten Bandes nur wenige und nicht bedeutende Verbesserungen anbringen, hingegen den Anhang, welcher die Kritik der Kantschen Philosophie enthält, durch größere Änderungen und manche Zusätze um etwa einen Bogen vermehren. Ich kann Ihnen nur sagen, daß mein Buch nicht, wie die meisten, ein bloßes Scheinbuch, sondern ein wirkliches Buch ist, d.h. ein solches, welches bleibenden Werth hat, daher lange bestehen und viel Auflagen erleben wird, obgleich ich wohl weiß, daß Sie mir das nicht glauben werden. Am Ende kann es Ihnen auch gleichgültig sein. Denn Ihre Sache ist der Debit der nächsten Jahre und daß der rasch gehe, kann ich Ihnen nicht garantiren, sondern nur das Eine, daß, wenn es daran fehlt, dies nicht die Schuld des Buches, sondern des Publikums sein wird.« Und zum Schluß: »Dieser zweite Theil ist bei weitem wichtiger, als der erste und übertrifft ihn an Gründlichkeit und Reichthum der Kenntnisse unendlich, eben weil er die Frucht fünfundzwanzigjährigen Studiums und Nachdenkens und der reiferen Jahre ist. Mein System, welches der erste Band im Umriß giebt, tritt hier in der Vollendung auf, die ihm nur das Nachdenken und der Fleiß eines ganzen damit zugebrachten Lebens geben konnte. Denn, wenn in der ersten, noch unvollendeten Erscheinung desselben, nur Einzelne die Wichtigkeit und den Werth erkannt haben und es bei dem Gewirre der materiell interessirten Parteien nicht durchdringen konnte, so dürften wir doch hoffen, daß es jetzt in seiner vollendeten Gestalt und bei der schon eingetretenen Entlarvung der bloßen Spiegelfechtereien, endlich durchdringen wird.«

 

So der Brief.

 

All dies, ursprünglich in einer lesbaren Handschrift geschrieben, ist nichtsdestoweniger, und zwar um der fünf- und sechsfachen, an allen nur erdenklichen Stellen angebrachten Korrekturen willen, überaus schwer zu entziffern. Alle möglichen Zeichen stehen in seinem Dienst, Bojen oder Signallaternen, die den Weg zeigen sollen, aber so zahlreich sind, daß sie mehr verwirren als orientieren.

Vielleicht der interessanteste dieser vier an Brockhaus beziehungsweise an die Brockhaussche Druckerei gerichteten Briefe, ist der, der die Überschrift trägt »An meinen Setzer«. Derselbe (spezifisch schopenhauersch) lautet:

»Mein lieber Setzer. Wir verhalten uns zu einander wie Leib und Seele, müssen daher, wie diese, einander unterstützen, auf daß ein Werk zu Stande komme, daran der Herr (Brockhaus) Wohlgefallen habe. Ich habe hierzu das Meinige gethan und stets, bei jeder Zeile, jedem Wort, ja jedem Buchstaben, an Sie gedacht, ob Sie nämlich es auch würden lesen können. Jetzt thun Sie das Ihre. Mein Manuskript ist nicht zierlich, aber sehr deutlich, auch groß geschrieben. Die viele Überarbeitung und fleißige Feile hat viele Korrekturen und Einschiebsel herbeigeführt, jedoch Alles deutlich und mit genauester Hinweisung auf jedes Einschiebsel durch Zeichen, so daß Sie hierin nie irren können, wenn Sie nur recht aufmerksam sind und mit dem Vertrauen, daß Alles richtig sei, jedes Zeichen bemerken und sein entsprechendes auf der Nebenseite suchen. – Beobachten Sie genau meine Rechtschreibung und Interpunktion und denken Sie nie, Sie verstünden es besser: ich bin die Seele, Sie der Leib. – Habe ich, am Ende der Zeile, die in die Nebenseite hineingehenden Zusatzworte durch einen Haken der Zeile angeschlossen, so hüten Sie sich, solche für unterstrichen zu halten! – Was mit lateinischen Buchstaben geschrieben, in eckigen Klammern eingeschlossen steht, sind Notizen für Sie allein bestimmt. – Wo Sie eine Zeile ausgestrichen finden, sehen Sie wohl zu, ob nicht doch ein Wort derselben stehen geblieben sei und überall sei das Letzte was Sie denken oder annehmen dieses, daß ich eine Nachlässigkeit begangen hätte. – Manchmal habe ich ein fremdartiges Wort, das Ihnen nicht geläufig wäre, am Rande, auch wohl zwischen den Zeilen mit lateinischen Buchstaben wiederholt und in einige Klammern geschlossen. Bedenken Sie, wenn die vielen Korrekturen Ihnen beschwerlich fallen, daß eben infolge derselben ich nie nöthig haben werde, auf dem gedruckten Korrekturbogen noch meinen Stil zu verbessern und Ihnen dadurch doppelte Mühe zu machen.

Ich setze gern doppelte Vokale und das den Ton verlängernde h, wo es früher Jeder setzte. Ich setze nie ein Komma vor denn, sondern Kolon oder Punkt. – Ich schreibe überall ahnden, nie ahnen. – Ich schreibe ›trübsälig, glücksälig‹ usw., auch ›etwan‹, nie ›etwa‹. Theilen Sie diese Ermahnung dem Korrektor mit.

Ich wünsche, daß oben auf den Seiten die Überschrift des jedesmaligen Buches und Kapitels fortlaufend angegeben stehe, z.B. auf der Seite zur Linken: ›Viertes Buch, Kap. 43.‹, auf der zur Rechten: ›Erblichkeit der Eigenschaften‹ u.s.f.

Bloß das erste Buch (nicht die andern) zerfällt in zwei Hälften, die nicht gerade durch ein Titelblatt gesondert zu werden brauchen, sondern die bloße Überschrift kann hinreichen.«

Das Schicksal dieser Manuskripte – seitdem vielleicht in Schopenhauerschen Sammelwerken veröffentlicht – ist mir unbekannt.

 

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