§ 51. Einleitendes. Literatur.
Nur in sehr bedingtem Sinne kann man von einer Philosophie des christlichen Mittelalters sprechen: sofern man nämlich unter Philosophieren rein vernunftgemäßes, von allen Autoritäten unabhängiges Denken versteht. Während die antike Philosophie gerade in der Losreißung von der nationalen Glaubenslehre (Mythologie) erwächst und groß wird, ruht die gesamte mittelalterliche Philosophie, wenn wir von der arabisch-jüdischen Episode (§ 63) absehen, auf dem Grunde des kirchlichen Dogmas. Immerhin hat sich innerhalb dieser Schranken so viel philosophischer Scharfsinn entfaltet, der in mancher Beziehung auch auf die Philosophie der Neuzeit eingewirkt hat, dass dieser Zeitabschnitt nicht einfach übergangen werden darf.
Die Urzeit des Christentums zwar hat mit philosophischer Forschung nichts zu tun. Es tritt vielmehr während derselben eine deutliche Abneigung gegen die Philosophie hervor, die von dieser ebenso kräftig erwidert wird. Aber sobald das Christentum sich über weitere Kreise ausbreitet, insbesondere auch die Gebildeten ergreift, wird ihm eine Auseinandersetzung mit der geistigen Welt des Hellenentums nicht nur zum Bedürfnis, sondern auch zur Notwendigkeit. Um die heidnischen Philosophen mit ihren eigenen Waffen zu überwinden, arbeiten die christlichen Schriftsteller mit den Begriffen und Formeln des griechischen Denkens und bilden so allmählich ein christliches Lehrgebäude, eine Dogmatik aus. Diese Zeit der ersten christlichen Jahrhunderte nennt man die Zeit der »Väter«, ihre Philosophie die Patristik.
Nachdem diese neue, christliche Philosophie in Augustin einen großartigen Ausdruck und relativen Abschluß gefunden hat, sucht das spätere Mittelalter dieselbe nur noch feiner zu begründen und, im Anschluß an Aristoteles, im einzelnen schulmäßig auszugestalten und zu systematisieren (Scholastik). Die Philosophie ist durchaus zur Magd der Theologie geworden. Neben dieser schulmäßigen, logischen Bearbeitung der christlichen Heilslehre geht aber, anfangs leise, allmählich immer stärker werdend, eine dem Neuplatonismus verwandte, an das religiöse Fühlen und gefühlsmäßige Schauen sich wendende Spekulation einher, die in der deutschen Mystik des 14. und 15. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreicht. Sie leitet dann auf dem religiösen Gebiet bereits zur neuen Zeit (Reformation) über, während zugleich auf dem intellektuellen die Rückkehr zu selbständigem, wissenschaftlichem Forschen und Erkennen (Renaissance) sich langsam vorbereitet.
Wie interessant diese ganze Entwicklung religionspsychologisch und kulturhistorisch auch ist, so muß unsere Geschichte der Philosophie sich doch, schon aus prinzipiellen Gründen, auf eine Übersicht des philosophisch Wichtigeren beschränken. Einzelheiten derselben darzustellen, ist Sache der Theologie und derjenigen »Philosophie«, die auch heute noch auf den Pfaden der Scholastik wandelt.
Literatur: Von philosophischer Literatur, die das ganze christliche Mittelalter umfaßt, ist neben den jetzt veralteten Werken von H. Ritter (Geschichte der Philosophie, Bd. V ff., Hamburg 1841 ff., und der kürzeren Geschichte der christlichen Philosophie, 2 Bde., Göttingen 1858-59), besonders J. E. Erdmanns Grundriß (oben S. 7), Bd. I und der II. Band von Ueberweg zu nennen: Als zuverlässiges Kompendium namentlich der letztere, der in der neuesten (10.) Auflage von M. Baumgartner (Breslau) stark umgearbeitet und erweitert erschienen ist (5. Aufl. 1877: 276 Seiten, 9. Aufl. 1905: 403, 10. Aufl. 1915: 658 + 266 S. bibliograph. Anhang). Als kürzere, durch Klarheit sich auszeichnende Übersicht jetzt besonders zu empfehlen: Clemens Bäumker in der (Teubnerschen) Allgemeinen Geschichte der Philosophie, S. 288 bis 381 und P. Deussen, Die Philosophie des Mittelalters, Leipzig 1915. Die Logik dieser Zeit behandelt Prantl in drei Bänden (oben S. 8), die Ethik Theob. Ziegler, Geschichte der christlichen Ethik (noch über das Mittelalter hinaus bis zum Pietismus einschl.). Von katholisch-philosophischer Seite sind die namhaftesten Darstellungen: A. Stöckl, Geschichte der Philosophie des Mittelalters, 1864 -66 (streng-orthodox), 3. Aufl. 1889, und O. Willmann, Geschichte des Idealismus, Bd, II, 2. Aufl. 1908. Auf protestantisch-theologischer Seite ist das grundlegende, auch für den Philosophen wertvolle Werk: A. Harnacks dreibändiges Lehrbuch der Dogmengeschichte, 4. Aufl., 1909 bis 1910; einen Auszug für Studierende bildet sein Grundriß der Dogmengeschichte, 4. Aufl., 1905. Empfohlen wird auch Loofs, Leitfaden zum Studium der Dogmengeschichte, 4. Aufl., Halle 1906. Von neueren kirchengeschichtlichen Werken vgl. K. Müller, Kirchengeschichte, Bd. l, 1892, Bd. II 1, 1902, II 2, 1919.