§ 64. Der Umschwung der scholastischen Philosophie durch das Bekanntwerden des gesamten Aristoteles. Die Franziskaner Alexander von Hales und Bonaventura.
War der stärkere Anschluß der Kirchenlehre an die Philosophie des Aristoteles schon durch die Vermittlung der arabischen und jüdischen Philosophen gefördert worden, zumal als nach dem Fall Toledos (1085) die reichen Schätze arabischer Wissenschaft in die Hände der Christen gefallen waren, so wurde diese Bewegung noch gestärkt, seitdem im Laufe des 13. Jahrhunderts der griechische Urtext von Konstantinopel her bekannt und ins Lateinische übersetzt wurde, aus dem man nun die wahre Lehre des Stagiriten erst kennen lernte. An diese knüpfte die Scholastik zunächst zögernd, dann aber um so lieber an, als sie erkannte, dass aus ihr eine wertvolle Stütze des eigenen Systems zu gewinnen war. Eine bedeutende Förderung erfuhr der wissenschaftliche Betrieb durch die um 1200 erfolgte Gründung der ersten Universitäten: Paris und Oxford. In den Statuten der ersteren (1215) wird zwar nur das Studium der »neuen«, d. i. neuentdeckten Logik des Aristoteles neben der »alten« erlaubt, dagegen das der Metaphysik und Naturphilosophie noch verboten, allein ein Menschenalter später auch dieses gestattet, nachdem man sie von den als ketzerisch geltenden neuplatonischen und averroistischen Auslegungen gereinigt hatte. Aristoteles erlangte bald eine so ungemessene Autorität, dass er als eine Art zweiter Johannes der Täufer, nämlich als »Vorläufer Christi in naturalibus«, ferner als »Norm der Wahrheit«, als die »geschriebene Vernunft«, ja häufig als »der Philosoph« schlechthin bezeichnet wurde.
In dieser Richtung wetteiferten miteinander die beiden neugegründeten Bettelorden der Franziskaner und Dominikaner. Der erste Scholastiker, der die gesamte aristotelische Philosophie gekannt und zur Begründung der Kirchenlehre verwertet hat, ist der von seinen Schülern als Theologorum monarcha und »unwiderleglicher Doctor« (Dr. irrefragabilis) gepriesene englische Franziskaner Alexander von Hales (• in Paris 1245). Sein erst von seinen Schülern ganz vollendetes, uns erhaltenes Hauptwerk ist die Summa universae theologiae. In diesem nach Roger Bacons spöttischem Wort »mehr als ein Pferdegewicht« ausmachenden Riesenwerk wird zuerst die seitdem in Unterricht und schriftstellerischer Tätigkeit übliche scholastische Methode mit Virtuosität ausgeübt, d.h. zunächst eine einem vorliegenden Text entnommene theologische Frage aufgeworfen, dann die möglichen bejahenden bezw. verneinenden Antworten - sei es als »auctoritates« (Bibelsprüche oder Aussprüche berühmter Kirchenväter), oder als »rationes« (Lehren der antiken oder arabisch-jüdischen Philosophen, insbesondere des philosophus) - angeführt, schließlich die Entscheidung, sei es mit, sei es ohne Vorbehalt und »Distinktionen«, gegeben. So behandelt Alexanders Werk in seinen vier Büchern mehr als 440 quaestiones, deren jede wieder in verschiedene »Glieder« und »Artikel« zerfällt. Der Inhalt ist rein theologisch: Buch I handelt von dem Schöpfer, II von der Schöpfung, III von dem Erlöser und seinem Erlösungswerk, IV von den Heilsmitteln der Kirche.
Dem Wilhelm von Auvergne (• 1249 als Bischof und Theologielehrer zu Paris) ist Aristoteles Führer für »alles unter der Mondsphäreü; in dem, was darüber hinaus geht, lehnt er sich daneben, soweit es seine Rechtgläubigkeit gestattet, auch an Plato an. Noch weit mehr geschieht dies bei dem italienischen Mystiker Johannes Fidanza, genannt Bruder Bonaventura (1221-1274), Schüler und Nachfolger Alexanders, später Ordensgeneral der Franziskaner, von seinen Verehrern als »Dr. seraphicus« bezeichnet. Zwar ist auch ihm in Weltdingen Aristoteles Führer, aber das »niedere« Licht der fünf Sinne, das »äußere« der mechanischen Künste, das »innere« der Philosophie sind ihm alles nur Vorstufen und Hinweise auf das »höhere« Licht der göttlichen Erleuchtung. Am bezeichnendsten für seine, vielfach an Augustin, die Viktoriner (§ 62) und den Areopagiten sich anlehnende Mystik ist sein Wegweiser des Geistes zu Gott, in dem drei Stufen der Theologie (symbolische, eigentliche und mystische) und sechs Stufen der Erkenntnis (Sinne, Einbildungskraft, Vernunft oder Verstand, Intellekt, Geist und zuletzt der apex mentis, die Vereinigung mit dem himmlischen Seelenbräutigam) unterschieden werden.
Diesem aus Lehrer und Schüler bestehenden Doppelgestirn der Franziskaner steht ein ebensolches bei den Dominikanern gegenüber: Albertus Magnus und Thomas von Aquino.