2. Jüdische Philosophie
1. Schon lange vor ihrer Beeinflussung durch die arabisch-aristotelische Philosophie existierte bei den Juden eine phantastische Geheimlehre, die Kabbalah (= Überlieferung), deren Keime bis in die vorchristliche Zeit hinaufreichen, und deren ausgebildete Gestalt viele Ähnlichkeit mit den neuplatonisch-gnostischen Vorstellungen zeigt. Hier wie dort stufenweise absteigendes Hervorgehen des Geringeren aus dem Höheren, Lehre von den Engeln, an deren Stelle später bloße Attribute gesetzt werden, u.a.m. Die beiden Hauptquellen sind das alte Buch »des Schaffens« (Jezirah) - wahrscheinlich erst um 900 n. Chr. entstanden, aber dem Erzvater Abraham zugeschrieben! - und das auf einen Schüler des berühmten Ben Akiba (2. Jh. n. Chr.) zurückgeführte, jedoch erst im 13. Jahrhundert verfaßte Buch »des Glanzes« (Zohar).
2. Zu dieser mystischen Geheimlehre (deren Grundprinzip die von Gott zuerst geschaffenen, 10 Zahlen oder Formen und 22 Buchstaben sind!), tritt nun die von den arabischen Aristotelikern beeinflußte jüdische Philosophie in Gegensatz. Schon Saadja aus Ägypten (• 942 in Babylonien) hatte in seinem Hauptwerk Glauben und Wissen die Vernunftgemäßheit der jüdischen Glaubenssätze zu beweisen gesucht. In Spanien ist der früheste Vertreter jüdischer Philosophie Salomon Ibn Gabirol (»Sohn Gabriels«, 1020-1070), von den christlichen Scholastikern als Avicebron (oder Avencebrol) für einen Araber gehalten. Sein Hauptwerk, betitelt Die Quelle des Lebens, in hebräischer und lateinischer Bearbeitung erhalten - in letzterer in Bäumkers Beiträgen (s. S. 237) I, Heft 2-7 herausgegeben -, enthält eine Verschmelzung jüdischer mit aristotelischen, mehr aber noch neuplatonischen Lehren. Als Quelle des Lebens und zugleich als Mittelwesen zwischen Gott und Menschen gilt ihm der göttliche Wille, der die Welt geschaffen hat und bewegt. Alles außer Gott Existierende ist Materie, körperliche oder geistige (!). Avicebrons Lehre übte mehr Anziehungskraft und Einfluß auf die christlichen Scholastiker (besonders Duns Scotus, § 66) als auf die streng monotheistischen Juden und Araber aus. Dagegen hat die spätere Kabbalah manches aus ihm aufgenommen. Seine Abhandlung Verbesserung der Sitten gehört dem Gebiete der Moral an. - - Eine gleichfalls ethische Schrift des Bahja ben Joseph (gegen 1100) entwirft ein Moralsystem, in dem die Herzenspflichten über die äußeren gestellt werden, die meisten jedoch sich auf Gott beziehen.
3. Weitaus der bekannteste und einflußreichste der jüdischen Philosophen des Mittelalters ist Moses Maimuni, latinisiert Maimonides (1135-1204), ein Zeit- und Heimatsgenosse des Averroës. Sein arabisch geschriebenes, ins Hebräische, Lateinische und Deutsche übersetztes philosophisches Hauptwerk heißt: Leitung der Zweifelnden oder Führer der Verwirrten und will denen, die durch Beschäftigung mit der Philosophie den Glauben verloren haben, zeigen, wie sie sich ihn auf wissenschaftlichem Wege wieder aneignen können. Der Sohn des Richters Maimun war anscheinend mehr kluger Vermittler als ursprünglicher Denker. Auf wissenschaftlichem Gebiete gilt ihm Aristoteles als der zuverlässige Führer, auf religiösem wird dessen Autorität durch die Offenbarung eingeschränkt; doch will er biblische Stellen, die der Vernunft widersprechen, allegorisch gedeutet wissen.
Gott ist über alle Natur und Körperlichkeit erhaben, sein Wesen unerforschlich. In der Ethik legt M. besonderes Gewicht auf die Willensfreiheit und das Tun des Guten um seiner selbst willen. Das höchste Gut ist die Erkenntnis der Wahrheit. Der Sinn und Zweck aller Weisheit aber ist die Sittlichkeit. Die dianoëtischen Tugenden schätzt er demgemäß höher als die ethischen, wie Aristoteles, mit dem er auch die richtige Mitte preist. Wegen seines Rationalismus von den orthodoxen Rabbinern vorübergehend heftig angegriffen, gewann er schließlich doch einen fast unbestrittenen und noch heute andauernden wohltätigen Einfluß auf seine Glaubensgenossen.
Als im 13. und 14. Jahrhundert die arabischen Aristoteliker von den Machthabern verfolgt wurden, ward ihre Lehre durch die freier gestellten spanischen Juden in Spanien und Südfrankreich verbreitet. Von den zahlreichen Übersetzern und Auslegern des Aristoteles und Averroës war der berühmteste Levi Gersonides (1288 bis 1344), der sich mit Averroës zu der Lehre von der Ewigkeit der Welt und dem Aufgehen der individuellen in die Weltseele bekannte. Dadurch, dass diese jüdischen Gelehrten die arabischen Übersetzungen des Aristoteles und die Schriften der arabischen Aristoteliker ins Lateinische übersetzten, wurde zuerst der ganze Aristoteles - wenn auch noch nicht im Urtext - den christlichen Scholastikern bekannt.
Literatur: Außer dem zu 1. erwähnten Buche von Munk vgl. die Geschichten des Judentums von Grätz, Geiger, Karpeles und M. Braun (1911), ferner M. Eisler, Vorlesungen über die jüdischen Philosophen des MA. Wien 1870-84; Joël, Beiträge zur Geschichte d. Philos. 2 Bde. Breslau 1876. H. Cohen, Charakteristik der Ethik Maimunis. Leipzig 1908. D. Neumark, Gesch. d. jüdischen Philos. des MA. 2 Bde. 1907-12. (auf 5 Bände berechnet). Guttmann, Moses ben Maimon, Lpz. 1908. Münz, Moses ben M., sein Leben und seine Werke, Frankf. 1912.