3. Berengar von Tours
3. Um die Mitte des 11. Jahrhunderts macht sich, wohl unter dem Einfluß von Gerberts zahlreichen Schülern, in Deutschland unter dem gelehrten Kaiser Heinrich III., in allen drei Kulturländern ein neuer wissenschaftlicher Aufschwung bemerkbar, der dann nie wieder ganz vernichtet worden ist. Die wissenschaftliche Führung ging zunächst auf Frankreich über. Besonders berühmt als Pflanzstätte der Wissenschaft war die Schule von Chartres unter ihrem als »Sokrates der Franken« gefeierten Leiter Fulbert, der übrigens mehr anregender Lehrer als origineller Denker war, seine Schüler vor Neuerungen warnte und ihnen riet, sich an die Schriften der Väter zu halten. Sein berühmterer Schüler Berengar von Tours (999-1088) beherzigte diese Warnung nicht. Uns interessiert weniger seine Bestreitung der orthodoxen Abendmahlslehre Lanfranks, welche die Gebildeten der Zeit in zwei Parteien spaltete, als seine bei dieser Gelegenheit entwickelte Stellung zum Dogma überhaupt. Berengar ist in der Tat ein Aufklärer des II. Jahrhunderts. Wohl verwendet er zu seiner Verteidigung, wo es ihm gelegen ist, die Autorität der Kirchenväter (des Ambrosius, Augustin u. a.) und der Bibel, aber sein kritischer Geist hat bereits die Wandelbarkeit der ersteren erkannt; die Bibel wird ohne geistige Auslegung zum Fabelbuch; »der Buchstabe tötet« Auch Synoden und Konzilien sind nicht unfehlbar. Der Wahrheit allein kommt der Sieg zu. Diese wurzelt freilich in Gott, kann aber auf Erden nur in der Vernunft ihre Stätte haben, die freilich für ihn, wie für die ganze Scholastik, vorzugsweise im logisch-dialektischen Beweisverfahren besteht. Gegen die Wahrheit, die Vernunft, die Evidenz der Dinge, das Gewissen kann niemand. Kein Wunder, keine Macht des Himmels und der Erde kann Unwahres wahr, Unmögliches möglich machen.
Berengar war ein Theoretiker der Aufklärung, nicht ihr Held. Auch er hat sich schließlich, wie so viele nach ihm, der römischen Kurie (Gregor VII. war ihm übrigens persönlich zugeneigt) »löblich unterworfen« Dennoch ist der Eindruck seines Auftretens ein lang andauernder gewesen; noch Lessing hat sich mit ihm beschäftigt. Seine Bestreitung der »Wesensverwandlung« im Abendmahl aber steht ferner in Zusammenhang mit dem philosophischen Hauptproblem der Scholastik, das wir schon bei Eriugena streiften und zu dem wir nun übergehen: dem Verhältnis der Gattungsbegriffe (universalia) zu den Dingen (res).