1. Platonisierende Naturphilosophen und Dialektiker
Die verschiedenen Richtungen, die Abälards vielseitiger Geist in sich vereinte, treten bei anderen seiner Zeitgenossen und Nachfolger wieder auseinander. Auch solche, die sich »reine Aufklärer« (puri philosophi) nannten, hat es damals schon gegeben; doch kennen wir von ihnen nicht einmal die Namen. Etwas mehr wissen wir von 1. einer platonisierenden Richtung, die, dem Vorbilde Gerberts folgend, mit dem Studium der Antike dasjenige der Natur verband und besonders in der Schule von Chartres (§ 69) gepflegt ward. Hier lebten und lehrten als magistri scholae in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts die beiden gelehrten Brüder Bernhard und Thierry (Dietrich). In dem benachbarten Tours schrieb des letzteren Freund Bernhard Silvestris, in Anlehnung an den platonischen Timäus (die damals fast allein bekannte von Platos Schriften), seinen vielgelesenen und uns erhaltenen Megakosmus und Mikrokosmus, eine halb in Prosa, halb in Versen abgefaßte, mit mythischen Allegorien verbrämte tiefsinnige Naturphilosophie, in der von kirchlicher Dogmatik so gut wie nichts zu spüren ist. - Die ähnliche Weisheit Adelards von Bath, der schon der Psychologie der Tiere seine Aufmerksamkeit zuwendet, suchte dem Verdachte der Ketzerei und der Verfolgung dadurch zu entgehen, dass sie einem Araber in den Mund gelegt wird. - Auch Wilhelm von Conches will in seiner philosophia mundi bloß »Akademiker«, d.h. platonischer Philosoph sein, womit er jedoch eine Art Atomismus, ja den Versuch einer materialistischen Gehirnphysiologie (Lokalisierung der Denkkraft, der Phantasie und des Gedächtnisses in gesonderten cellulae) verbunden zu haben scheint, während er in Glaubenssachen der Autorität der Kirchenväter folgen zu wollen erklärte. Trotzdem entging auch dieser im Gegensatz zu dem unruhigen, vielfach umhergetriebenen Abälard stille Wahrheitsforscher und Lehrer der Verfolgungssucht derer nicht, die »von Ketzerei sprechen, wo sie nicht mehr verstehen«, und z.B. an seiner Rationalisierung der Schöpfungsgeschichte Anstoß nahmen. Auch er widerrief. - Waren Bernhard Silvestris und Wilhelm von Conches außerdem auch als gute Grammatiker berühmt, so zeichnete sich der Bischof von Poitiers Gilbert de la Porrée (• 1154) durch die logische oder, wie man damals sagte, dialektische Virtuosität aus, mit der er die kirchliche Dogmatik auf dem Wege der natürlichen Vernunft zu begründen versuchte. Erhalten von ihm ist ein Kommentar zu zwei Schriften des Boethius und ein kurzer Abriß betr. die sechs letzten Kategorien des Aristoteles. Sein Satz, dass in Gott oder der reinen Form die gleichfalls stofflosen Ideen oder Urbilder der körperlichen Dinge, nach denen alles geschaffen ist, ihren Grund haben, erinnert an den Neuplatonismus. Zu Gilberts Schülern zählte u. a. der bekannte deutsche Geschichtsschreiber, Bischof Otto von Freising (• 1158), der seine Chronik als »Geschichte von den zwei Staaten« (Augustins), des ewig-himmlischen und des zeitlich-weltlichen, bezeichnet.