V.
[Kultwert und Ausstellungswert]
Die Rezeption von Kunstwerken erfolgt mit verschiedenen Akzenten, unter denen sich zwei polare herausheben. Der eine dieser Akzente liegt auf dem Kunstwerk, der andere auf dem Ausstellungswert des Kunstwerkes1 2. Die künstlerische Produktion beginnt mit Gebilden, die im Dienste des Kults stehen. Von diesen Gebilden ist, wie man annehmen darf, wichtiger, daß sie vorhanden sind als daß sie gesehen werden. Das Elentier, das der Mensch der Steinzeit an den Wänden seiner Höhle abbildet, ist ein Zauberinstrument. Er stellt es zwar vor seinen Mitmenschen aus; vor allem aber ist es Geistern zugedacht. Der Kultwert als solcher scheint heute geradezu daraufhinzudrängen, das Kunstwerk im Verborgenen zu halten: gewisse Götterstatuen sind nur dem Priester in der cella zugänglich, gewisse Madonnenbilder bleiben fast das ganze Jahr über verhangen, gewisse Skulpturen an mittelalterlichen Domen sind für den Betrachter zu ebener Erde nicht sichtbar. Mit der Emanzipation der einzelnen Kunstübungen aus dem Schoße des Rituals wachsen die Gelegenheiten zur Ausstellung ihrer Produkte. Die Aussteilbarkeit einer Portraitbüste, die dahin und dorthin verschickt werden kann, ist größer als die einer Götterstatue, die ihren festen Ort im Innern des Tempels hat. Die Ausstellbarkeit des Tafelbildes ist größer als die des Mosaiks oder Freskos, die ihm vorangingen. Und wenn die Ausstellbarkeit einer Messe von Hause aus vielleicht nicht geringer war als die einer Symphonie, so entstand doch die Symphonie in dem Zeitpunkt, als ihre Ausstellbarkeit größer zu werden versprach als die der Messe.
Mit den verschiedenen Methoden technischer Reproduktion des Kunstwerks ist dessen Ausstellbarkeit in so gewaltigem Maß gewachsen, daß die quantitative Verschiebung zwischen seinen beiden Polen ähnlich wie in der Urzeit in eine qualitative Veränderung seiner Natur umschlägt. Wie nämlich in der Urzeit das Kunstwerk durch das absolute Gewicht, das auf seinem Kultwert lag, in erster Linie zu einem Instrument der Magie wurde, das man als Kunstwerk gewissermaßen erst später erkannte, so wird heute das Kunstwerk durch das absolute Gewicht, das auf seinem Ausstellungswert liegt, zu einem Gebilde mit ganz neuen Funktionen, von denen die uns bewußte, die künstlerische, als diejenige sich abhebt, die man später als eine beiläufige erkennen mag.3 So viel ist sicher, daß gegenwärtig die Photographie und weiter der Film die brauchbarsten Handhaben zu dieser Erkenntnis geben.
- Diese Polarität kann in der Ästhetik des Idealismus, dessen Begriff der Schönheit sie im Grunde als eine ungeschiedene umschließt (demgemäß als eine geschiedene ausschließt) nicht zu ihrem Rechte gelangen. Immerhin meldete sie sich bei Hegel so deutlich an, wie dies in den Schranken des Idealismus denkbar ist. »Bilder«, so heißt es in den Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte, »hatte man schon lange: die Frömmigkeit bedurfte ihrer schon früh für ihre Andacht, aber sie brauchte keine.schönen Bilder, ja diese waren ihr sogar störend. Im schönen Bilde ist auch ein Äußerliches vorhanden, aber insofern es schön ist, spricht der Geist desselben den Menschen an; in jener Andacht aber ist das Verhältnis zu einem Dinge wesentlich, denn sie ist selbst nur ein geistloses Verdumpfen der Seele ... Die schöne Kunst ist ... in der Kirche selbst entstanden, ... obgleich ... die Kunst schon aus dem Principe der Kirche herausgetreten ist.« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Vollständige Ausgabe durch einen Verein von Freunden des Verewigten. Bd. 9: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Hrsg. von Eduard Gans. Berlin 1837, p. 414.) Auch eine Stelle in den Vorlesungen über die Ästhetik weist daraufhin, daß Hegel hier ein Problem gespürt hat. »... wir sind«, so heißt es in diesen Vorlesungen, »darüber hinaus Werke der Kunst göttlich verehren und sie anbeten zu können, der Eindruck, den sie machen, ist besonnenerer Art, und was durch sie in uns erregt wird, bedarf noch eines höheren Prüfsteins«. (Hegel, 1. c. Bd. 10: Vorlesungen über die Aesthetik. Hrsg. von H. G. Hotho. Bd. I. Berlin 1835, p. 14.)↩
- Der Übergang von der ersten Art der künstlerischen Rezeption zur zweiten bestimmt den geschichtlichen Verlauf der künstlerischen Rezeption überhaupt. Demungeachtet läßt sich ein gewisses Oszillieren zwischen jenen beiden polaren Rezeptionsarten prinzipiell für jedes einzelne Kunstwerk aufweisen. So zum Beispiel für die Sixtinische Madonna. Seit Hubert Grimmes Untersuchung weiß man, daß die Sixtinische Madonna ursprünglich für Ausstellungszwecke gemalt war. Grimme erhielt den Anstoß zu seinen Forschungen durch die Frage: Was soll die Holzleiste im Vordergrunde des Bildes, auf die sich die beiden Putten stützen? Wie konnte, so fragte Grimme weiter, ein Raffael dazu kommen, den Himmel mit einem Paar Portieren auszustatten? Die Untersuchung ergab, daß die Sixtinische Madonna anläßlich der öffentlichen Aufbahrung des Papstes Sixtus in Auftrag gegeben worden war. Die Aufbahrung der Päpste fand in einer bestimmten Seitenkapelle der Peterskirche statt. Auf dem Sarge ruhend war, im nischenartigen Hintergrunde dieser Kapelle, bei der feierlichen Aufbahrung Raffaels Bild angebracht worden. Was Raffael auf diesem Bilde darstellt ist, wie aus dem Hintergrunde der mit grünen Portieren abgegrenzten Nische die Madonna sich in Wolken dem päpstlichen Sarge nähert. Bei der Totenfeier für Sixtus fand ein hervorragender Ausstellungswert von Raffaels Bild seine Verwendung. Einige Zeit danach kam es auf den Hochaltar in der Klosterkirche der Schwarzen Mönche zu Piacenza. Der Grund dieses Exils liegt im römischen Ritual. Das römische Ritual untersagt, Bilder, die bei Bestattungsfeierlichkeiten ausgestellt worden sind, dem Kult auf dem Hochaltar zuzuführen. Raffaels Werk war durch diese Vorschrift in gewissen Grenzen entwertet. Um dennoch einen entsprechenden Preis dafür zu erzielen, entschloß sich die Kurie, ihre stillschweigende Duldung des Bilds auf dem Hochaltar in den Kauf zu geben. Um Aufsehen zu vermeiden, ließ man das Bild an die Bruderschaft der entlegenen Provinzstadt gehen.↩
- Analoge Überlegungen stellt, auf anderer Ebene, Brecht an: »Ist der Begriff Kunstwerk nicht mehr zu halten für das Ding, das entsteht, wenn ein Kunstwerk zur Ware verwandelt ist, dann müssen wir vorsichtig und behutsam, aber unerschrocken diesen Begriff weglassen, wenn wir nicht die Funktion dieses Dinges selber mitliquidieren wollen, denn durch diese Phase muß es hindurch, und zwar ohne Hintersinn, es ist kein unverbindlicher Abstecher vom rechten Weg, sondern was hier mit ihm geschieht, das wird es von Grund auf ändern, seine Vergangenheit auslöschen, so sehr, daß, wenn der alte Begriff wieder aufgenommen werden würde — und er wird es werden, warum nicht? — keine Erinnerung mehr an das Ding durch ihn ausgelöst werden wird, das er einst bezeichnete.« ([Bertolt] Brecht: Versuche 8-10. [Heft] 3. Berlin 1931, p. 301/302; »Der Dreigroschenprozess«.)↩