X.
[Anspruch gefilmt zu werden]
Das Befremden des Darstellers vor der Apparatur, wie Pirandello es schildert, ist von Haus aus von der gleichen Art wie das Befremden des Menschen vor seiner Erscheinung im Spiegel. Nun aber ist das Spiegelbild von ihm ablösbar, es ist transportabel geworden. Und wohin wird es transportiert? Vor das Publikum.1 Das Bewußtsein davon verläßt den Filmdarsteller nicht einen Augenblick. Der Filmdarsteller weiß, während er vor der Apparatur steht, hat er es in letzter Instanz mit dem Publikum zu tun: dem Publikum der Abnehmer, die den Markt bilden. Dieser Markt, auf den er sich nicht nur mit seiner Arbeitskraft, sondern mit Haut und Haaren, mit Herz und Nieren begibt, ist ihm im Augenblick seiner für ihn bestimmten Leistung ebensowenig greifbar, wie irgendeinem Artikel, der in einer Fabrik gemacht wird. Sollte dieser Umstand nicht seinen Anteil an der Beklemmung der neuen Angst haben, die, nach Pirandello, den Darsteller vor der Apparatur befällt? Der Film antwortet auf das Einschrumpfen der Aura mit einem künstlichen Aufbau der »personality« außerhalb des Ateliers. Der vom Filmkapital geförderte Starkultus konserviert jenen Zauber der Persönlichkeit, der schon längst nur noch im fauligen Zauber ihres Warencharakters besteht. Solange das Filmkapital den Ton angibt, läßt sich dem heutigen Film im allgemeinen kein anderes revolutionäres Verdienst zuschreiben, als eine revolutionäre Kritik der überkommenen Vorstellungen von Kunst zu befördern. Wir bestreiten nicht, daß der heutige Film in besonderen Fällen darüber hinaus eine revolutionäre Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen, ja an der Eigentumsordnung befördern kann. Aber darauf liegt der Schwerpunkt der gegenwärtigen Untersuchung ebenso wenig wie der Schwerpunkt der westeuropäischen Filmproduktion darauf liegt.
Es hängt mit der Technik des Films genau wie mit der des Sports zusammen, daß jeder den Leistungen, die sie ausstellen, als halber Fachmann beiwohnt. Man braucht nur einmal eine Gruppe von Zeitungsjungen, auf ihre Fahrräder gestützt, die Ergebnisse eines Radrennens diskutieren gehört zu haben, um sich das Verständnis dieses Tatbestandes zu eröffnen. Nicht umsonst veranstalten Zeitungsverleger Wettfahrten ihrer Zeitungsjungen. Diese erwecken großes Interesse unter den Teilnehmern. Denn der Sieger in diesen Veranstaltungen hat eine Chance, vom Zeitungsjungen zum Rennfahrer aufzusteigen. So gibt zum Beispiel die Wochenschau jedem eine Chance, vom Passanten zum Filmstatisten aufzusteigen. Er kann sich dergestalt unter Umständen sogar in ein Kunstwerk — man denke an Wertoffs »Drei Lieder um Lenin« oder Ivens »Borinage« — versetzt sehen. Jeder heutige Mensch kann einen Anspruch vorbringen, gefilmt zu werden. Diesen Anspruch verdeutlicht am besten ein Blick auf die geschichtliche Situation des heutigen Schrifttums.
Jahrhunderte lang lagen im Schrifttum die Dinge so, daß einer geringen Zahl von Schreibenden eine vieltausendfache Zahl von Lesenden gegenüberstand. Darin trat gegen Ende des vorigen Jahrhunderts ein Wandel ein. Mit der wachsenden Ausdehnung der Presse, die immer neue politische, religiöse, wissenschaftliche, berufliche, lokale Organe der Leserschaft zur Verfügung stellte, gerieten immer größere Teile der Leserschaft — zunächst fallweise — unter die Schreibenden. Es begann damit, daß die Tagespresse ihnen ihren »Briefkasten« eröffnete, und es liegt heute so, daß es kaum einen im Arbeitsprozeß stehenden Europäer gibt, der nicht grundsätzlich irgendwo Gelegenheit zur Publikation einer Arbeitserfahrung, einer Beschwerde, einer Reportage oder dergleichen finden könnte. Damit ist die Unterscheidung zwischen Autor und Publikum im Begriff, ihren grundsätzlichen Charakter zu verlieren. Sie wird eine funktionelle, von Fall zu Fall so oder anders verlaufende. Der Lesende ist jederzeit bereit, ein Schreibender zu werden. Als Sachverständiger, der er wohl oder übel in einem äußerst spezialisierten Arbeitsprozeß werden mußte — sei es auch nur als Sachverständiger einer geringen Verrichtung —, gewinnt er einen Zugang zur Autorschaft. In der Sovjetunion kommt die Arbeit selbst zu Wort. Und ihre Darstellung im Wort macht einen Teil des Könnens, das zu ihrer Ausübung erforderlich ist. Die literarische Befugnis wird nicht mehr in der spezialisierten, sondern in der polytechnischen Ausbildung begründet, und so Gemeingut.2
Alles das läßt sich ohne weiteres auf den Film übertragen, wo Verschiebungen, die im Schrifttum Jahrhunderte in Anspruch genommen haben, sich im Laufe eines Jahrzehnts vollzogen. Denn in der Praxis des Films — vor allem der russischen — ist diese Verschiebung stellenweise bereits verwirklicht worden. Ein Teil der im russischen Film begegnenden Darsteller sind nicht Darsteller in unserem Sinn, sondern Leute, die sich — und zwar in erster Linie in ihrem Arbeitsprozeß — darstellen. In Westeuropa verbietet die kapitalistische Ausbeutung des Films dem legitimen Anspruch, den der heutige Mensch auf sein Reproduziertwerden hat, die Berücksichtigung. Unter diesen Umständen hat die Filmindustrie alles Interesse, die Anteilnahme der Massen durch illusionäre Vorstellungen und durch zweideutige Spekulationen zu stacheln.
- Die hier konstatierbare Veränderung der Ausstellungsweise durch die Reproduktionstechnik macht sich auch in der Politik bemerkbar. Die heutige Krise der bürgerlichen Demokratien schließt eine Krise der Bedingungen ein, die für die Ausstellung der Regierenden maßgebend sind. Die Demokratien stellen den Regierenden unmittelbar in eigener Person und zwar vor Repräsentanten aus. Das Parlament ist sein Publikum! Mit den Neuerungen der Aufnahmeapparatur, die es erlauben, den Redenden während der Rede unbegrenzt vielen vernehmbar und kurz darauf unbegrenzt vielen sichtbar zu machen, tritt die Anstellung des politischen Menschen vor dieser Aufnahmeapparatur in den Vordergrund. Es veröden die Parlamente gleichzeitig mit den Theatern. Rundfunk und Film verändern nicht nur die Funktion des professionellen Darstellers, sondern genau so die Funktion dessen, der, wie es die Regierenden tun, sich selber vor ihnen darstellt. Die Richtung dieser Veränderung ist, unbeschadet ihrer verschiedenen Spezialaufgaben, die gleiche beim Filmdarsteller und beim Regierenden. Sie erstrebt die Aufstellung prüfbarer, ja übernehmbarer Leistungen unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen. Das ergibt eine neue Auslese, eine Auslese vor der Apparatur, aus der der Star und der Diktator als Sieger hervorgehen.↩
- Der Privilegiencharakter der betreffenden Techniken geht verloren. Aldous Huxley schreibt: »Die technischen Fortschritte haben ... zur Vulgarität geführt ... die technische Reproduzierbarkeit und die Rotationspresse haben eine unabsehbare Vervielfältigung von Schriften und Bildern ermöglicht. Die allgemeine Schulbildung und die verhältnismäßig hohen Gehälter haben ein sehr großes Publikum geschaffen, das lesen kann und Lesestoff und Bildmaterial sich zu verschaffen vermag. Um diese bereitzustellen, hat sich eine bedeutende Industrie etabliert. Nun aber ist künstlerische Begabung etwas sehr Seltenes; daraus folgt ..., daß zu jeder Zeit und an allen Orten der überwiegende Teil der künstlerischen Produktion minderwertig gewesen ist. Heute aber ist der Prozentsatz des Abhubs in der künstlerischen Gesamtproduktion größer als er es je vorher gewesen ist ... Wir stehen hier vor einem einfachen arithmetischen Sachverhalt. Im Laufe des vergangenen Jahrhunderts hat sich die Bevölkerung Westeuropas etwas über das Doppelte vermehrt. Der Lese- und Bildstoff aber ist, wie ich schätzen möchte, mindestens im Verhältnis von 1 zu 20, vielleicht aber auch zu 50 oder gar zu 100 gewachsen. Wenn eine Bevölkerung von x Millionen n künstlerische Talente hat, so wird eine Bevölkerung von 2x Millionen wahrscheinlich 2n künstlerische Talente haben. Nun läßt sich die Situation folgendermaßen zusammenfassen. Wenn vor 100 Jahren eine Druckseite mit Lese- und Bildstoff veröffentlicht wurde, so veröffentlicht man dafür heute zwanzig, wenn nicht hundert Seiten. Wenn andererseits vor hundert Jahren ein künstlerisches Talent existierte, so existieren heute an dessen Stelle zwei. Ich gebe zu, daß infolge der allgemeinen Schulbildung heute eine große Anzahl virtueller Talente, die ehemals nicht zur Entfaltung ihrer Gaben gekommen wären, produktiv werden können. Setzen wir also ..., daß heute drei oder selbst vier künstlerische Talente auf ein künstlerisches Talent von ehedem kommen. Es bleibt nichtsdestoweniger unzweifelhaft, daß der Konsum von Lese- und Bildstoff die natürliche Produktion an begabten Schriftstellern und begabten Zeichnern weit überholt hat. Mit dem Hörstoff steht es nicht anders. Prosperität, Grammophon und Radio haben ein Publikum ins Leben gerufen, dessen Konsum an Hörstoffen außer allem Verhältnis zum Anwachsen der Bevölkerung und demgemäß zum normalen Zuwachs an talentierten Musikern steht. Es ergibt sich also, daß in allen Künsten, sowohl absolut wie verhältnismäßig gesprochen, die Produktion von Abhub größer ist als sie es früher war; und so muß es bleiben, so lange die Leute fortfahren so wie derzeit einen unverhältnismäßig großen Konsum an Lese-, Bild- und Hörstoff zu üben.« (Aldous Huxley: Croisiere d'hiver. Voyage en Amérique Centrale (1933) [Traduction de Jules Castier]. Paris 1935, p. 273-275.) Diese Betrachtungsweise ist offenkundig nicht fortschrittlich.↩