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XIV.

[Dadaismus]

Es ist von jeher eine der wichtigsten Aufgaben der Kunst gewesen, eine Nachfrage zu erzeugen, für deren volle Befriedigung die Stunde noch nicht gekommen ist.1 Die Geschichte jeder Kunstform hat kritische Zeiten, in denen diese Form auf Effekte hindrängt, die sich zwanglos erst bei einem veränderten technischen Standard, d. h. in einer neuen Kunstform ergeben können. Die derart, zumal in den sogenannten Verfallszeiten, sich ergebenden Extravaganzen und Kruditäten der Kunst gehen in Wirklichkeit aus ihrem reichsten historischen Kräftezentrum hervor. Von solchen Barbarismen hat noch zuletzt der Dadaismus gestrotzt. Sein Impuls wird erst jetzt erkennbar: Der Dadaismus versuchte, die Effekte, die das Publikum heute im Film sucht, mit den Mitteln der Malerei (bzw. der Literatur) zu erzeugen.

Jede von Grund auf neue, bahnbrechende Erzeugung von Nachfragen wird über ihr Ziel hinausschießen. Der Dadaismus tut das in dem Grade, daß er die Marktwerte, die dem Film in so hohem Maße eignen, zugunsten bedeutsamerer Intentionen — die ihm selbstverständlich in der hier beschriebenen Gestalt nicht bewußt sind — opfert. Auf die merkantile Verwertbarkeit ihrer Kunstwerke legten die Dadaisten viel weniger Gewicht als auf ihre Unverwertbarkeit als Gegenstände kontemplativer Versenkung. Diese Unverwertbarkeit suchten sie nicht zum wenigsten durch eine grundsätzliche Entwürdigung ihres Materials zu erreichen. Ihre Gedichte sind »Wortsalat«, sie enthalten obszöne Wendungen und allen nur vorstellbaren Abfall der Sprache. Nicht anders ihre Gemälde, denen sie Knöpfe oder Fahrscheine aufmontierten. Was sie mit solchen Mitteln erreichen, ist eine rücksichtslose Vernichtung der Aura ihrer Hervorbringung, denen sie mit den Mitteln der Produktion das Brandmal einer Reproduktion aufdrücken. Es ist unmöglich, vor einem Bild von Arp oder einem Gedicht August Stramms sich wie vor einem Bild Derains oder einem Gedicht von Rilke Zeit zur Sammlung und Stellungnahme zu lassen. Der Versenkung, die in der Entartung des Bürgertums eine Schule asozialen Verhaltens wurde, tritt die Ablenkung als eine Spielart sozialen Verhaltens gegenüber.2 In der Tat gewährleisteten die dadaistischen Kundgebungen eine recht vehemente Ablenkung, indem sie das Kunstwerk zum Mittelpunkt eines Skandals machten. Es hatte vor allem einer Forderung Genüge zu leisten: öffentliches Ärgernis zu erregen.

Aus einem lockenden Augenschein oder einem überredenden Klanggebilde wurde das Kunstwerk bei den Dadaisten zu einem Geschoß. Es stieß dem Betrachter zu. Es gewann eine taktile Qualität. Damit hat es die Nachfrage nach dem Film begünstigt, dessen ablenkendes Element ebenfalls in erster Linie ein taktiles ist, nämlich auf dem Wechsel der Schauplätze und Einstellungen beruht, welche stoßweise auf den Beschauer eindringen. Man vergleiche die Leinwand, auf der der Film abrollt, mit der Leinwand, auf der sich das Gemälde befindet. Das letztere lädt den Betrachter zur Kontemplation ein; vor ihm kann er sich seinem Assoziationsablauf überlassen. Vor der Filmaufnahme kann er das nicht. Kaum hat er sie ins Auge gefaßt, so hat sie sich schon verändert. Sie kann nicht fixiert werden. Duhamel, der den Film haßt und von seiner Bedeutung nichts, aber manches von seiner Struktur begriffen hat, bezeichnet diesen Umstand mit der Notiz: »Ich kann schon nicht mehr denken, was ich denken will. Die beweglichen Bilder haben sich an den Platz meiner Gedanken gesetzt.«3 In der Tat wird der Assoziationsablauf dessen, der diese Bilder betrachtet, sofort durch ihre Veränderung unterbrochen. Darauf beruht die Chockwirkung des Films, die wie jede Chockwirkung durch gesteigerte Geistesgegenwart aufgefangen sein will.4 Kraft seiner technischen Struktur hat der Film die physische Chockwirkung, welche der Dadaismus gleichsam in der moralischen noch verpackt hielt, aus dieser Emballage befreit.5


  1. »Das Kunstwerk«, sagt Andre Breton, »hat Wert nur insofern als es von Reflexen der Zukunft durchzittert wird.« In der Tat steht jede ausgebildete Kunstform im Schnittpunkt dreier Entwicklungslinien. Es arbeitet nämlich einmal die Technik auf eine bestimmte Kunstform hin. Ehe der Film auftrat, gab es Photobüchlein, deren Bilder durch einen Daumendruck schnell am Beschauer vorüberflitzend, einen Boxkampf oder ein Tennismatch vorführten; es gab die Automaten in den Bazaren, deren Bilderablauf durch eine Drehung der Kurbel hervorgerufen wurde. — Es arbeiten zweitens die überkommenen Kunstformen in gewissen Stadien ihrer Entwicklung angestrengt auf Effekte hin, welche später zwanglos von der neuen Kunstform erzielt werden. Ehe der Film zur Geltung kam, suchten die Dadaisten durch ihre Veranstaltungen eine Bewegung ins Publikum zu bringen, die ein Chaplin dann auf natürliche Weise hervorrief. — Es arbeiten drittens oft unscheinbare, gesellschaftliche Veränderungen auf eine Veränderung der Rezeption hin, die erst der neuen Kunstform zugute kommt. Ehe der Film sein Publikum zu bilden begonnen hatte, wurden im Kaiserpanorama Bilder (die bereits aufgehört hatten, unbeweglich zu sein) von einem versammelten Publikum rezipiert. Dieses Publikum befand sich vor einem Paravant, in dem Stereoskope angebracht waren, deren auf jeden Besucher eines kam. Vor diesen Stereoskopen erschienen automatisch einzelne Bilder, die kurz verharrten und dann anderen Platz machten. Mit ähnlichen Mitteln mußte noch Edison arbeiten, als er den ersten Filmstreifen (ehe man eine Filmleinwand und das Verfahren der Projektion kannte) einem kleinen Publikum vorführte, das in den Apparat hineinstarrte, in welchem die Bilderfolge abrollte. — Übrigens kommt in der Einrichtung des Kaiserpanoramas besonders klar eine Dialektik der Entwicklung zum Ausdruck. Kurz ehe der Film die Bildbetrachtung zu einer kollektiven macht, kommt vor den Stereoskopen dieser schnell veralteten Etablissements die Bildbetrachtung durch einen Einzelnen noch einmal mit derselben Schärfe zur Geltung wie einst in der Betrachtung des Götterbilds durch den Priester in der cella.
  2. Das theologische Urbild dieser Versenkung ist das Bewußtsein, allein mit seinem Gott zu sein. An diesem Bewußtsein ist in den großen Zeiten des Bürgertums die Freiheit erstarkt, die kirchliche Bevormundung abzuschütteln. In den Zeiten seines Niedergangs mußte das gleiche Bewußtsein der verborgenen Tendenz Rechnung tragen, diejenigen Kräfte, die der Einzelne im Umgang mit Gott ins Werk setzt, den Angelegenheitden des Gemeinwesens zu entziehen.
  3. Georges Duhamel: Scènes de la vie future. 2e éd., Paris 1930, p. 52.
  4. Der Film ist die der gesteigerten Lebensgefahr, der die Heutigen ins Auge zu sehen haben, entsprechende Kunstform. Das Bedürfnis, sich Chockwirkungen auszusetzen, ist eine Anpassung der Menschen an die sie bedrohenden Gefahren. Der Film entspricht tiefgreifenden Veränderungen des Apperzeptionsapparates — Veränderungen, wie sie im Maßstab der Privatexistenz jeder Passant im Großstadtverkehr, wie sie im geschichtlichen Maßstab jeder heutige Staatsbürger erlebt.
  5. Wie für den Dadaismus sind dem Film auch für den Kubismus und Futurismus wichtige Aufschlüsse abzugewinnen. Beide erscheinen als mangelhafte Versuche der Kunst, ihrerseits der Durchdringung der Wirklichkeit mit der Apparatur Rechnung zu tragen. Diese Schulen unternahmen ihren Versuch, zum Unterschied vom Film, nicht durch Verwertung der Apparatur für die künstlerische Darstellung der Realität, sondern durch eine Art von Legierung von dargestellter Wirklichkeit und dargestellter Apparatur. Dabei spielt die vorwiegende Rolle im Kubismus die Vorahnung von der Konstruktion dieser Apparatur, die auf der Optik beruht; im Futurismus die Vorahnung der Effekte dieser Apparatur, die im rapiden Ablauf des Filmbands zur Geltung kommen.